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PISA-Ergebnisse
Lehrerverbandspräsident will "nicht nur auf Quoten und Rankings schauen"

Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, kritisiert den Leistungsvergleich mit asiatischen Ländern, die bei den PISA-Tests immer an vorderen Plätzen stehen. "Schule darf auch anstrengend sein", sagt er, "aber ich will keine Drillschule."

Christiane Kaess im Gespräch mit Josef Kraus | 03.12.2013
    Christiane Kaess: Mitgehört am Telefon hat Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Guten Tag!
    Josef Kraus: Guten Tag, Frau Kaess!
    Kaess: Herr Kraus, haben Sie sich gefreut über die doch relativ guten Ergebnisse?
    Kraus: Ich habe mich gefreut insbesondere für die Schulen in Deutschland und da an erster Stelle natürlich für die Schüler und für die Lehrer in Deutschland, die man ja die letzten zwölf Jahre so als die Hinterwellter dargestellt hat. Wie wenn wir mit unseren 42.000 Schulen in Deutschland und mit unseren elf Millionen Schülern überhaupt nichts mehr könnten.
    Kaess: Die Ergebnisse waren ja auch einfach schlecht im Jahr 2000.
    Kraus: Na ja, gut. Man hat sie sich auch schlecht gerechnet, man hat sie auch schlecht geredet. Wir waren immer im mittleren Bereich. Aber dass wir jetzt signifikant drüber sind, ist schön. Ob es unbedingt das Ergebnis einer besseren Pädagogik und einer besseren Bildungspolitik ist, das wage ich ein bisschen zu bezweifeln. Es sind ja jedes Mal auch wieder andere Länder, die getestet werden.
    Kaess: Dann möchte ich erst noch mal anders herumfragen. Hatten Sie denn erwartet, dass Deutschland bei allem Fortschritt immer, ich sage mal, "nur" noch im oberen Mittelfeld liegt?
    Kraus: Das war mir schon klar, denn wenn ich mir die aktuelle Tabelle anschaue, die mir jetzt auch seit einer Stunde vorliegt, dann fällt mir natürlich auf, dass an den vordersten fünf, sechs Stellen asiatische Stadtstaaten und Länder sind. Und damit sollten wir uns nicht vergleichen.
    Kaess: Warum?
    Kraus: Es gibt, glaube ich, zweieinhalb Gründe, warum die so gut abschneiden. Zum einen hat man dort ein anderes Verständnis von Lernen und von Bildung und von Schule. Es ist eine Drillschule, die dort praktiziert wird. Und das ist eine Art von Schule, wie wir sie in Mitteleuropa oder in Deutschland oder überhaupt in der westlichen Welt nicht haben wollten.
    Kaess: Und Sie plädieren dafür, dass wir diesen Kurs auch nicht einschlagen sollten?
    Kraus: Wir sollten nicht den Kurs einschlagen. Wir haben allerdings das Pendel in die andere Richtung ausschlagen lassen, so nach dem Motto, Schule muss nur noch Spaß machen. Also ein Mittelweg: Schule darf auch anstrengend sein, muss auch anstrengend sein, aber ich will keine Drillschule.
    Kaess: Und wir sollten diesen Kurs auch nicht einschlagen, obwohl wir dann das Risiko eingehen, dass wir im internationalen Vergleich immer schlechter abschneiden werden?
    Kraus: Vor allem sollten wir den Blick auch mal wieder öffnen, was Bildung insgesamt ist, und nicht nur auf irgendwelche Quoten und Rankings schauen. Aber noch mal zu den Asiaten, das ist mir schon auch wichtig. Dort werden die Tests unglaublich ernst genommen. Ich habe von einem südkoreanischen Professor berichtet bekommen, dass dort vor der Testdurchführung die Nationalhymne gesungen wird. Und in Deutschland haben wir natürlich auch Schüler, die den Test bildhaft gesprochen mit links machen und nicht ganz ernst nehmen und vorzeitig abgeben. Und dort ist das ein Politikum. Dort hat das mit nationaler Identität zu tun, gut abzuschneiden. Ich will jetzt nicht unterstellen, dass man dort vielleicht nur die besten Schulen in die Stichprobe mit hineinnimmt, aber auf jeden Fall wird auf die Art und Weise auch der Ranking-Platz irgendwo, sowohl der asiatische wie auch der deutsche, relativiert.
    Kaess: Was ist denn Bildung für Sie, abgesehen von den Rankings?
    Kraus: PISA misst nur einen minimalen Ausschnitt
    Kraus: PISA misst nur einen minimalen Ausschnitt aus dem Bildungs- und Lerngeschehen. PISA erfasst zum Beispiel folgende Bereiche nicht: das sprachliche Ausdrucksvermögen nicht, das literarische Verstehen nicht, keinerlei politische, geografische, wirtschaftliche, historische Grundbildung, keinerlei Bildung im Bereich Religion/Ethik, keinerlei Bildung im ästhetischen Bereich, Musik.
    Kaess: Wird da zu sehr auf den Arbeitsmarkt geguckt?
    Kraus: Es ist zu sehr auf den Arbeitsmarkt geguckt. Und interessant ist ja auch, dass die obersten Verwalter und Akteure im Bereich der PISA-Testung eine Wirtschaftsorganisation ist, die OECD ist. Und im Grunde genommen die OECD vorgibt, was in Schule zu vermitteln ist und was zu testen ist. Man nennt das im Übrigen im Fachchinesischen auch die normative Wirkung von Empirie. Und leider haben wir uns an den deutschen Schulen ein bisschen daran orientiert unter dem Stichwort Kompetenzenpädagogik. Es wird das getestet, was messbar ist und was nützlich ist. Und das ist mir aber ein zu enges Bildungsverständnis. Da sind wir eigentlich jahrzehnte- und jahrhundertelang mit unserem deutschen Verständnis von Allgemeinbildung und Persönlichkeitsbildung eigentlich nicht schlecht gefahren.
    Kaess: Herr Kraus, schauen wir dennoch mal auf die Resultate. Haben Sie eine Erklärung für die Verbesserung im Vergleich zu 2000 und in den letzten Jahren?
    Kraus: Die einfachste Erklärung ist, dass unsere Schüler nun mit dieser Art von Mathematik-, Lese- und naturwissenschaftlichen Aufgaben besser vertraut sind. Das war bei der ersten PISA-Testung 2000 überhaupt nicht der Fall.
    Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes
    Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (Deutscher Lehrerverband)
    Kaess: Woher kommt das, was ist geändert worden?
    Kraus: Ja nun, das hat ein bisschen mit der Ausrichtung auf Evaluation und auf Tests zu tun. Und seit dem Jahr 2000 sind ja neben den PISA-Tests auch flächendeckend Jahrgangsstufentests nach PISA-Methode eingeführt worden. Im Grunde genommen testen wir mittlerweile viel zu viel. Ich würde mir wünschen,...
    Kaess: Aber es kann ja nicht nur um die Tests gehen. Es wird auch anders vermittelt offenbar?
    Kraus: Das glaube ich nicht, dass das anders vermittelt wird. Die Aufgabenstellung ist eine andere und viele unserer Deutschtests – ich nehme mal dieses Beispiel her – orientieren sich an der PISA-Testung. Und das ist mir eigentlich ein bisschen ein Gräuel. Wenn ich Deutschtests, also das Verstehen, das Können, das Beherrschen der Muttersprache in Lückentexte presse, in Multiple-Choice-Tests presse, dann ist mir das ein etwas enges Verständnis auch von sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten.
    Kaess: Es fällt auf, dass es eine Diskrepanz bei den Naturwissenschaften zwischen Jungen und Mädchen gibt. Müssen die Mädchen mehr gefördert werden?
    Kraus: Ich glaube, dass sie ohnehin durch das Vorbild, das wir mittlerweile durch Lehrerinnen haben, im Laufe der nächsten Schülergeneration da einiges aufholen werden. Die Tatsache, dass wir unter den Lehrkräften in den Fächern Mathematik und Physik mittlerweile fast schon 50, an manchen Schulen 60 Prozent weibliche Lehrkräfte haben, glaube ich, übt eine positiv infizierende oder eine Vorbildwirkung aus. Aber es gibt auch natürlich, wenn Sie so wollen, eine ausgleichende Gerechtigkeit. Die Mädchen sind eindeutig besser im Bereich der sprachlichen Tests und, wenn man die Noten hernimmt, auch im Bereich der Fremdsprachen. Also es mittelt sich unterm Strich wieder irgendwo raus. Ich will jetzt nicht in den Bereich der Gegenforschung gehen, die da auch nicht eindeutig ist, oder in andere Bereiche von Genforschung und so weiter, aber es schlagen da schon auch ein bisschen traditionelle Rollenbilder durch.
    Kaess: Es ist ja immer noch so, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten schlechtere Chancen haben, auch wenn dieses Phänomen ein bisschen besser geworden ist. Sie waren ja der Meinung, das deutsche Bildungssystem sei sozial durchlässiger als angenommen. Haben Sie sich da getäuscht?
    Kraus: Da habe ich mich überhaupt nicht getäuscht. Pisa testet 15-Jährige, und bei 15-Jährigen ist die Bildungslaufbahn nicht abgeschlossen. Und wenn PISA einen Zusammenhang herstellt, beispielsweise zwischen sozialer Herkunft und Gymnasialbesuch, dann ist das eine Momentaufnahme. Man müsste diesen Zusammenhang dann erkunden bei 20-, 22-Jährigen, denn nur dann würde sich auch herausstellen, dass wir in den Bundesländern zwischen 40 und 50 Prozent Studierberechtigte haben, die kein Gymnasium besucht haben und unter denen auch junge Leute, Kinder, Jugendliche aus sogenannten bildungsfernen Schichten sehr stark repräsentiert sind. Es ist ein methodisches Artefakt, sagt man in der Wissenschaft, wenn auf der Basis der Testung von 15-Jährigen solche Aussagen getroffen werden. Wir haben in Deutschland eine ausgesprochene vertikale Durchlässigkeit nach oben, die auch eine soziale Durchlässigkeit ist. PISA sagt dazu nichts, kann dazu nichts sagen, weil 15-Jährige die Testanten sind.
    Kaess: Live bei uns im Deutschlandfunk heute Mittag Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Danke für das Gespräch, Herr Kraus.
    Kraus: Danke, Frau Kaess! Viele Grüße.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.