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Poesiefestival "VERSschmuggel"
Poesie muss mit Poesie übersetzt werden

Seit Freitag geben sich Dichter aus aller Welt in der Akademie der Künste in Berlin die Klinke in die Hand. Beim Poesiefestival werden Gedichte vorgelesen, performt oder diskutiert. Heute Abend steht eine Lesung der Reihe "VERSschmuggel" auf dem Programm. Fünf Dichter aus Israel und fünf aus Deutschland tragen ihre Gedichte gegenseitig vor.

Von Oliver Kranz | 06.06.2016
    Portrait der irsaelischen Dichterin Nurit Zarchi
    Porträt der irsaelischen Dichterin Nurit Zarchi (Poesiefestival Berlin 2016)
    Nurit Zarchi ist in Israel eine bekannte Kinderbuchautorin und Lyrikerin. Sie hat das Gedicht "Platanenplakat" von Marion Poschmann übersetzt. Das Original klingt so:
    Als hätte dieser Stamm in Drachenblut
    gebadet: Rinde fällt in Placken ab,
    enthüllt die hellen Stellen, die nun
    schutzlos sind und roh wie Haut
    unter dem Pflaster. Flecken schwärmen
    grau und gelb und grün, dies ist kein
    Lichterspiel, kein Lindenblatt, dies ist ein
    Baum im Kampfanzug. Platanentarn.
    Marion Poschmann hat das Gedicht bewusst für den "VERSschmuggel" ausgewählt. Sie glaubte, Naturbeschreibungen seien leicht zu übersetzen:
    "Jetzt ist es aber so, dass die Platane, obwohl sie im Mittelmeerraum ein sehr verbreiteter Straßenbaum ist, in Israel so gut wie gar nicht vorkommt und niemand ein Bild vor Augen hat."
    Deshalb spricht Nurit Zarchi in der hebräischen Version von einer ganz anderen Baumart. Gedichte, sagt sie, müssen nicht wortgetreu übersetzt werden
    "We don't have to talk so much about words, because poetry is not with words. Poetry is with poetry."
    Poesie muss mit Poesie übersetzt werden, betont die Autorin. Und darauf kommt es auch der Berliner Literaturwerkstatt an, die den "VERSschmuggel" organisiert hat. Die Dichter, die bei dem Projekt aufeinandertreffen, kennen die jeweils andere Sprache nicht. Sie arbeiten auf der Grundlage von Rohübersetzungen und verständigen sich bei den Treffen, bei denen an den Texten gearbeitet wird, mit Hilfe von Dolmetschern. Aurélie Maurin hat das Projekt im Auftrag der Literaturwerkstatt betreut.
    "Das Besondere ist die Gegenseitigkeit, dass die Dichter eben an der Übersetzung ihrer eigenen Gedichte teilnehmen. Es entsteht dadurch ein sehr intimer Dialog, eine fremde Nähe. Ich bin immer wieder beeindruckt von der Freiheit, die sich die Dichter gewähren bei dem Prozess."
    Einerseits Luxus, andererseits Qual
    Einerseits ist es für die Autoren Luxus bei der Übersetzung ihrer Texte dabei zu sein, andererseits eine Qual. Yael Globerman aus Tel Aviv hasst nichts so sehr, wie ihre Gedichte erklären zu müssen. Ihr Übersetzungspartner Ron Winkler fragte sie nach fast jedem Wort.
    "I was in agony trying spoil everything what you have achieved as a poet and explain what you wanted to do."
    Wer Poesie mit einfachen Worten wiedergibt, zerstört ihren Zauber. Viele Gedichte leben von ihrer Vieldeutigkeit, von ihrem Rhythmus und ihrem Klang.
    "Ich finde, man lernt durch diese Übersetzungstätigkeit sehr viel über das andere Land, die andere Sprache. Und man lernt auch sehr viel über seine eigenen Gedichte."
    Marion Poschmann hat in den Texten von Nurit Zarchi viele Anspielungen auf die Bibel gefunden. Doch sie beschreiben die aktuelle Situation im Nahen Osten.
    Mal waren sie Kain,
    ein andermal Abel. Sie wußten
    selbst nicht, wer waren sie.
    Damals, im Schatten unter dem Baum der Erkenntnis,
    pickten Raubvögel aus ihrer Hand
    "Kain hat seinen Bruder Abel erschlagen. Wer hat Schuld? Wir Israelis bemühen uns wahnsinnig darum, gerecht zu sein. Aber im Nahen Osten ist das kaum möglich. Wir müssen uns schützen, weil wir in einer feindseligen Umgebung leben. Doch wer kennt das richtige Maß? Wenn wir uns den Palästinensern gegenüber brutal verhalten, können wir uns nicht mit dem friedlichen Abel vergleichen. Wir spielen eher die Rolle von Kain."
    Gedichte verändern ihren Klang in anderen Umgebungen
    Die politische Situation in Israel schimmert auch in Texten durch, die eigentlich gar nicht politisch sind. In einem Gedicht von Yael Globerman geht es um eine Frau, die von ihrem Liebhaber verlassen wurde. In ihrer Gedankenwelt türmen sich Sandsackbarrikaden mit Schießscharten auf.
    "Ich weiß nicht, ob ich diese Sprachbilder auch benutzen würde, wenn ich woanders leben würde. Aber ich bin nun mal in Israel aufgewachsen. Seit meiner Kindheit hat es alle sechs Jahre einen Krieg gegeben. Daher sind kriegerische Metaphern für mich etwas ganz Normales. Wenn ich in Israel wäre, würde ich sie nie hinterfragen."
    Beim Poesiefestival in Berlin hingegen schon. Gedichte verändern ihren Klang, wenn sie in einer anderen Umgebung vorgetragen werden - und in einer anderen Sprache erst recht. Davon kann sich das Publikum heute Abend in Berlin überzeugen. Alle Gedichte werden auf Hebräisch und Deutsch zu hören sein.