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Plädoyer für die reine Schönheit

Am 30. August 1811, also heute vor 200 Jahren, wurde der französische Schriftsteller und Kritiker Théophile Gautier im Städtchen Tarbes am Fuße der Pyrenäen geboren. In den letzten zehn Jahren sind verstärkt Werke von Gautier auf Deutsch erschienen. Nun kommt in einer neuen Übersetzung "Mademoiselle de Maupin" heraus, sein Romandebüt von 1835.

Von Peter Urban-Halle | 29.08.2011
    Théophile Gautier war gerade mal 24 Jahre alt, als "Mademoiselle de Maupin" erschien. Mit diesem, seinem ersten Roman hat er gleich sein Hauptwerk geschrieben. Das liegt erstens an der fast postmodern anmutenden Mischform aus Briefen, Reflexionen und Rückblenden und dem Spiel mit Wirklichkeit, Fantasie und Ideal, und zweitens am Programm der totalen Emanzipation, das sogar davon träumt, sich über die natürlichen Grenzen der Geschlechter hinwegzusetzen. Besonders berühmt ist das lange Vorwort, in dem sich der junge Autor als wortgewaltiger Spötter, treffender Polemiker und bestechender Analytiker erweist. Da wird zunächst über die Tugendwächter der Julimonarchie gelästert und dann gegen die bürgerlichen Kritiker geschossen: Gautier schlägt sich auf die Seite der reinen Schönheit und der zwecklosen Kunst.

    Wirklich schön ist nur, was keinem Zweck dient; alles Nützliche ist hässlich, denn es ist Ausdruck eines Bedürfnisses, und die Bedürfnisse des Menschen sind widerlich und abstoßend wie seine arme und hinfällige Natur. Der nützlichste Ort eines Hauses sind die Latrinen.

    Lange Vorworte sind normalerweise überflüssig und langweilig, doch dieses hier, hat man erst angefangen, lässt einen nicht mehr los, weil es so ätzend und geistvoll, so beißend und absolut parteiisch ist. Und literaturgeschichtlich wichtig: Hier begründet Gautier das sogenannte "L'art pour l'art" und einen Formalismus, der seinen Gipfel fast 30 Jahre später erreichte, in dem Roman "Salammbô" von Gustave Flaubert. Es wurde zum Manifest einer ganzen Epoche, Gautier selbst zum Vorbild großer Namen: Flaubert wurde schon genannt, Balzac und Baudelaire sind zwei weitere.

    "Mademoiselle de Maupin" beschreibt ein Dreiecksverhältnis. Der junge Adlige d'Albert, deutlich ein Alter Ego Gautiers, langweilt sich zu Tode. Er ist eine Abart des sogenannten "überflüssigen Menschen", wie wir ihn aus der russischen Literatur jener Jahre kennen. Er sucht die absolut ideale Schönheit, die er, weil es sich um ein Ideal handelt, natürlich nicht findet. Auch Rosette, die er auf einem Salon kennenlernt, kann seine Träume nicht befriedigen. Sie ist hübsch, geistreich, wohlhabend und offen für jede erotische Eskapade, aber eben nur akzeptabel, mehr nicht. D'Albert denkt an Trennung, aber wie?

    Da tritt ein gewisser Théodore auf, ein schöner und charmanter Edelmann, beide verlieben sich in ihn, was d'Albert natürlich verwirrt: Sollte etwa ein Mann sein Schönheitsideal erfüllen? Aber er hat den Kennerinstinkt: Théodore ist in Wahrheit eine Frau, die Titelheldin, die als Mann verkleidet die Männer kennenlernen will. Das führt zu einem wilden Bäumchen-verwechsel-dich-Spiel wie in Shakespeares "Wie es euch gefällt" - genau dieses Stück wird dann auch geprobt, und Théodore spielt die Rosalinde derart naturgetreu, dass kein Zweifel übrig bleibt. Shakespeares Stück dient Gautier dann auch für eine seitenlange schwärmerische Eloge auf das "extravagante, unmögliche Theater", in dem das Dekor wichtiger ist als die Erzählung.

    Obwohl der Begriff "deutsch" nur zweimal an nebensächlicher Stelle auftaucht, muss man deutsche Klassiker als Vorläufer nennen: 1798 sagte Hölderlin in dem Gedicht "Da ich ein Knabe war": "Ich verstand die Stille des Äthers, der Menschen Worte verstand ich nie". 35 Jahre später schreibt Gautier in seiner "Maupin" einen erstaunlich ähnlichen Satz: "Eine Skulptur verstehe ich vollkommen, einen Menschen verstehe ich nicht." Zwar geht es bei Hölderlin um die Götter, bei Gautier um die Schönheit. Aber was heißt das schon, wo doch das Schöne bei Gautier göttlich ist! Viel bedeutender ist der Hinweis auf Friedrich Schlegels "Lucinde", den Dolf Oehler in seinem packenden Nachwort gibt. Schon Schlegels Roman von 1799 hat diese verwirrende Komposition wie Gautiers von 1835, und wichtiger noch: Schon Schlegel feiert den fröhlichen gender trouble als erotisches Nonplusultra und erstrebt eine Art drittes Geschlecht - nur dass es bei ihm noch nicht so heißt -, weil es zur "Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit" führe. Diese Idee des dritten Geschlechts, von der sehr viel später der Sexualforscher Magnus Hirschfeld spricht, erhält bei Gautier ihren Begriff und leitet zur entscheidenden programmatischen Passage des Romans über:

    Ich gehöre einem dritten, noch namenlosen Geschlecht eigener Art an; ich habe den Körper und die Seele einer Frau und den Geist und die Kraft eines Mannes [ ... ] das wahre Glück besteht darin, sich nach allen Seiten hin frei entfalten zu können und alle seine Möglichkeiten auszuleben.

    "Mademoiselle de Maupin" ist eine überwältigende Lektüre. Gottlob will die Übersetzerin den Text nicht mit aller Gewalt modernisieren und bewahrt den Charme und den Esprit des 19. Jahrhunderts. Im Vergleich mit alten Übersetzungen (von Arthur Schurig oder Alastair) ist ihre Version um einiges eleganter und genauer. Das Buch kümmert sich wenig um die Regeln des Romans, um plausible Charaktere und logische Plots, es ist im Grunde ein Antiroman. Hier geht es um die Idee, allerdings auf ebenso amüsante wie empörende, sinnliche wie intelligente Weise. In den Briefen, die d'Albert und das Fräulein Maupin ihren jeweiligen Briefpartnern schreiben, offenbaren die beiden Suchenden ihr tiefstes Inneres. Es sind faszinierende, manchmal haarsträubende, geradezu menschenfeindliche Geständnisse. Nicht von ungefähr weist Dolf Oehler auf die Verbindung zu de Sade hin. D'Albert feiert nämlich die großen Ungeheuer der römischen Geschichte Tiberius, Caligula und Nero, für die Schönheit opfert er jede Moral. Auch Mademoiselle de Maupin betont ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben der Menschen. Das ist schauerlich, aber - menschlich. Sogar Proust, einer der größten Erforscher der menschlichen Seele, sagte, Gautier öffne uns "die Tür zu Räumen, in die wir sonst nicht hätten eindringen können".

    Théophile Gautier: Mademoiselle de Maupin. Roman, aus dem Französischen von Caroline Vollmann, Nachwort von Dolf Oehler, Manesse Verlag, Zürich 2011, LXX + 630 Seiten, 24,95 Euro