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Picasso und Ingres

Es muss für die Betrachter des Jahres 1865 wie der klammheimliche Blick durch ein überdimensioniertes Schlüsselloch gewirkt haben, als sie vor Jean-Auguste Dominique Ingres’ "Türkischem Bad" standen, einem kreisförmigen Ölbild von etwas über einem Meter Durchmesser. Zwei Dutzend nackter Frauenleiber bevölkern es. Nur auf den Rückenakt einer musizierenden Frau im Vordergrund fällt ein grelles Schlaglicht, dass dem Bild ein wenig Plastizität verleiht. Ingres entpuppt sich nicht als Voyeur, sondern als ins kleinste Detail vernarrter Künstler, dem die scharf gezeichneten Konturen der Körper als Vorwand dienen, um ein Verwirrspiel von Linien in Szene zu setzen. Knapp vierzig Jahre nach Ingres Tod wird das "Türkische Bad", das sich lange in Privatbesitz befand und heute dem Louvre gehört, 1905 öffentlich in Paris gezeigt, jetzt auch bestaunt von einem jungen katalanischen Künstler, dem 24jährigen Pablo Picasso. Einige Monate später malt dieser einen "Harem". Auch hier fallen das Motiv des Schlaglichts, ähnliche Gestik und eine wenig plastische Darstellung auf, doch die Malweise ist grundverschieden. Oder doch nicht? Laurence Madeline, Konservatorin am Pariser Picasso-Museum, geht in ihrer Ausstellung "Picasso-Ingres" der Frage nach und hat daher beide Werke zum Auftakt einander gegenübergehängt.

Von Björn Stüben |
    Im Werk Picassos gab es eine Gauguin-Periode, eine El Greco-Phase und man könnte noch viele Künstler nennen, die Einfluss auf ihn ausübten. Am häufigsten und zugleich auch am intensivsten aber schaute er auf die Kunst Ingres’. Picasso war ständig auf der Suche nach etwas Neuem und wenn er sich in einer künstlerischen Krise oder an einem Wendepunkt befand, dann fiel sein Blick automatisch wieder auf Ingres. Das äußerte sich darin, dass er beinahe exakte Kopien nach Ingres anfertigte oder ihn, vor allem in seinem Spätwerk, parodierte. Er führte einen Dialog mit seinem Vorbild wie mit einem alten Kumpel, dem man sagt, schau her, so hast Du es einst gemacht und nun pass auf, ich gehe da jetzt noch viel weiter. Dieser immer wieder ganz unterschiedliche Blick auf Ingres ist ganz charakteristisch für Picasso.

    Für Überraschungen war Picasso schon immer gut. 1917 wirkte der Kunstrevoluzzer plötzlich wie geläutert in dem Portrait seiner Frau Olga, das sich ganz offensichtlich auf Ingres berühmtes Bildnis von Madame Rivière bezog. Die Schau zeigt beide Bilder nebeneinander. Doch so deutlich ist der Einfluss des strengen Klassizisten Ingres auf Picasso nicht immer abzulesen.

    Anklänge an Ingres’ Kunst sind in Picassos Werk bereits seit etwa 1904 auszumachen, was sich allerdings schwer in einer Ausstellung zeigen lässt. Dieser Einfluss hält kontinuierlich an und ist keineswegs nur auf jene Phase nach dem Ersten Weltkrieg beschränkt, in der ihn die Kritik "in der Manier Ingres’" arbeiten sah und die als Picassos "klassische" Periode bezeichnet wird. Die Ausstellung soll hingegen zeigen, dass Picassos Beziehung zu Ingres tiefer war und vor allem auch häufig diskreter verlief als bisher angenommen. Was hat Picasso an Ingres interessiert? Ingres, der große Akademiker, der stets die Natur, die Griechen und die alten Meister als Vorbilder anführte, hat in seiner Kunst letztlich doch immer nur gemacht, was er wollte. Er war gar nicht so dogmatisch. Auch Picasso fühlte sich immer der künstlerischen Tradition verpflichtet, doch gleichzeitig schreckte er nicht davor zurück, alles Herkömmliche über Bord zu werfen. Wie bei Ingres auch erlaubte es ihm sein großes Können, dieses zu wagen.

    Dass Ingres mit seinem gewagten "Türkischen Bad" sowohl inhaltlich als auch formal für seine Zeit ein bereits ungeheuer modernes Bild gemalt hatte, stand für Picassos Künstlergeneration fest. Deutlich wird dies vor allem bei Picassos ersten Entwürfen für das Schlüsselbild des Kubismus von 1907, die "Demoiselles d’Avignon", die Ingres’ "Türkischem Bad" Ideen für die Figurenanordnung schulden. Picassos etwas amorphen "Akt im Garten" von 1934 oder seine "nackte Frau im roten Sessel" von 1932 in der Ausstellung Ingres’ "Venus" aus dem Jahr 1852 an die Seite gehängt zu sehen, wirkt allerdings schwer verständlich. Auch weshalb das über 3x3 m große "Jupiter und Thetis"-Ölbild Ingres’ von 1811 aus dem Louvre herangeschafft werden musste, bleibt kaum nachvollziehbar, denn die recht freie Kopie, die Picasso 1966 mit Bleistift auf ein 30x30 cm großes Blatt Papier gezeichnet hat, ist es nicht wert. Eines ist bei dieser Picasso-Ausstellung anders und eben nicht so wie etwa bei "Picasso und die Frauen", " - und die Kinder", " - und der Stierkampf", " - und der Eros" usw. Endlich ist es mal nicht nur das Künstlergenie Picassos alleine, dem gehuldigt wird. Und das ist gut so.