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Polens neue Ostpolitik

In den EU-Mitgliedsstaaten, vor allem in den westlichen, wächst der Widerstand gegen neue Erweiterungsrunden. Die deutschen Sozialdemokraten in Straßburg fordern sogar einen befristeten Aufnahmestopp. Ganz anders die Stimmung in Warschau: Die Polen verfolgen beim Thema EU-Erweiterung seit geraumer Zeit eine eigene Linie, gerade mit Blick auf die Ukraine. Dazu unsere Europa-Kolumne von Gerhard Gnauck, Korrespondent der Tageszeitung "Die Welt" in Warschau.

    Das Dilemma hatten viele erwartet: Die Europäische Union nimmt in Mittel-Osteuropa neue Mitglieder auf - und sofort meldet sich ein neuer Gürtel von Staaten, die ebenfalls in die Gemeinschaft streben. In der erweiterten EU sinkt derweil die Bereitschaft, weitere Kandidaten hineinzulassen. Doch wer draußen bleiben muss, bekommt im eigenen Haus innenpolitische und wirtschaftliche Instabilität, die dann wiederum der EU Probleme bereitet. Was soll die Gemeinschaft im Osten tun? Wird sie gleichsam Opfer ihres eigenen Erfolgs?

    Polens neuer Präsident Lech Kaczynski hat dieses Dilemma bei seinem Besuch in Berlin vorige Woche beim Namen genannt. Sein Wunsch lautet: Polens größter unmittelbarer Nachbar, die Ukraine, solle "schnellstmöglich" in die EU aufgenommen werden. Kaczynski weiter: "Ich weiß, dass Polen dabei einiges an finanziellen Mitteln verlieren würde. Aber man kann nicht auf eine Straßenbahn aufspringen und zugleich andere daran zu hindern versuchen."

    Diese Worte werfen ein Schlaglicht auf das, was man in Polen als die künftige "neue Ostpolitik" oder die "östliche Dimension" der EU bezeichnet. Es ist unter Polens Politikern und Eliten Konsens, dass diese neue Ostpolitik der wichtigste Beitrag des Landes zur europäischen Außenpolitik sein sollte. Woher kommt diese Idee?

    Werfen wir einen Blick zurück. Polen war bis ins 18. Jahrhundert im Grunde ein Vielvölkerstaat, in der Lubliner Union mit dem damals weit nach Osten ausgreifenden Litauen verbunden. Im 20. Jahrhundert haben sich die Völker dieses Raumes heftig bekämpft, bis sie sich alle unter der Herrschaft des Sowjetkommunismus wiederfanden. Schon damals haben polnische Bürgerrechtler gefordert, ein freies Polen müsse in der Zukunft seine nach Westen verschobene Ostgrenze anerkennen, historische Streitigkeiten und Minderheitenfragen gütlich regeln, mit seinen Nachbarn im Osten die engstmögliche Zusammenarbeit pflegen. Seit 1989 arbeitet Warschau an der Verwirklichung dieser Vision. Selbst Papst Johannes Paul II. warb für Polens EU-Beitritt mit den Worten: "Von der Lubliner Union zur Europäischen Union".

    Heute ist Polen in einer ähnlichen Lage wie Deutschland vor 15 Jahren: Es hofft darauf, den Raum der Stabilität, der demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen weiter nach Osten ausdehnen zu können. Doch die Lage ist in diesem Fall komplizierter: Die baltischen Staaten sind zwar bereits EU-Mitglieder. Doch das benachbarte Weißrussland wird autoritär regiert; die EU versucht, darauf vorsichtig mit Strafmaßnahmen gegen das Regime zu reagieren. Weiter im Süden folgt die Ukraine, die mit der "orangenen Revolution" einen wichtigen Schritt Richtung Westen getan hat.

    Doch in den alten EU-Staaten ist man zögerlich, der Ukraine eine Beitrittsperspektive zu geben. Allenfalls bescheidene Unterstützung für den Reformprozess hat Brüssel angekündigt; man verhandelt über Visa-Erleichterungen für Studenten und Geschäftsleute, auch hat Brüssel die Wirtschaft der Ukraine als Marktwirtschaft anerkannt. In Polen dagegen wird argumentiert, nur eine klare Perspektive werde die Ukrainer mobilisieren, anstrengende Reformen zu unternehmen.

    Das Fazit? Auch die neue Ostpolitik folgt den Regeln der Kunst des Möglichen. Doch sie braucht auch eine Vision, wie sie Polen aus unmittelbarer Erfahrung beisteuern kann. Letztlich kann die EU nur jenen helfen, die in der Lage sind, sich selbst zu helfen. Am nächsten Sonntag sind Wahlen in Weißrussland, eine Woche später in der Ukraine. Der Verlauf der Wahlen und ihre Ergebnisse werden einen Anhaltspunkt dafür geben, wohin sich die beiden Nachbarstaaten der Europäischen Union bewegen wollen. Darauf muss Brüssel reagieren.