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Pigafetta

Die eigentümliche Farbe des erlebten Seeabenteuers regte Richard Wagner zu seiner romantischen Oper "Der fliegende Holländer" an. Sehnsucht und Gleichmut sind die Farben, die Felicitas Hoppes Erzählung "Pigafetta" geflaggt hat. Es sind die Farben des Meeres. Die Autorin des Prosabands "Picknick der Friseure", der bei seinem Erscheinen vor drei Jahren viel gelobt und mit dem "aspekte"-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, wagt sich mit ihrem zweiten Buch in ein Haifischbecken der Tradition. Sie spielt mit dem Mythos der Seefahrt. Im Mai 1997 stach Felicitas Hoppe als zahlender Gast eines Frachtschiffs in See. Knapp vier Monate lang unternahm sie eine Reise von Hamburg nach Hamburg, einmal um die Welt. "Ich glaube schon, daß ich mal so eine Reise machen wollte, wobei mich Schiffe besonders anziehen", so Felicitas Hoppe. "Eine Flugreise um die Welt wäre nicht interessant für mich. Das hängt mit dem Tempo der Schiffe und natürlich mit der Geschichte der Schiffe zusammen, das ist was sehr Romantisches. Plötzlich dachte ich, warum eigentlich nicht, und stieß auf diese Frachtschiffagentur und habe dann diese Reise gebucht. Es war ganz klar, daß ich sie auch mache, um weg zu sein. Ich wollte richtig gerne einfach mal ein paar Monate überhaupt nichts mit zu Hause, mit Berlin und so zu tun haben. Das Schreibvorhaben war in dem Sinn kein Vorhaben, sondern es war ein Hintergedanke, etwas, das vielleicht möglich wäre, was aber überhaupt nicht die Motivation für die Reise war, absolut nicht. Ich dachte mir: Wenn was dabei rauskommt, um so besser, und wenn nicht, dann schau, was mit dir geschieht. Also, da war alles möglich."

Katrin Hillgruber |
    Die Handlung beruht auf einem Gerüst aus neun Nächten. Diesen Nachtpartien ist ein historischer Subtext eingezogen. In der Dunkelheit erhebt der allwissende und unsterbliche Pigafetta seine Stimme, ein Schiffskobold, der seinen Stammplatz unter der Uhr in der Kabine der Ich-Erzählerin hat. Antonio Pigafetta umsegelte unter dem portugiesischen Generalkapitän Fernando Magellan ab 1519 den Globus. In spanischen Diensten durchkreuzten sie als erste den Pazifik, nach Magellan wurde eine Wasserstraße zwischen Südamerika und Feuerland benannt. 1521 wurde der Generalkapitän von Eingeborenen auf den Philippinen erschlagen. Pigafetta gehörte zu den wenigen Überlebenden der Expedition, zumal das Reglement an Bord drakonische Strafmaßnahmen vorsah. Es forderte vor allem unter den aufsässigen Köchen seine Opfer. In Pigafettas Augenzeugenbericht wird daraus die unheilvolle Geschichte vom Koch, dem Hund und dem Ei: Die Assoziationskünstlerin Felicitas Hoppe zieht ihre Register. Dieses Verfahren bedarf der Gewöhnung. Manche Details wirken sehr verspielt, fast schon possierlich. Doch hat man sich dem "Aufruhr der Gegenstände" einmal anvertraut, läßt man sich von den konkurrierenden Stimmen der Ich-Erzählerin und Pigafettas durch diesen Reise- und Traumbericht führen, so erliegt man bald seiner Magie. Unversehens ist man von Seemannsgarn umstrickt. Daran hat der Kobold Pigafetta wesentlichen Anteil: "Das Wichtige ist, daß er unendlich ist in Raum und Zeit", so Hoppe. "Er war da, er wird wahrscheinlich immer da sein und ist sozusagen an allen Stellen einzusetzen. Er ist natürlich auch der historische Verweis, so wie es einige historische Verweise gibt in dem Buch, das heißt, das Buch ist nicht ohne Tradition, es ist nicht aus der Luft gegriffen und durchaus nicht alles erfunden, auch nicht die Magellan-Geschichte in den Nächten, die historisch rekonstruiert ist und phantastisch verkleidet. Und so gibt's natürlich andere Hinweise, es gibt das Verstopfen der Ohren, um nicht zu hören, was vielleicht zu hören wäre. Das erinnert natürlich an Odysseus. Es gibt viele andere Anlehnungen an Seefahrtsbücher, die aber entweder leicht parodiert werden oder gar nicht explizit genannt werden. Aber es gibt natürlich einen riesigen Fundus, den man aus seiner Kindheit kennt, auch als Frau, glaube ich, kennt man diese Seefahrtsgeschichten oder hat die "Schatzinsel" gelesen oder sonst etwas. Und ich will gar nicht verraten, auf was für Bücher ich mich zum Teil bezogen habe, zum Teil bewußt, zum Teil unbewußt, bis hin zu Moby Dick. Was für mich aber entscheidend war, daß ich kein Abenteuerbuch erzählen wollte, keine Abenteuergeschichte, keine Jungsgeschichte. Ich wollte eigentlich auch mit diesem Mythos spielen, mit diesem Mythos der Seefahrt, mit diesem völlig abgenutzten, klischierten Bereich, des Meeres und der Liebe, den Wellen, dem Sturm, der Meuterei, den Piraten, den Augenklappen, den Holzbeinen. Das sind alles Dinge, die so unglaublich abgegriffen sind, daß ich eigentlich fast vor meinem eigenen Mut zurückschreckte und dachte, alles, bloß nicht ein Seefahrerbuch, das muß schiefgehen. Ich habe dann versucht, einen Ton zu finden und mit diesen Elementen zu spielen und sie neuerweise wieder zusammenzusetzen in der Hoffnung, daß ein eigener und vielleicht auch ein lakonischer Blick auf dieses literarische Erbe entsteht."

    Das Erbe der christlichen Seefahrt wiegt schwer, doch Felicitas Hoppe kann es teils ironisierend in der Schwebe halten. "Schwebe" ist ein Stichwort für ihr Schreibverfahren. Bereits die namenlosen Figuren in "Picknick der Friseure", hatten den sicheren Boden der Realität verlassen. Von einer ungerührten Erzählerstimme referiert, nahmen wie im Traum oder unter Wasser absurde, meist familiäre Ereignisse ihren Lauf. Ausgangspunkt war häufig der Tisch des Hauses, die gemeinsame Mahlzeit. Nun ist der "zweite Esser von rechts" aufgebrochen, legt den Daheimgebliebenen aber weiterhin Rechenschaft ab. Das Traumwandlerische des Erzählens ist geblieben, ebenso sein ausgeprägt gestischer Charakter. "Pigafetta" hat die Eigenschaften eines Stummfilms. "Der Unterschied besteht darin, daß hier sozusagen Dinge unternommen werden, die im ‘Picknick’ nur geträumt werden, die dort nicht möglich sind", so Hoppe. "Das heißt, während im ‘Picknick’ der Aufbruch immer durchgespielt und projektiert wird, findet er hier tatsächlich statt und wird natürlich, und damit komme ich auf das Traumwandlerische, auch wieder in Frage gestellt, also, einfach durch den Erzählton. Man muß sich am Ende schon fragen, ob diese Reise überhaupt stattgefunden hat, ob das nicht ein Traumspiel ist zwischen der Erzählerin, Pigafetta und seiner Schwester, wer erzählt hier wem, was macht, was geschieht, was wird nicht erlebt. Und trotz der Angebundenheit an das reale Erlebnis wird das Erlebnis doch wieder so auf eine Distanz gerückt, was dazu führt, daß das Erlebnis nicht ganz verläßlich ist, also in dem Sinne, daß man keinen festen Boden unter den Füßen hat. Und das paßt wiederum eigentlich sehr schön zum Element, das paßt zum Element des Wassers. Das Wasser ist kein sicheres Element. Und man geht auf Schiffen sozusagen auch nie auf sicherem Boden, man hat keinen sicheren Boden unter den Füßen. Insofern, na ja, eigentlich fast eine Radikalisierung dieser ‘Picknick’-Motive."

    Das Leben an Bord ist das einer geschlossenen Männergesellschaft, es wird von eisernen Regeln bestimmt. Sie stehen in seltsamem Kontrast zur unwiderstehlichen Gleichgültigkeit des Ozeans. "Ist Salz im Meer, hat der Matrose Arbeit", lautet eines der Gesetze. Sie sind überindividuell, beziehen sich nicht auf den einzelnen, genausowenig wie die Rettungsvorschriften, die unablässig eingeübt werden müssen. Aus dieser merkwürdigen Sachlichkeit gewinnt der Text einen Gutteil seines Reizes. "Die Ladung hat Priorität" ist oberster Maßstab allen Handelns. Die Ich-Erzählerin läßt sich vom Fatalismus des verdrossenen Kapitäns, des französischen Klempners, des ewig seekranken Kochs anstecken. Ihre Wahrnehmung verändert sich. Die Tage werden ununterscheidbar, nur durch die Abfolge der Mahlzeiten strukturiert. Tod oder Überleben im Rettungsboot, alles ist gleichgewichtig. Der Frachter hat zwar eine Seele, aber keinen Namen. Wer zum ersten Mal den Äquator überquert, wird getauft. Auch diese Prozedur hat etwas Unwägbares an sich. Die Reisende erhält den Namen eines ihr bis dahin unbekannten Fisches. Sie verrät ihn nicht, ebensowenig wie den des Schiffes. Es scheint, als fürchte sie, den Zauber durch Benennung zu zerstören: "Ja, was die Namen betrifft, so glaube ich, daß das schon eine Bedeutung hat, daß dieses Schiff eben keinen Namen hat. Und ich würde fast vermuten, das ist das einzige Seefahrtsbuch oder Buch, das in diesem Ambiente spielt, wo das Schiff keinen Namen hat, weil für Schiffe Namen eigentlich unerläßlich sind. Im übrigen sind es immer Frauennamen. Wie das gekommen ist, kann ich nicht genau sagen. Ich konnte mich irgendwie nicht entschließen, das Schiff zu benennen, wahrscheinlich auch, weil ich den Namen des realen Schiffes verschweigen wollte, auf dem ich gereist bin, nicht verschweigen, ich wollte ihn eben nicht preisgeben. Und so blieb das Schiff am Ende ohne Namen. Und abgesehen davon, was Pigafetta betrifft, es gibt eine Menge Schiffe, die "Pigafetta" heißen, das habe ich aber erst nach der Reise mitgekriegt. Das ist mir erzählt worden. Und ein Zitat aus dem Buch, ich glaube, daß das der Schiffsmechaniker Nobell einmal sagte: ‘Aber was sind schon Namen’. Da wird natürlich mit dem Namensbegriff gespielt und auch deutlich gemacht, daß das im Grunde alles austauschbar ist. Und das bezieht sich auch auf die Geographie und auf die Geschichte. Es geht ja um die Entdeckungen unter anderem. Namen wechseln ständig, Flaggen wechseln, Territorien gehen von einer Hand in die andere, insofern ist in der Tat nichts sicher, auch nicht durch Benennung."

    Die Ich-Erzählerin, zunächst als "Landratte" belächelt, emanzipiert sich im Lauf der Zeit. Der Kapitän will ihr gar das Kommando übertragen. Bei aller propagierten technischen Nüchternheit gerät die Seefahrt zur Chiffre für die Sehnsucht, für die "Seekrankheit des Herzens". Die Gattungsbezeichnung "Roman" tut "Pigafetta" nicht gut, sie überfrachtet den eher kurzen Text. Das Buch verträgt keine große Lautstärke, keine hochgeschraubten Erwartungen, wie sie den Nachfolgern gelungener literarischer Debüts oft entgegengebracht werden. Die poetische Qualität der Sprache benötigt die Stille, den ruhigen Schlag der Wellen, um ihre Anmut entfalten zu können.