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Politisches Bekenntnis von Michail Chodorkowski

Michail Chodorkowski ist der bekannteste Lagerhäftling in Putins Russland. Früher war er ein Oligarch und Chef des Ölkonzerns Yukos. In seinem Buch "Mein Weg" analysiert er die Lage Russlands unter Putin.

Von Robert Baag | 10.12.2012
    Mucksmäuschenstill ist es an diesem spätherbstlich trüben Morgen in dem kleinen, überfüllten Moskauer Gerichtssaal, als der schmale, trotz seiner kurz geschnittenen grauen Haare immer noch jugendlich wirkende Mann mit seinem Schlusswort zum Ende kommt:

    "Ich bin keineswegs ein idealer Mensch. Aber ich bin ein Mensch, der für seine Idee lebt. Im Gefängnis zu leben ist für mich genauso schwer wie für jeden anderen Menschen. Ich möchte dort nicht sterben. Doch wenn dies notwendig werden sollte, werde ich nicht schwanken. Das, woran ich glaube, ist mein Leben wert. Und ich denke: Das habe ich bewiesen."

    Michail Borisowitsch Chodorkowski an jenem 2. November 2010 – er ist längst der weltweit bekannteste Lagerhäftling im Russland des Präsidenten Wladimir Putin. Die renommierte Gefangenen-Hilfsorganisation "Amnesty International" bezeichnet den einst als "reichsten Mann Russlands" apostrophierten Chodorkowski als "prisoner of conscience", als "Gewissensgefangenen", der aus politischen Gründen zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden sei. Wahr ist allerdings auch: Genau dieser Beurteilung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vor gut einem Jahr widersprochen. Allerdings haben die Straßburger Richter den Prozessverlauf selbst sowie Chodorkowskis Haftbedingungen deutlich kritisiert.

    "Die Staatsanwälte, Richter und Ermittlungsbeamten, die (in Moskau)an unserem Verfahren beteiligt waren, haben inzwischen weitere Beförderungen, Sternchen und Prämien erhalten",

    schildert Chodorkowski noch im Vorwort leidenschaftslos den aktuellen Stand in seiner Angelegenheit, um dann lakonisch den Hauptvorwurf zu konterkarieren, mit dem die offiziellen Medien Russlands stets Stimmung gegen ihn gemacht haben:

    "Die russische ‚Forbes’-Liste (der Reichsten im Land) hat sich nicht wesentlich verändert; die Reichen sind im Landesdurchschnitt insgesamt noch reicher und die Armen noch ärmer geworden."

    Wer nun detaillierter wissen möchte, welche Denkprozesse, welche Grundhaltungen, Erkenntnisse und Einsichten zur Quintessenz von Chodorkowskis Schlusswort vor Gericht geführt haben, der sollte sein bei der DVA erschienenes "politisches Bekenntnis" zur Hand nehmen: "Mein Weg", so der Titel, verfasst als Gemeinschaftsarbeit mit der russischen Journalistin Natalija Geworkjan, lohnt die Lektüre, auch wenn das mächtig daherkommende, weit über 600 Seiten zählende Buch keineswegs zur Kategorie "leicht konsumierbar" zu zählen ist. Alle kritische Distanz vorausgesetzt, die bei derlei Selbstauskünften ohnehin vonnöten ist, bieten Chodorkowski und Geworkjan - jeweils kapitelweise abwechselnd - einen spannenden Einblick in die Zeitspanne zwischen der Mitte der 1980er Jahre bis hinein in die Gegenwart Russlands: Beginnend mit der Endzeit der Gorbatschow’schen Perestrojka- und Glasnost-Ära, weiter über die anarchisch-chaotischen Zeiten des sogenannten Turbo- und Raubtier-Kapitalismus à la russe in den 90er-Jahren unter dem Laissez-faire-Patronat des zunehmend vergreisenden, erratischen Boris Jelzin - bis hin zur aktuellen, sich äußerlich scheinbar immer wieder neu erfindenden Herrschaft des Wladimir Wladimirowitsch Putin samt dessen engerem Gefolge mit ausgewiesener Geheimdienst-Sozialisation. Überhaupt: Wladimir Putin und Chodorkowski - das Leitmotiv in diesem Verhältnis hat der gelernte Jurist und KGB-Offizier Putin vor nun ziemlich genau zwei Jahren landesweit im Fernsehen vorgegeben, bemerkenswerterweise als das Urteil im zweiten Prozess gegen Chodorkowski noch gar nicht verkündet worden war:

    "Was Chodorkowskij betrifft, so habe ich schon mehrfach erklärt: Ein Dieb muss im Gefängnis sitzen!"

    Ein Straflager in der Teilrepublik Karelien, unweit der russisch-finnischen Grenze: Putins Wille war dem Moskauer Gericht Befehl, ungeachtet der grotesk-unsinnigen Anklageschrift, wonach der einst reichste Mann Russlands sein eigenes Unternehmen Yukos in gigantischem Ausmaß bestohlen haben soll. Solange Putin an der Macht sei, werde sich an dessen Feindseligkeit ihm gegenüber nichts ändern, ist sich Chodorkowski gewiss:

    "Offensichtlich wurde das im November 2003, als Putin nach meiner Verhaftung dazu aufrief, die ‚Hysterie einzustellen.’ Seither ist mein Weg klar: Geduld. – Uns beiden fällt es schwer zu verhandeln – er vertraut mir nicht, und ich vertraue ihm nicht. Und wie sollte es auch anders sein: Er selber hat aus mir ein Symbol gemacht. Vielleicht haben meine Gegenspieler erwartet, ich würde ‚durchdrehen’? Unwahrscheinlich. Alles in allem geht es wohl wirklich am ehesten um Emotionen."

    Chodorkowskis Gegnerschaft zu Putin, wie es die Kreml-Mannschaft schließlich schaffte Chodorkowski auszuhebeln, ihn im Klub jener sogenannten Oligarchen zu isolieren, die in den "wilden 90er-Jahren Russlands" genau wie er sagenhaften Reichtum anhäuften – wer all die verdeckten Machenschaften, die wechselnden Koalitionen, die an Renaissance-Kabalen erinnernden Intrigen im Dunstkreis der Mächtigen mit ihrer sowjetisch geprägten Geheimdienst-Mentalität Revue passieren lassen möchte, der findet in Chodorkowskis Aufzeichnungen reichhaltigen Stoff –unerwartete Anmerkungen inklusive:

    "Ein Großteil der Führungspersönlichkeiten weltweit geht aus Pflichtgefühl zur Arbeit. (...)Ich denke, Putin geht seiner Arbeit heute ebenfalls aus diesem Grund nach. So wurden wir doch von klein auf erzogen: Was zählt, ist die ‚Pflicht vor dem eigenen Land’. Und das hat sich uns sehr fest eingeprägt. Nur haben wir eben verschiedene Vorstellungen vom ‚Guten und Schönen’."

    Hier schreibt kein Verletzter, Wütender, Enttäuschter "mit Schaum vor dem Mund", sondern ein beeindruckend nüchtern analytisch denkender Naturwissenschaftler und Zahlenmensch. Indes: Schwarzer Humor ist Chodorkowskij ebenso wenig fremd wie eine gelegentliche Prise Pathos. An diesen Stellen hätte oft ein bisschen substanziellere Information nicht geschadet, wenn er etwa anspricht, weshalb er sich eigentlich einst von einem "Oligarchen-Saulus" zum – übrigens unbestrittenen – "Philantropen-Paulus" gewandelt hatte:

    "Es passierte eben so. Innerhalb eines halben Jahres. Ich hatte verstanden, was unser Volk ausmacht, wie unsere Menschen sind, was ich ihnen schuldig bin. Der Groschen war gefallen. Lieber spät als nie."

    Ach so, drängt die spontane Antwort, so war das also. Chodorkowski ist immer noch das bislang prominenteste Opfer in Putins Russland. Weiterhin zu Wort melden wird er sich auch aus dem Lager heraus – und seinen wütendsten Gegner ungerührt mit kühlen Analysen reizen:

    "Putin kann sich ohne die Unterstützung der ‚Silowiki" (der Sicherheitsstrukturen nicht an der Macht halten. Sie werden ihn fressen, und zwar sehr schnell, sobald sie begreifen, dass außer ihnen niemand mehr hinter ihm steht – weder der Westen, noch der aktive Teil der Gesellschaft, noch weitere Geldreserven. Seine Freunde sind ja nicht nur hoffnungslos korrupt. Sie sind an ein exponentielles Wachstum ihrer Einnahmen gewöhnt und erwarten das auch –aber genau das ist nicht mehr möglich. Und das wollen sie nicht glauben."

    Michail Chodorkowski/Natalija Geworkjan: "Mein Weg. Ein politisches Bekenntnis"
    Deutsche Verlags-Anstalt, 640 Seiten, 22,99 Euro, ISBN: 978-3-421-04510-2