"O meine Freunde, es gibt keinen Freund", dieser Satz wird in dem jetzt vorliegenden Essay auf nahezu 500 Seiten in all seinen Bedeutungsaspekten durchkonjugiert und -dekliniert, und dennoch versichert der Autor, daß es sich nur um ein langes Vorwort, eher die Vorbemerkung zu einem Buch handelt, das er zu einem späteren Zeitpunkt vorzulegene hofft. In zehn Kapiteln wird das Thema umkreist, eingekreist, zögert Derrida immer wieder eine definitive, letzte Antwort, eine Entscheidung der Problematik hinaus, um ein weites Feld von Aporien zu entfalten.
Worum geht es dann in dieser langen Vorbereitung einer Fragestellung, die gleichermaßen der philosophischen Thematik der Freundschaft und ihrer politischen Implikationen gilt? Zunächst einmal ist festzuhalten, daß es sich bei dem Satz "O Freunde, es gibt keinen Freund", den Derrida zu Beginn eines jeden Kapitels wie ein Motto aufgreift, um ein Zitat handelt. Derrida bezieht sich dabei auf Montaignes Essai "Über die Freundschaft", der seinerseits mit diesem Ausspruch Aristoteles zitiert, dessen Diktum eigentlich nur in der spätantiken Version der "Leben und Meinungen berühmter Philosophen" von Diogenes Laertius überliefert ist. Wer also spricht? Diese Aporie, diese Weg- oder Steglosigkeit, die den Leser verwirren muß, ist aber gerade beabsichtigt. Derrida geht es nicht darum, eine urprüngliche Autorschaft zu restituieren, sondern diese "Abgründe der Zurechenbarkeit" in einem historischen Parcours auszuloten. Er führt mitten hinein in die grundlegende abendländische Problematik der Freundschaft als Frage einer Rückbindung an das Politische, den Staat, die Familie und den thematischen Komplex der Abstammung sowie des Geschlechts.
Der Satz des Aristoteles, der von Diogenes Laertius überliefert, von Montaigne zitiert und von Derrida als gleichsam geflügeltes Wort am Ende einer langen Kette von tradierten Wiederholungen aufgegriffen wird, markiert dennoch so etwas wie einen Weg. Er geleitet über die Abgründe, Verirrungen, Verwerfungen, die sich für Derrida aus der ursprünglichen doppelsinnigen Einsicht ergeben, daß nämlich Freundschaft immer eine aufgegebene Möglichkeit bleibt, die andererseits erst in actu, d. h. im Zeugnis realer Ereignisse bekundet wird. Insofern bezieht er sich auf die verschiedenen seit Platon und Aristoteles versuchten Bestimmungen des Begriffs der Freundschaft, um sie hinsichtlich der Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu hinterfragen.
Auf diesem Wege streift Derrida in der Nachfolge zur neuzeitlichen Rezeption der Renaissance des aristotelischen Satzes durch Montaigne vor allem die Wegmarken der kantischen Ethik, der Umwertung aller Werte durch Nietzsche und Freud, um sich im 20. Jahrhundert auf die totalitären oder dezisionistischen Ansätze von Carl Schmitts "Theorie des Politischen" und Heideggers Fundamentalonotologie zu konzentrieren. Dabei steht Derridas thematisches Interesse nicht allein. Das Thema der Freundschaft erfreut sich gerade in der neueren französischen Philosohie einer besonderen Beliebtheit. Derrida bezieht sich selbst auf die Beispiele von Blanchots und Foucaults Überlegungen zur Freundschaft. Was aber die Aktualität der Fragestellung betrifft, so ist hier vor allem das politische Dilemma des s. g. Postkommunismus kennzeichnend, das Derrida bereits in seinem Marx-Buch aufgegriffen hatte. Mit dem Fall des Eisernen Vorhanges sind die Kategorien der politischen Freundschaft zusammen mit ihrem konstitutiven Gegensatz der politischen Feindschaft ins Wanken geraten. In letzter Konsequenz läßt sich also das "O Freunde, es gibt keinen Freund" auch in die Frage nach dem Freund angesichts der verloren gegangenen Position des Feindes übersetzen, wie sie gerade die gegenwärtige politische Diskussion um die Definition s. g. "Schurkenstaaten" oder geopolitischer "Problemzonen" deutlich beherrscht. Aber zurück zu den Anfängen, die für Derrida wie immer in der griechischen Antike zu suchen sind. Der Kontext, in dem sich so etwa wie Freundschaft abzeichnet, ist ein ökonomischer - im ursprünglichen Sinne des Wortes. Der
"oikos", die Häuslichkeit, das Beisich- oder Zuhause-Sein bereitet der Erscheinung des Freundes ihren Ort, der aber auch zu einem solchen der gespenstischen Wiederkehr werden kann. Zwei Erscheinungsweisen sind nämlich von Anfang an für den Freund charakteristisch: In seiner Funktion als idealer Doppelgänger kann er als dasselbe und das andere auftauchen. Derrida erinnert in diesem Zusammenhang an die Etymologie des Wortes "Modell", das Original und Kopie bedeutet und in dieser exemplarischen Funktion sowohl Anlaß zu einer Freundschaft als Gedenken, als Gedächtnis oder Grabrede auf das abwesende Original wie zu einer Freundschaft als Bündnis oder Verwandschaft mit einem ererbten Ideal bieten kann. Die Frage ist dabei nicht nur, was ein Freund ist, sondern auch wer ein Freund ist. Und schon hier offenbart sich eine entscheidende Grenze, nämlich die zwischen Liebe und Freundschaft, die gleichermaßen für das Verhältnis des Ähnlichen und des Unähnlichen zu gelten scheint.
Damit wird auch schon die Dimension des Politischen in der Freundschaft berührt, deren Existenz oder "Werk"-charakter im antiken Denken immer auf eine Aktivität verweist. Der Freund ist der, der liebt, bevor er zum Geliebten wird, er bestimmt sich nicht als das Liebenswerte, sondern die Freundschaft erschließt sich im griechischen Sinne der "philia" von Subjekt her als aktives Lieben und in diesem Sinne als politischer Akt der Herstellung von Freundschaft:
"Der eigentliche politische Akt oder die eigentliche politische Handlung bestehen darin, soviel Freundschaft wie möglich zu stiften (hervorzubringen, herzustellen etc.). [...] Freundschaft, nicht wah, besteht darin zu lieben, sie ist fraglos eine Weise des Liebns. Konsequenz, Implikation: Sie ist ein Akt, bevor sie eine Situation ist, der Akt dessen, der liebt, eher und früher als der Zustand dessen, der geliebt wird. Zuerst eine Handlung, erst dann eine Passion."
In der Freundschaft wird also bewußt die Dimension des geliebten Gegenstandes ausgeblendet und vielmehr ein Kult der "energeia", des energetischen Prinzips betrieben. Derrida bemerkt daher schon hier, daß die abendländische Verständnisweise von Freundschaft einer androzentrischen Struktur gehorcht: das Modell des Freundes ist der Bruder, d. h. der andere Mann unter Auschluß der Frau, der Schwester. Mit der Fixierung auf den Wert der Aktivität kommt aber eine Zeitstruktur ins Spiel, die das Vertrauen, die Treue, den Glauben und das Zutrauen, den Kredit einem ständigen Prozeß der Probe unterwirft. Das männliche Modell aktiv liebender Feundschaft muß sich der Entscheidung in der Prüfung stellen, ohne eine letzte Gewißheit zu verbürgen. Schon hier zeigt sich die grundlegende Aporie der Freundschaft als bleibende Möglichkeit, die sich dennoch nur in actu, d. h. in der konkreten Situation unter Beweis stellt, die per definitionem etwas anderes als reine Möglichkeit ist. Derrida konstatiert dies als Übergang zwischen zwei grundsätzlich heterogenen Ordnungen, einerseits der Berechenbarkeit einer Gewißheit und andererseits einer Ungewißheit des Vertrauens oder des Glaubens:
"Den Übergang von der gesicherten Gewißheit und berechenbaren Zuverlässigkeit zur Verläßlichkeit und Glaubwürdigkeit des Schwurs, des Gelübdes, des Glaubensaktes. Letzterer gehört dem Unberechenbaren der Entscheidung an, er muß ihm angehören. Denn dieser Bruch mit der berechenbaren Zuverlässigkeit, den Sicherheiten der Gewißheit, und das heißt in Wahrheit: dieser Bruch mit dem Wissen wird, und das wissen wir, von der Struktur des Vertrauens oder des Glaubens als Glaube selbst vorgeschrieben." Andererseits wohnt schon dem immer wieder zitierten, Aristoteles zugeschriebenen Ausspruch: "O Freunde, es gibt keinen Freund" ein performativer Widerspruch inne. Die Anrede "O Freunde" appelliert an das, was die Konstatierung: "es gibt keinen Freund" in Abrede stellt. Derrida sieht daher in dieser Aussage eher einen Appellcharakter am Werk, der das beschwört, was er als nicht gegeben bemerkt. Die latente Botschaft ist für ihn folglich eine Aufgegebenheit, die Anrufung eines "vielleicht" als Möglichkeit eines kommenden Freundes, den es hervorzubringen gilt. Die konstative Verneinung eröffnet also performativ, als Äußerung eines Wunsches, die Chance einer Gabe, die jenseits der Berechenbarkeit dem Ankommen des Freundes im Glauben Raum gibt. Diese Denkbewegung ist bei Derrida nicht neu, steht doch schon seit geraumer Zeit sein Werk im Zeichen dieser unablässigen Hinterfragung des Phänomens der Gabe, die sich als Gabe nur ereignet, wenn sie nicht dem Gesetz des Tausches, der Wiedergabe, der Berechenbarkeit durch eine äquivalente Ökonomie untersteht.
Zentral hat Derrida diese Figur in seinem Buch "Falschgeld - Zeit geben I" anläßlich einer Erzählung Baudelaires untersucht, in der zwei Freunde beim Verlassen eines Tabakladens mit einem Bettler konfrontiert werden. Einer der Freunde gibt ein reichliches Almosen mit dem zynischen Hinweis, daß es sich um in falsches Geldstück handelt, das jedoch gleichermaßen den Empfänger mit einem unverhofften Glückssegen beschenken wie ihn ins Unglück stürzen kann. Dieses Spiel mit dem Glücks- oder Zufall nimmt Derrida zum Anlaß einer generellen Infragestellung der Intention des Schenkens, die sich gerade da widerspricht, wo sie auf ein Ergebnis, ein Resultat oder ein Ergebnis, und sei es in Form von Dankbarkeit oder Erwiderung, spekuliert. Die reine Gabe ist intentionslos, ohne Kalkül und vor allem ohne Wahrung oder Währung der Gabe, die man gibt: kurzum die reine Verausgabung.
Übertragen auf die Freundschaft heißt dies, daß auch das Geschenk der liebenden Freundschaft dieser Aporie der Gabe ausgeliefert ist. Reine Freundschaft bewahrt sich allein jenseits der Verpflichtung zur Gegengabe, d. h. im Schweigen zwischen den Freunden, einer Gemeinschaft ohne Zwang zur Einbekenntnis der Gemeinschaft, einer verstohlenen, verschwiegenen Gemeinschaft, wie Derrida es mit Blanchot formuliert. Das Ideal der möglichen Freundschaft gipfelt also in einer Liebe, die der Habsucht des Besitzes enträt und vor allem mit einer Konsequenz des Äquivalenzprinzips bricht, nämlich der Verbindung von Recht und Rache, wie sie Nietzsche analysiert hat:
"Mit jener Äquivalenz von gerecht und gerächt, deren nietzscheanische Genealogie uns unermüdlich daran erinnert hat, daß sie der tiefste Beweggrund der Moral und des Rechts war, deren Erben wir sind. Wie könnte eine Gleichheit, wie könnte eine Gerechtigkeit und Angemessenheit aussehen, die nicht länger eine Berechnung dieser Äquivalenz, oder ganz einfach: keine Berechnung mehr wäre? Die über das Gleichmaß und die Verhältnismäßigkeit, über die Aneignung hinausginge und so jede Wiederaneignung des Eigenen überschritte? Zweifellos würde diese Enteignung in die Richtung jener anderen "Liebe" weisen, von der Nietzsche zuletzt behauptet: "Ihr wahrer Name ist Freundschaft". Diese Freundschaft wäre eine Art Liebe, aber eine , die liebender ist als die Liebe."
Diese andere Liebe der Freundschaft stellt also nicht den Normalfall sozialer Beziehung dar, sondern ereignet sich in einer Folge von wiederkehrenden Zufällen, ja Unfällen. Sie verdankt sich mithin dem "Ausnahmezustand", in dem sich der Freund als anderer, als absolut anderer in einer Weise offenbart, die zugleich zur Begegnung mit dem "absolut anderen in mir" wird. Damit wird der Grundtenor von Derridas Politik der Freundschaft deutlich. Ihm ist nicht an einer Sozialphilosophie oder gar -psychologie freundschaftlicher Neigungen gelegen, sondern: was dieses ständige Heraufbeschwören von Widersprüchen, Problemen und Aporien vorantreibt, ist die Suche nach einem radikalen ethischen Grund der Freundschaft als politischer Kraft jenseits eines subjektiven Selbstbewußtseins und einer kommunikativen Verständigung darüber, was Gemeinschaft sei. Und zugleich will Derrida mit seiner gründlichen Lektüre der antiken Quellen keinen philologischen Beitrag zur Bedeutung der Freundschaft in Athen oder Rom leisten. Es geht um die Erneuerung eines alten politischen Gedankens und zugleich um das paradoxe Bewußtsein, daß, soehr es der Freundschaft von jeher bedurfte, es schon immer keinen Freund gab, jedenfalls nicht im Sinne einer berechenbaren, abgesicherten Gegebenheit.
Wenn Derrida daher mit Blick auf die Gegenwart zu den Hamlet-Worten von einer Zeit greift, die aus den Fugen geraten ist, so intendiert er keine Diagnose einer Verfallsgeschichte. Im Gegenteil: Die Zeit ist schon immer aus den Fugen geraten, wo es um die reine Gegenwärtigkeit von Entscheidungen wie absoluter Freundschaft oder Gabe geht. Natürlich liegt es nahe, angesichts der globalen Umwälzungen der sozialen Verhältnisse ein Schwinden der Gemeinschaft, einen Mangel an echter Freundschaft zu beklagen. Aber diese Klage ist so alt wie das politische Denken. Das will Derrida mit seine ständigen Wiederholung des aristotelischen Satzes sagen; die Erschütterung des Sicherheitsgefühls von Freundschaft und Gemeinschaft stößt uns nicht von außer her zu, sondern sie kommt von innen, ist in uns:
"Wir gehören der Zeit dieser Umwälzung an - die nichts anderes ist als eine ungeheure Erschütterung der Struktur oder der Erfahrung der Angehörigkeit und Zugehörigkeit selbst. Also des Eigenen, der miteinander geteilten Eigenschaften, der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft: Religionsgemeinschaft, Familie, Ethnie, Nation, Heimatland, Vaterland, Staat, die Menschheit selbst, das öffentliche oder private Lieben aus Liebe oder Freundschaft. Wir sind, falls dergleichn möglich ist, Teil dieser Eschütterung, wir zittern nicht sowohl vor, als vielmehr in ihr, sie geht durch uns hindurch, sie durchdringt und duchfährt uns."
Vor dem Hintergrund dieses im wahrsten Sinne des Wortes radikalen Geltungsanspruches scheut sich Derrida auch nicht, ein Ideal von Demokratie zu formulieren, das auf seinem Gedanken der Dekonstruktion basiert. Er, der sich jahrzehntelang dem Vorwurf ausgesetzt sah, daß sein Denken unpolitisch sei, dreht nun gewissermaßen den Spieß um und konstatiert, daß sein methodologisches Vorgehen des Fragens, des Auflösens vertrauter und verbürgter Sinnzusammenhänge immer schon politisch war. Und zwar nicht nur politisch, sondern zutiefst demokratisch: "keine Dekonstruktion ohne Demokratie, keine Demokratie ohne Dekonstruktion". Auch dieses Verständnis von Demokratie ist natürlich ein radikales, auf die Kraft des Herstellens durch Entscheidung gegründetes und kann sich also nicht auf die Sicherheit von Verfassungen und staatlichen Garantien berufen. Zugrunde liegt ihm der Gedanke der Veratwortung, wie ihn Derrida schon früher in aller Unbedingtheit ausgeführt hat, nämlich als ein Aufgerufensein dazu, dem anderen Rede und Antwort zu stehen, und zwar im unvorhersehbaren Augenblick des Anspruchs. Diese Verantwortung steht also im bewußten Gegensatz zu einer komplexitätsreduzierenden Delegation an Rechts- oder Überwachungssysteme politischer Gemeinschaften. Sie appelliert vielmehr an ein inneres, jeden betreffendes Recht auf die Frage, die Kritik, die Dekonstruktion, das aber auch eine Pflicht impliziert, sich dieser Grenze zwischen dem Bedingten und dem Unbedingten auszusetzen:
"Es ist diese Grenze, die dem Motiv der Demokratie selbst, seit den Anfängen, eine selbstdekonstruktive Kraft einbeschrieben hat: Die Möglichkeit, ja die Pflicht der Demokratie, sich selbst zu de-limitieren: ihre Grenzen nicht sowohl festzusetzen und aufzuzeigen als vielmehr auszusetzen, zu ent-grenzen."
Dieses ephatische Verständnis von Demokratie, das im Moment des nicht-berechenbaren, nur auf Vertrauen und Glauben gegründeten Ereignisses mit dem Gedanken der Freundschaft zusammenhängt, setzt nun Derrida selbst einer äußersten Grenze aus, indem er es mit der Idee des Politischen bei Carl Schmitt konfrontiert. Derrida ist sich bewußt, damit ein Beispiel gewählt zu haben, das durch die unbestrittene Nähe von Carl Schmitt zum Nationalsozialismus äußerst belastet ist. Was ihn aber an Schmitts Begriff des Politischen trotz seines "erbittert konservativen", ja "reaktiv traditionalistischen" Gehaltes interessiert, ist seine Rückbindung an die Vorstellung des Feindes und an die Möglichkeit des Krieges. Für Schmitt ist das Politische undenkbar ohne die wechselseitig sich bestimmenden Gegensätze von Freund und Feind. Wo sich kein Feind mehr identifizieren läßt, kommt es zu einer poliischen Orientierungslosigkeit, die erst wieder Handlungsfähigkeit gewinnt, wenn ein neuer Feind gefunden oder besser erfunden ist.
Zur Bestimmung dieser Position des Feindes bedarf es aber der prinzipiellen Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit ihm in Form des potentiellen Krieges. Schmitt unterscheidet hier in griechischer Tradition zwischen Krieg im eigentlichen Sinne und der Zwietracht als innerer Aufruhr oder Bürgerkrieg. Nur in ersterem sieht er aber die Kategorie des Feindes als immer äußeren Feindes makiert, während die Binnenordnung von einer Gleichheit der Brüder - und natürlich wieder nicht Schwestern - beherrscht wird. Hier setzt Derrida mit seinem Bedenken an, das an die ständige Abgrenzung des Politischen und des Demokratischen auch nach innen hin gemahnt. Die Ausdifferenzierung des Freund-Feind-Schemas geschieht schon in der ursprünglichen Form des Bruderzwistes, der Möglichkeit, den anderen zu töten, und der Außerkraftsetzung dieser Möglichkeit durch Liebe und Freundschaft. Die Vorhandenheit des Krieges als reale Möglichkeit sieht Derrida schon in dem gegeben, was er mit Freud den "Todestrieb" nennt, dessen Kraft sich im Ausnahmefall des Kampfes und der Tötung offenbart. Für Derrida erschließt sich - im Sinne einer unübersehbaren jüdischen Tradition - die radikale Form einer absoluten Feindschaft nur für bzw. gegenüber dem Bruder. Diese von Schmitt ausgeschlossene Form innerer Feindschaft sieht Derrida zugleich in dessen Denken in Gestalt des Partisanen wiederkehren. Und als solche ist es eine gespenstische Wiederkehr der Überschreitung von Regeln und Grenzen des Kampfes, die Derrida zugleich in Verbindung bringt mit einem Anwachsen des Technischen im Krieg, vor allem einer wachsenden Geschwindigkeit durch Motorisierung. Diese Frage der Technik, die Derrida mit dem durchaus ähnlich wie Carl Schmitt denkenden Heidegger stellt, betrifft eine neue Erfahrung des Ortes im Sinne einer Entortung der Positionen von Freund und Feind. Diese Probleme werden aber bei Schmitt gerade nicht aufgegriffen bzw. durch einen Rückbezug auf die tellurischen Kräfte der Erde umgangen, die aber nur das Wiedergängertum gespenstischer Formen von Freund und Feind verstärken.
Was aber ist dann die Freundschaft, wenn es denn - in der konjunktivischen Formen eines "vielleicht" - Freunde gibt? Die Ökonomie der Gabe der Freundschaft ist beherrscht von der tragischen Struktur im Innern der Brüderlichkeit, die nahezu schizophrene Zerrissenheit eines Doppelgängertums, die unhintergehbar ist. Aus ihr ist auch - zumindest im abendländischen philosophischen Diskurs - das versöhnende Moment der Schweser ausgeschlossen, wie es in der Dichtung z. B. im Motiv der Antigone zum Tragen kommt. Eine anökonomische Freundschaft hingegen wäre ein solche, die nicht auf Berechnung aus ist, aber auch nicht den Anruf durch die Stimme des Freundes in den inneren Ruf des Gewissens aufhebt, wie Derrida es Heidegger vorwirft. Es kommt letztlich darauf an, dem unverfügbaren Kommen der Freundschaft einen Raum einzuräumen, einen Raum, der nicht auf Gewißheit, sondern auf Vertrauen gegründet ist. Und in diesem Sinne zeugt auch die Politik der Freundschaft von der Ankunft der Demokratie: "Denn die Demokratie bleibt künftig, bleibt im Kommen. bleibt, indem sie kommt, das ist ihr Wesen, sofern sie bleibt: [...] Ist es möglich, die Offenheit für das "Komm" einer bestimmten Demokratie zu eröffnen und offenzuhalten, die nicht länger ein Hohn auf jene Freundschaft wäre ?
Worum geht es dann in dieser langen Vorbereitung einer Fragestellung, die gleichermaßen der philosophischen Thematik der Freundschaft und ihrer politischen Implikationen gilt? Zunächst einmal ist festzuhalten, daß es sich bei dem Satz "O Freunde, es gibt keinen Freund", den Derrida zu Beginn eines jeden Kapitels wie ein Motto aufgreift, um ein Zitat handelt. Derrida bezieht sich dabei auf Montaignes Essai "Über die Freundschaft", der seinerseits mit diesem Ausspruch Aristoteles zitiert, dessen Diktum eigentlich nur in der spätantiken Version der "Leben und Meinungen berühmter Philosophen" von Diogenes Laertius überliefert ist. Wer also spricht? Diese Aporie, diese Weg- oder Steglosigkeit, die den Leser verwirren muß, ist aber gerade beabsichtigt. Derrida geht es nicht darum, eine urprüngliche Autorschaft zu restituieren, sondern diese "Abgründe der Zurechenbarkeit" in einem historischen Parcours auszuloten. Er führt mitten hinein in die grundlegende abendländische Problematik der Freundschaft als Frage einer Rückbindung an das Politische, den Staat, die Familie und den thematischen Komplex der Abstammung sowie des Geschlechts.
Der Satz des Aristoteles, der von Diogenes Laertius überliefert, von Montaigne zitiert und von Derrida als gleichsam geflügeltes Wort am Ende einer langen Kette von tradierten Wiederholungen aufgegriffen wird, markiert dennoch so etwas wie einen Weg. Er geleitet über die Abgründe, Verirrungen, Verwerfungen, die sich für Derrida aus der ursprünglichen doppelsinnigen Einsicht ergeben, daß nämlich Freundschaft immer eine aufgegebene Möglichkeit bleibt, die andererseits erst in actu, d. h. im Zeugnis realer Ereignisse bekundet wird. Insofern bezieht er sich auf die verschiedenen seit Platon und Aristoteles versuchten Bestimmungen des Begriffs der Freundschaft, um sie hinsichtlich der Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu hinterfragen.
Auf diesem Wege streift Derrida in der Nachfolge zur neuzeitlichen Rezeption der Renaissance des aristotelischen Satzes durch Montaigne vor allem die Wegmarken der kantischen Ethik, der Umwertung aller Werte durch Nietzsche und Freud, um sich im 20. Jahrhundert auf die totalitären oder dezisionistischen Ansätze von Carl Schmitts "Theorie des Politischen" und Heideggers Fundamentalonotologie zu konzentrieren. Dabei steht Derridas thematisches Interesse nicht allein. Das Thema der Freundschaft erfreut sich gerade in der neueren französischen Philosohie einer besonderen Beliebtheit. Derrida bezieht sich selbst auf die Beispiele von Blanchots und Foucaults Überlegungen zur Freundschaft. Was aber die Aktualität der Fragestellung betrifft, so ist hier vor allem das politische Dilemma des s. g. Postkommunismus kennzeichnend, das Derrida bereits in seinem Marx-Buch aufgegriffen hatte. Mit dem Fall des Eisernen Vorhanges sind die Kategorien der politischen Freundschaft zusammen mit ihrem konstitutiven Gegensatz der politischen Feindschaft ins Wanken geraten. In letzter Konsequenz läßt sich also das "O Freunde, es gibt keinen Freund" auch in die Frage nach dem Freund angesichts der verloren gegangenen Position des Feindes übersetzen, wie sie gerade die gegenwärtige politische Diskussion um die Definition s. g. "Schurkenstaaten" oder geopolitischer "Problemzonen" deutlich beherrscht. Aber zurück zu den Anfängen, die für Derrida wie immer in der griechischen Antike zu suchen sind. Der Kontext, in dem sich so etwa wie Freundschaft abzeichnet, ist ein ökonomischer - im ursprünglichen Sinne des Wortes. Der
"oikos", die Häuslichkeit, das Beisich- oder Zuhause-Sein bereitet der Erscheinung des Freundes ihren Ort, der aber auch zu einem solchen der gespenstischen Wiederkehr werden kann. Zwei Erscheinungsweisen sind nämlich von Anfang an für den Freund charakteristisch: In seiner Funktion als idealer Doppelgänger kann er als dasselbe und das andere auftauchen. Derrida erinnert in diesem Zusammenhang an die Etymologie des Wortes "Modell", das Original und Kopie bedeutet und in dieser exemplarischen Funktion sowohl Anlaß zu einer Freundschaft als Gedenken, als Gedächtnis oder Grabrede auf das abwesende Original wie zu einer Freundschaft als Bündnis oder Verwandschaft mit einem ererbten Ideal bieten kann. Die Frage ist dabei nicht nur, was ein Freund ist, sondern auch wer ein Freund ist. Und schon hier offenbart sich eine entscheidende Grenze, nämlich die zwischen Liebe und Freundschaft, die gleichermaßen für das Verhältnis des Ähnlichen und des Unähnlichen zu gelten scheint.
Damit wird auch schon die Dimension des Politischen in der Freundschaft berührt, deren Existenz oder "Werk"-charakter im antiken Denken immer auf eine Aktivität verweist. Der Freund ist der, der liebt, bevor er zum Geliebten wird, er bestimmt sich nicht als das Liebenswerte, sondern die Freundschaft erschließt sich im griechischen Sinne der "philia" von Subjekt her als aktives Lieben und in diesem Sinne als politischer Akt der Herstellung von Freundschaft:
"Der eigentliche politische Akt oder die eigentliche politische Handlung bestehen darin, soviel Freundschaft wie möglich zu stiften (hervorzubringen, herzustellen etc.). [...] Freundschaft, nicht wah, besteht darin zu lieben, sie ist fraglos eine Weise des Liebns. Konsequenz, Implikation: Sie ist ein Akt, bevor sie eine Situation ist, der Akt dessen, der liebt, eher und früher als der Zustand dessen, der geliebt wird. Zuerst eine Handlung, erst dann eine Passion."
In der Freundschaft wird also bewußt die Dimension des geliebten Gegenstandes ausgeblendet und vielmehr ein Kult der "energeia", des energetischen Prinzips betrieben. Derrida bemerkt daher schon hier, daß die abendländische Verständnisweise von Freundschaft einer androzentrischen Struktur gehorcht: das Modell des Freundes ist der Bruder, d. h. der andere Mann unter Auschluß der Frau, der Schwester. Mit der Fixierung auf den Wert der Aktivität kommt aber eine Zeitstruktur ins Spiel, die das Vertrauen, die Treue, den Glauben und das Zutrauen, den Kredit einem ständigen Prozeß der Probe unterwirft. Das männliche Modell aktiv liebender Feundschaft muß sich der Entscheidung in der Prüfung stellen, ohne eine letzte Gewißheit zu verbürgen. Schon hier zeigt sich die grundlegende Aporie der Freundschaft als bleibende Möglichkeit, die sich dennoch nur in actu, d. h. in der konkreten Situation unter Beweis stellt, die per definitionem etwas anderes als reine Möglichkeit ist. Derrida konstatiert dies als Übergang zwischen zwei grundsätzlich heterogenen Ordnungen, einerseits der Berechenbarkeit einer Gewißheit und andererseits einer Ungewißheit des Vertrauens oder des Glaubens:
"Den Übergang von der gesicherten Gewißheit und berechenbaren Zuverlässigkeit zur Verläßlichkeit und Glaubwürdigkeit des Schwurs, des Gelübdes, des Glaubensaktes. Letzterer gehört dem Unberechenbaren der Entscheidung an, er muß ihm angehören. Denn dieser Bruch mit der berechenbaren Zuverlässigkeit, den Sicherheiten der Gewißheit, und das heißt in Wahrheit: dieser Bruch mit dem Wissen wird, und das wissen wir, von der Struktur des Vertrauens oder des Glaubens als Glaube selbst vorgeschrieben." Andererseits wohnt schon dem immer wieder zitierten, Aristoteles zugeschriebenen Ausspruch: "O Freunde, es gibt keinen Freund" ein performativer Widerspruch inne. Die Anrede "O Freunde" appelliert an das, was die Konstatierung: "es gibt keinen Freund" in Abrede stellt. Derrida sieht daher in dieser Aussage eher einen Appellcharakter am Werk, der das beschwört, was er als nicht gegeben bemerkt. Die latente Botschaft ist für ihn folglich eine Aufgegebenheit, die Anrufung eines "vielleicht" als Möglichkeit eines kommenden Freundes, den es hervorzubringen gilt. Die konstative Verneinung eröffnet also performativ, als Äußerung eines Wunsches, die Chance einer Gabe, die jenseits der Berechenbarkeit dem Ankommen des Freundes im Glauben Raum gibt. Diese Denkbewegung ist bei Derrida nicht neu, steht doch schon seit geraumer Zeit sein Werk im Zeichen dieser unablässigen Hinterfragung des Phänomens der Gabe, die sich als Gabe nur ereignet, wenn sie nicht dem Gesetz des Tausches, der Wiedergabe, der Berechenbarkeit durch eine äquivalente Ökonomie untersteht.
Zentral hat Derrida diese Figur in seinem Buch "Falschgeld - Zeit geben I" anläßlich einer Erzählung Baudelaires untersucht, in der zwei Freunde beim Verlassen eines Tabakladens mit einem Bettler konfrontiert werden. Einer der Freunde gibt ein reichliches Almosen mit dem zynischen Hinweis, daß es sich um in falsches Geldstück handelt, das jedoch gleichermaßen den Empfänger mit einem unverhofften Glückssegen beschenken wie ihn ins Unglück stürzen kann. Dieses Spiel mit dem Glücks- oder Zufall nimmt Derrida zum Anlaß einer generellen Infragestellung der Intention des Schenkens, die sich gerade da widerspricht, wo sie auf ein Ergebnis, ein Resultat oder ein Ergebnis, und sei es in Form von Dankbarkeit oder Erwiderung, spekuliert. Die reine Gabe ist intentionslos, ohne Kalkül und vor allem ohne Wahrung oder Währung der Gabe, die man gibt: kurzum die reine Verausgabung.
Übertragen auf die Freundschaft heißt dies, daß auch das Geschenk der liebenden Freundschaft dieser Aporie der Gabe ausgeliefert ist. Reine Freundschaft bewahrt sich allein jenseits der Verpflichtung zur Gegengabe, d. h. im Schweigen zwischen den Freunden, einer Gemeinschaft ohne Zwang zur Einbekenntnis der Gemeinschaft, einer verstohlenen, verschwiegenen Gemeinschaft, wie Derrida es mit Blanchot formuliert. Das Ideal der möglichen Freundschaft gipfelt also in einer Liebe, die der Habsucht des Besitzes enträt und vor allem mit einer Konsequenz des Äquivalenzprinzips bricht, nämlich der Verbindung von Recht und Rache, wie sie Nietzsche analysiert hat:
"Mit jener Äquivalenz von gerecht und gerächt, deren nietzscheanische Genealogie uns unermüdlich daran erinnert hat, daß sie der tiefste Beweggrund der Moral und des Rechts war, deren Erben wir sind. Wie könnte eine Gleichheit, wie könnte eine Gerechtigkeit und Angemessenheit aussehen, die nicht länger eine Berechnung dieser Äquivalenz, oder ganz einfach: keine Berechnung mehr wäre? Die über das Gleichmaß und die Verhältnismäßigkeit, über die Aneignung hinausginge und so jede Wiederaneignung des Eigenen überschritte? Zweifellos würde diese Enteignung in die Richtung jener anderen "Liebe" weisen, von der Nietzsche zuletzt behauptet: "Ihr wahrer Name ist Freundschaft". Diese Freundschaft wäre eine Art Liebe, aber eine , die liebender ist als die Liebe."
Diese andere Liebe der Freundschaft stellt also nicht den Normalfall sozialer Beziehung dar, sondern ereignet sich in einer Folge von wiederkehrenden Zufällen, ja Unfällen. Sie verdankt sich mithin dem "Ausnahmezustand", in dem sich der Freund als anderer, als absolut anderer in einer Weise offenbart, die zugleich zur Begegnung mit dem "absolut anderen in mir" wird. Damit wird der Grundtenor von Derridas Politik der Freundschaft deutlich. Ihm ist nicht an einer Sozialphilosophie oder gar -psychologie freundschaftlicher Neigungen gelegen, sondern: was dieses ständige Heraufbeschwören von Widersprüchen, Problemen und Aporien vorantreibt, ist die Suche nach einem radikalen ethischen Grund der Freundschaft als politischer Kraft jenseits eines subjektiven Selbstbewußtseins und einer kommunikativen Verständigung darüber, was Gemeinschaft sei. Und zugleich will Derrida mit seiner gründlichen Lektüre der antiken Quellen keinen philologischen Beitrag zur Bedeutung der Freundschaft in Athen oder Rom leisten. Es geht um die Erneuerung eines alten politischen Gedankens und zugleich um das paradoxe Bewußtsein, daß, soehr es der Freundschaft von jeher bedurfte, es schon immer keinen Freund gab, jedenfalls nicht im Sinne einer berechenbaren, abgesicherten Gegebenheit.
Wenn Derrida daher mit Blick auf die Gegenwart zu den Hamlet-Worten von einer Zeit greift, die aus den Fugen geraten ist, so intendiert er keine Diagnose einer Verfallsgeschichte. Im Gegenteil: Die Zeit ist schon immer aus den Fugen geraten, wo es um die reine Gegenwärtigkeit von Entscheidungen wie absoluter Freundschaft oder Gabe geht. Natürlich liegt es nahe, angesichts der globalen Umwälzungen der sozialen Verhältnisse ein Schwinden der Gemeinschaft, einen Mangel an echter Freundschaft zu beklagen. Aber diese Klage ist so alt wie das politische Denken. Das will Derrida mit seine ständigen Wiederholung des aristotelischen Satzes sagen; die Erschütterung des Sicherheitsgefühls von Freundschaft und Gemeinschaft stößt uns nicht von außer her zu, sondern sie kommt von innen, ist in uns:
"Wir gehören der Zeit dieser Umwälzung an - die nichts anderes ist als eine ungeheure Erschütterung der Struktur oder der Erfahrung der Angehörigkeit und Zugehörigkeit selbst. Also des Eigenen, der miteinander geteilten Eigenschaften, der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft: Religionsgemeinschaft, Familie, Ethnie, Nation, Heimatland, Vaterland, Staat, die Menschheit selbst, das öffentliche oder private Lieben aus Liebe oder Freundschaft. Wir sind, falls dergleichn möglich ist, Teil dieser Eschütterung, wir zittern nicht sowohl vor, als vielmehr in ihr, sie geht durch uns hindurch, sie durchdringt und duchfährt uns."
Vor dem Hintergrund dieses im wahrsten Sinne des Wortes radikalen Geltungsanspruches scheut sich Derrida auch nicht, ein Ideal von Demokratie zu formulieren, das auf seinem Gedanken der Dekonstruktion basiert. Er, der sich jahrzehntelang dem Vorwurf ausgesetzt sah, daß sein Denken unpolitisch sei, dreht nun gewissermaßen den Spieß um und konstatiert, daß sein methodologisches Vorgehen des Fragens, des Auflösens vertrauter und verbürgter Sinnzusammenhänge immer schon politisch war. Und zwar nicht nur politisch, sondern zutiefst demokratisch: "keine Dekonstruktion ohne Demokratie, keine Demokratie ohne Dekonstruktion". Auch dieses Verständnis von Demokratie ist natürlich ein radikales, auf die Kraft des Herstellens durch Entscheidung gegründetes und kann sich also nicht auf die Sicherheit von Verfassungen und staatlichen Garantien berufen. Zugrunde liegt ihm der Gedanke der Veratwortung, wie ihn Derrida schon früher in aller Unbedingtheit ausgeführt hat, nämlich als ein Aufgerufensein dazu, dem anderen Rede und Antwort zu stehen, und zwar im unvorhersehbaren Augenblick des Anspruchs. Diese Verantwortung steht also im bewußten Gegensatz zu einer komplexitätsreduzierenden Delegation an Rechts- oder Überwachungssysteme politischer Gemeinschaften. Sie appelliert vielmehr an ein inneres, jeden betreffendes Recht auf die Frage, die Kritik, die Dekonstruktion, das aber auch eine Pflicht impliziert, sich dieser Grenze zwischen dem Bedingten und dem Unbedingten auszusetzen:
"Es ist diese Grenze, die dem Motiv der Demokratie selbst, seit den Anfängen, eine selbstdekonstruktive Kraft einbeschrieben hat: Die Möglichkeit, ja die Pflicht der Demokratie, sich selbst zu de-limitieren: ihre Grenzen nicht sowohl festzusetzen und aufzuzeigen als vielmehr auszusetzen, zu ent-grenzen."
Dieses ephatische Verständnis von Demokratie, das im Moment des nicht-berechenbaren, nur auf Vertrauen und Glauben gegründeten Ereignisses mit dem Gedanken der Freundschaft zusammenhängt, setzt nun Derrida selbst einer äußersten Grenze aus, indem er es mit der Idee des Politischen bei Carl Schmitt konfrontiert. Derrida ist sich bewußt, damit ein Beispiel gewählt zu haben, das durch die unbestrittene Nähe von Carl Schmitt zum Nationalsozialismus äußerst belastet ist. Was ihn aber an Schmitts Begriff des Politischen trotz seines "erbittert konservativen", ja "reaktiv traditionalistischen" Gehaltes interessiert, ist seine Rückbindung an die Vorstellung des Feindes und an die Möglichkeit des Krieges. Für Schmitt ist das Politische undenkbar ohne die wechselseitig sich bestimmenden Gegensätze von Freund und Feind. Wo sich kein Feind mehr identifizieren läßt, kommt es zu einer poliischen Orientierungslosigkeit, die erst wieder Handlungsfähigkeit gewinnt, wenn ein neuer Feind gefunden oder besser erfunden ist.
Zur Bestimmung dieser Position des Feindes bedarf es aber der prinzipiellen Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit ihm in Form des potentiellen Krieges. Schmitt unterscheidet hier in griechischer Tradition zwischen Krieg im eigentlichen Sinne und der Zwietracht als innerer Aufruhr oder Bürgerkrieg. Nur in ersterem sieht er aber die Kategorie des Feindes als immer äußeren Feindes makiert, während die Binnenordnung von einer Gleichheit der Brüder - und natürlich wieder nicht Schwestern - beherrscht wird. Hier setzt Derrida mit seinem Bedenken an, das an die ständige Abgrenzung des Politischen und des Demokratischen auch nach innen hin gemahnt. Die Ausdifferenzierung des Freund-Feind-Schemas geschieht schon in der ursprünglichen Form des Bruderzwistes, der Möglichkeit, den anderen zu töten, und der Außerkraftsetzung dieser Möglichkeit durch Liebe und Freundschaft. Die Vorhandenheit des Krieges als reale Möglichkeit sieht Derrida schon in dem gegeben, was er mit Freud den "Todestrieb" nennt, dessen Kraft sich im Ausnahmefall des Kampfes und der Tötung offenbart. Für Derrida erschließt sich - im Sinne einer unübersehbaren jüdischen Tradition - die radikale Form einer absoluten Feindschaft nur für bzw. gegenüber dem Bruder. Diese von Schmitt ausgeschlossene Form innerer Feindschaft sieht Derrida zugleich in dessen Denken in Gestalt des Partisanen wiederkehren. Und als solche ist es eine gespenstische Wiederkehr der Überschreitung von Regeln und Grenzen des Kampfes, die Derrida zugleich in Verbindung bringt mit einem Anwachsen des Technischen im Krieg, vor allem einer wachsenden Geschwindigkeit durch Motorisierung. Diese Frage der Technik, die Derrida mit dem durchaus ähnlich wie Carl Schmitt denkenden Heidegger stellt, betrifft eine neue Erfahrung des Ortes im Sinne einer Entortung der Positionen von Freund und Feind. Diese Probleme werden aber bei Schmitt gerade nicht aufgegriffen bzw. durch einen Rückbezug auf die tellurischen Kräfte der Erde umgangen, die aber nur das Wiedergängertum gespenstischer Formen von Freund und Feind verstärken.
Was aber ist dann die Freundschaft, wenn es denn - in der konjunktivischen Formen eines "vielleicht" - Freunde gibt? Die Ökonomie der Gabe der Freundschaft ist beherrscht von der tragischen Struktur im Innern der Brüderlichkeit, die nahezu schizophrene Zerrissenheit eines Doppelgängertums, die unhintergehbar ist. Aus ihr ist auch - zumindest im abendländischen philosophischen Diskurs - das versöhnende Moment der Schweser ausgeschlossen, wie es in der Dichtung z. B. im Motiv der Antigone zum Tragen kommt. Eine anökonomische Freundschaft hingegen wäre ein solche, die nicht auf Berechnung aus ist, aber auch nicht den Anruf durch die Stimme des Freundes in den inneren Ruf des Gewissens aufhebt, wie Derrida es Heidegger vorwirft. Es kommt letztlich darauf an, dem unverfügbaren Kommen der Freundschaft einen Raum einzuräumen, einen Raum, der nicht auf Gewißheit, sondern auf Vertrauen gegründet ist. Und in diesem Sinne zeugt auch die Politik der Freundschaft von der Ankunft der Demokratie: "Denn die Demokratie bleibt künftig, bleibt im Kommen. bleibt, indem sie kommt, das ist ihr Wesen, sofern sie bleibt: [...] Ist es möglich, die Offenheit für das "Komm" einer bestimmten Demokratie zu eröffnen und offenzuhalten, die nicht länger ein Hohn auf jene Freundschaft wäre ?