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Pioniere im Hörsaal

Wer in Deutschland studieren will, sollte sich die richtigen Eltern aussuchen: Von 100 Akademikerkindern nehmen 83 ein Hochschulstudium auf. Von 100 Nicht-Akademikerkindern nur 23. Die Initiative ArbeiterKind.de startete vor drei Jahren mit dem Ziel gesetzt, diesen Zustand zu verbessern.

Von Patric Seibel | 05.05.2011
    Wer in Deutschland studieren will, sollte sich die richtigen Eltern aussuchen. Das jedenfalls legen die aktuellen Zahlen des deutschen Studentenwerks nahe: Von 100 Akademikerkindern nehmen 83 ein Hochschulstudium auf. Von 100 Nicht-Akademikerkindern nur 23. Die Initiative ArbeiterKind.de hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Zustand zu verbessern. Heute feiert ArbeiterKind den dritten Jahrestag der Gründung.

    "Ich habe vorher schon Mechatroniker gelernt, direkt nach der Realschule, so wie man das üblicherweise macht. Dass ich möglichst schnell aus dem Haus von meinem Vater rauskomme, war seine Einsicht, wär's ganz gut, wenn ich was in der Industrie mache, weil man da gutes Geld verdienen kann, und dann ist das Kind schneller aus dem Haus."

    Für Studenten wie Daniel, mit Eltern ohne Hochschulerfahrung, stellen sich vor einem Studium zwei große Fragen: Wie bezahle ich das? Und: Traue ich mich rein in die akademische Welt?

    "Das wird mir ewig im Gedächtnis bleiben: Ich im ersten Semester im Biopraktikum; also durch meine Ausbildung in der Sparkasse habe ich eben gelernt: Wenn Leute einen Titel haben, dann spricht man sie auch so an. Und ich hab mich dann eben gemeldet und gesagt: Herr Professor Dr. Sowieso, können Sie bitte mal kommen? Und ein irres Gelächter ging durch die Reihen und ich weiß noch, dass mir das so peinlich war und dass ich so gedacht habe, jetzt habe ich mich hier geoutet als Nichtakademikerherkunftskind."

    Akademisch für Anfänger. Die angehende Lehrerin Jantje lernte es in einem schmerzhaften Crashkurs. Auch Katja Urbatsch hat solche Erfahrungen gemacht. Und gehandelt. Vor drei Jahren entwarf sie gemeinsam mit ihrem Bruder die Website ArbeiterKind.de und bot Nichtakademikern ehrenamtlich Hilfe an. Mittlerweile ist daraus ein gemeinnütziges Unternehmen geworden.

    "Ja, wir werden feiern mit einem Tag der offenen Tür in unserem neuen Berliner Büro, und ich bin selbst immer noch überwältigt, was Arbeiterkind für eine Entwicklung gemacht hat."

    Die Doktorandin Katja Urbatsch ist heute hauptberufliche Geschäftsführerin - dank eines Stipendiums der Ashoka-Stiftung, die soziale Unternehmen fördert. Daneben wird ArbeiterKind von weiteren Stiftungen, der Bundesregierung und der hessischen Landesregierung finanziell unterstützt. Fast 3000 Mentoren engagieren sich ehrenamtlich in 80 regionalen Gruppen: von der Studentin bis zum emeritierten Professor. Sie beraten die Studierenden per Mail oder im persönlichen Gespräch. So verfügt ArbeiterKind über ein großes Reservoir an praktischer Erfahrung aus den unterschiedlichsten Fachgebieten. Ein Schwerpunkt liegt in der Beratung von Abiturienten, durch Vorträge an Schulen und mit Infoständen auf Bildungsmessen:

    "Ich werde auf Lehramt studieren Deutsch und Englisch. - Ah, guck mal, da haben wir hier drüben Alexandra, die hat auch auf Lehramt studiert, Deutsch und Geschichte. - Ich mache Deutsch und Englisch - das ist ja nicht soweit voneinander entfernt und dann grundsätzlich noch Lehramtsstudium noch dazu. - Und hat bei euch in der Familie vorher schon mal jemand studiert oder wärt ihr die Ersten? - Ne, noch keiner, nein, noch keiner. - Dann seid ihr ja bei uns quasi genau richtig. Wir sind ja eine Initiative, die sich für junge Leute einsetzt, speziell, wo vorher noch niemand studiert hat."

    Die Uni erscheint vielen Arbeiterkindern wie ein fremdes Land, bewohnt von exotischen Eingeborenen mit unverständlichen Sitten und Gebräuchen. Auch Katja Urbatsch hat solche Erfahrungen gemacht.

    "Und auch einfach diese Selbstsicherheit, mit der sich viele Akademikerkinder in der Uni bewegen, ist natürlich eine andere als bei mir. Ich fühle mich da auch heute noch in vielen Kontexten da relativ unsicher."

    Was Arbeiterkindern fehlt, ist der passende Habitus. Mit diesem Begriff bezeichnete der französische Soziologe Pierre Bourdieu ein Bündel von Geschmacks- und Verhaltensmustern, das jedes Kind in seiner Familie erwirbt. Der Habitus wirkt wie eine zweite Haut, wie eine natürliche Anlage. Er beeinflusst in Deutschland schon die Chancen der Grundschulkinder. Bildungsforscher sprechen daher auch von einer "Sortierung durch Herkunft."

    ArbeiterKind will versuchen, daran etwas zu verbessern: mit guter Beratung jungen Menschen die Angst vor der Hürde Uni zu nehmen. Mittlerweile werden die Mentoren speziell geschult. Eine Werbeagentur in Berlin spendiert kostenloses Gesprächstraining. In den meisten Beratungen ist die Studienfinanzierung ein Thema. Zwar vergibt ArbeiterKind keine Stipendien, aber dafür etwas Wichtigeres: Selbstvertrauen.

    "Bei mir geht's auch nicht darum, wie viele jetzt studieren müssen. Mir geht's eigentlich eher darum, dass jeder das Leben leben kann, was er gerne möchte, und dass er auch den Ausbildungsweg beschreiten kann, den er gerne möchte, unabhängig von seiner Herkunft. Aber wenn jemand sagt, ich möchte eigentlich studieren, aber ich trau mich nicht oder ich denke, ich kann das nicht oder ich kann das nicht finanzieren, möchte ich, dass derjenige auch studieren kann. Ich möchte einfach, dass jeder den Weg beschreiten kann, den er gerne möchte."