Freitag, 29. März 2024

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Politologe Uwe Jun
"Merkel ist das Feindbild von Rechtspopulisten"

Angela Merkel hat sich in ihrer Kanzlerschaft nach Ansicht des Politologen Uwe Jun Feinde, aber auch Ansehen verschafft. Weil sie inzwischen als diejenige gelte, die die EU zusammenhalten könne, sei sie das Feindbild vieler Rechtspopulisten, sagte der Wissenschaftler im Deutschlandfunk.

Uwe Jun im Gespräch mit Dirk Müller | 21.11.2016
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) äußert sich am 20.11.2016 in der CDU-Parteizentrale in Berlin während einer Pressekonferenz nach einer Vorstandsklausur ihrer Partei zu ihrer politischen Zukunft als CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin. Foto: Kay Nietfeld/dpa | Verwendung weltweit
    CDU-Pk mit Kanzlerin Merkel (dpa)
    Für die Spaltung, die sich derzeit in Europas Gesellschaften abzeichnet, will Jun Merkel nicht verantwortlich machen. In der Flüchtlingspolitik "hat sie sich auf eine klare Position festgelegt, die in der Tradition Europa steht, nämlich als offener Raum zu stehen." Damit seien viele osteuropäische Politiker nicht einverstanden, so wie viele Südeuropäer Merkels Währungs- und Finanzpolitik kritisieren. So sei sie zum Feindbild von Rechtspopulisten wie Donald Trump oder Marine Le Pen geworden. "Aber sie stand immer dafür, dass die EU als Ganzes erhalten bleiben soll." Damit habe sie sich Ansehen verschafft.
    "Die Macht übt Faszinazion aus"
    Dass Merkel nun aber in ihre vierte Legislaturperiode gehen will und damit bei einer Wiederwahl auf bis zu 16 Jahre im Amt der Bundeskanzlerin kommen könnte, überrascht Jun dagegen etwas. "Sie hat ja mal angekündigt, nicht so lange zu regieren wie Helmut Kohl. Wenn sie 2017 wiedergewählt werden sollte, dann käme sie auf ein ähnliche Dauer." Kohl war von 1982 bis 1998 Bundeskanzler.
    "Sie hatte es jetzt noch in der Hand, zu sagen: 'Ich will nicht mehr'. Und abzutreten als eine Bundeskanzlerin, die das aus eigenem Entschluss machen konnte." Diese Möglichkeit falle nun weg. "Offenkundig übt das Kanzleramt viel Faszination aus und auch die Macht, die man dort hat, um nicht freiwillig dieses Amt zu räumen, denn das hat ja bisher noch niemand gemacht.."
    Allzu große Gefahr für Merkel aus der SPD sehe er nicht. Frank-Walter Steinmeier falle als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten nun in der Kanzlerfrage weg. Sigmar Gabriel habe schlechte Popularitätswerte, Martin Schulz sei vielen Bürgern noch zu unbekannt.

    Das Interview in voller Länge
    Dirk Müller: Angela Merkel stellt sich zum vierten Mal zur Wahl - unser Thema nun mit dem Politikwissenschaftler und Parteienforscher Professor Uwe Jun von der Universität in Trier. Guten Tag.
    Uwe Jun: Guten Tag, Herr Müller.
    Müller: Herr Jun, musste das sein?
    Jun: Es musste sein insofern, dass die Bundeskanzlerin jetzt eine Entscheidung treffen sollte, wenn sie denn weiter für den Parteivorsitz kandidiert. Aber sie hätte es nicht tun müssen, wenn sie sich mit den verschiedenen weltpolitischen Entwicklungen, die sicherlich viel Arbeit erfordern, nicht mehr auseinandersetzen wollte. Von daher ist es nachvollziehbar, dass sie es gemacht hat. Sie stellt sich der Aufgabe nun. Aber es wird eine Aufgabe, die sie sicherlich, wenn sie denn wiedergewählt wird, im kommenden Jahr vor zentrale Herausforderungen stellt. Man hätte es ihr auch nachsehen können, wenn sie sich entschieden hätte, nicht mehr anzutreten. Sie hatte ja mal angekündigt, nicht so lange zu regieren wie Helmut Kohl. Wenn sie jetzt 2017 wiedergewählt werden sollte, dann käme sie ja doch auf eine ähnliche Dauer wie der ehemalige Bundeskanzler.
    "Offenkundig übt das Kanzleramt viel Faszination aus"
    Müller: Aber es gibt ja immer Gründe, immer weiterzumachen. Und meistens geht das dann irgendwann schief. Ist das jetzt der Zeitpunkt?
    Jun: Ja, sie hatte es jetzt noch in der Hand - ihre Frage ist richtig gestellt -, jetzt noch in der Hand zu sagen, ich will nicht mehr, und abzutreten als eine Bundeskanzlerin, die das machen konnte aus eigenem Entschluss. Ich denke, das hat sie sich jetzt aus der Hand genommen, und in der Tat muss sie jetzt sich diesen Herausforderungen stellen. Offenkundig übt das Kanzleramt viel Faszination aus und auch die Macht, die man dort hat, um nicht freiwillig dieses Amt zu räumen, denn das hat ja bisher noch niemand gemacht.
    Müller: Weil man auch nicht so richtig weiß, was man danach machen soll?
    Jun: Das könnte in der Tat ein Grund gewesen sein, dass Frau Merkel sich nicht vorstellen konnte, eine politische Tätigkeit auszuüben, die ihr so viel Gestaltungsmöglichkeit bietet.
    Müller: Wenn wir dann noch einmal zurückblicken auf die Jahre und vor allen Dingen auf das letzte Jahr und die letzten Monate. Hätten wir im Februar/März darüber gesprochen, dann hätten wir, ich sage jetzt mal wir, dabei meine ich Sie, Herr Jun, hätten Sie ihr vermutlich mit großer Wahrscheinlichkeit gar keine Chance gegeben, noch einmal gewählt zu werden. Warum hat sich das wieder verändert?
    Jun: Nun, ich denke, ich hätte das nicht so gesagt, wie Sie es formuliert haben, dass ich ihr gar keine Chance gegeben hätte.
    Müller: Weniger Chancen.
    Jun: Vielleicht weniger Chancen, Sie haben Recht, weil auch die größten Mitbewerber im Parteienwettbewerb sich nicht besonders gut aufstellen und hier durchaus die Möglichkeit immer gegeben wäre.
    Was hat sich jetzt verändert? - Man kann sagen, die weltpolitischen Herausforderungen sind andere geworden, erst recht mit der Wahl von Donald Trump. Das führt dazu, dass die Europäer noch mal stärker zusammenstehen werden und sollen. Und sie steht dafür, dass man Kontinuität und Stabilität gewährleisten kann, und dann kann man auch sagen, dass die Flüchtlingsproblematik oder die Flüchtlingsthematik nicht mehr so stark im Vordergrund steht, wenngleich viele potenzielle Wähler nach wie vor der AfD die Stange halten.
    Müller: Aber ist das wirklich so, Herr Jun, wenn wir die Kanzlerin betrachten und Europa betrachten? Viele behaupten ja, Europa ist noch nie so zerspalten und zerstritten, seitdem Angela Merkel das Ruder übernommen hat.
    Jun: Das, würde ich sagen, hat wenig mit Angela Merkel zu tun. Sie haben natürlich klar den Austritt Großbritanniens in dieser Amtszeit, aber ich glaube, da können wir nicht Frau Merkel in irgendeiner Weise für verantwortlich machen.
    "Sie steht für Kontinuität in der europäischen Politik"
    Müller: Die Flüchtlingspolitik.
    Jun: Flüchtlingspolitik ja, da hat sie sich auf eine klare Position festgelegt, die aber in der Tradition Europas steht, nämlich als offener Raum zu stehen. Sie können natürlich auch selbstverständlich die Währungspolitik, die Finanzpolitik nehmen. Auch dort hat sie eine klare Position bezogen, mit der viele Südeuropäer nicht übereinstimmen, in der Flüchtlingspolitik viele Osteuropäer nicht übereinstimmen. Aber sie stand immer doch dafür, dass die Europäische Union als Ganzes erhalten bleiben soll, wenn auch mit Positionierungen, die nicht von allen geteilt werden. Aber das ist ihre Aufgabe, als Bundeskanzlerin, immer klare Positionierungen zu übernehmen für die Bundesregierung, und insofern, würde ich sagen, steht sie doch durchaus für Kontinuität in der europäischen Politik, wenn sie auch damals im Falle Griechenlands lange gezögert hat.
    Müller: Ist das eine Kunst, als Deutscher oder Deutsche in ihrem Fall für das zu stehen, was Sie gerade beschrieben haben, für ein einheitliches Europa, für ein geschlossenes Europa, für Freiheit, Liberalität und Toleranz? Das wird ja auch im Moment angeführt als einer der Gründe. Das muss sie verteidigen. Würde das nicht jeder deutsche Kanzler so machen, Kanzlerin?
    Jun: Da mögen Sie Recht haben. Aber Angela Merkel hat internationales Ansehen erworben und deswegen gilt ihr Wort mehr als bei vielen anderen. Sie hat auch durch die lange Amtszeit schon sich viel internationales Ansehen erworben und weil sie dieses internationale Ansehen hat, übrigens auch in der Flüchtlingspolitik, hat sie sich zwar auch Feinde geschaffen, aber sie hat auch hier sich viel internationales Ansehen bei denjenigen, die ähnliche Positionen vertreten, verschafft. Und das alles führt dazu, dass sie jetzt als diejenige gilt, die möglicherweise auch aufgrund ihrer Erfahrung auf der europäischen Bühne diese Europäische Union noch zusammenhalten kann und stabilisieren kann. Nicht zuletzt ist sie ja auch das Feindbild von vielen Rechtspopulisten. Trump hat sie ja sehr kritisch betrachtet und Frau Le Pen beispielsweise vom Front National in Frankreich auch.
    Müller: Schauen wir noch einmal nach innen, Herr Jun. Wir haben einen O-Ton vorbereitet von Sahra Wagenknecht, die sich gestern dementsprechend zur erneuten Kandidatur von Angela Merkel geäußert hat:
    O-Ton Sahra Wagenknecht: "Wenn man sich die Bilanz von Frau Merkel ansieht, dann hat sie die soziale Spaltung in Deutschland vertieft. Sie hat die AfD groß gemacht und ich glaube, niemand sollte sich wünschen, dass das noch vier Jahre so weitergeht."
    Müller: … sagt Sahra Wagenknecht. Ist da was dran?
    Jun: Was den letzten Punkt betrifft, ja. Da kann man schon sagen, dass die CDU in ihrer Zeit der Parteivorsitzenden Angela Merkel viele Positionen, die wir in der Parteienforschung autizitäre Positionen nennen, in der Migrationsfrage, in Fragen der inneren Sicherheit, in Fragen traditionellen Familienbildes, denken Sie an die Abschaffung der Wehrpflicht und all dieses, Raum geschaffen hat für die AfD, und dies hat die AfD jetzt nutzen können. Insofern ist es nicht ganz falsch, dass die AfD durchaus von der Politik Merkels profitiert hat in ihrer Funktion als Parteivorsitzende der CDU.
    "Die AfD hat duchaus von der Politik Merkels profitiert"
    Müller: Demnach hat Angela Merkel Profile, Ecken und Kanten planiert?
    Jun: Ich würde sagen, sie hat eine Repräsentationslücke entstehen lassen. Die Union stand lange Zeit eher für autoritärere Positionen und sie ist jetzt doch sehr stark in die politische Mitte gerückt, und das hat dazu geführt, dass eine Partei, wie wir es landläufig nennen, rechts der Union so stark werden konnte.
    Müller: Schauen wir nach vorne. Es geht ja auch jetzt um den Herausforderer, mit großer Wahrscheinlichkeit Herausforderer. Aus den Reihen der SPD werden zwei Namen genannt: Sigmar Gabriel und Martin Schulz. Hat irgendjemand der beiden bessere Chancen, gegen Angela Merkel sich durchzusetzen?
    Jun: Ich denke, es wird für beide sehr schwer werden, denn Schulz ist zwar ein international profilierter Europapolitiker, hat aber den Nachteil, dass er in Deutschland noch nicht so hohe Bekanntheitsgrade hat. Sigmar Gabriel wiederum hat zwar den Vorteil des hohen Bekanntheitsgrades, aber seine Popularitätswerte beim Wähler sind nicht allzu hoch. Insofern haben beide in etwa gleiche Nachteile dann im Wettbewerb mit der amtierenden Bundeskanzlerin.
    Müller: Wenn Sie das sagen, dass Gabriel nicht populär ist, das ist jetzt nicht neu. Das haben wir ja seit vielen, vielen Jahren verfolgt. Dann muss er doch normalerweise aus rationalen Gründen, auch aus Gründen der Parteistrategie dann rausfallen?
    Jun: Jetzt müssten Sie erst mal jemanden finden, der das besser ausfüllen könnte. Frank-Walter Steinmeier fällt jetzt ja definitiv aus als Kanzlerkandidat.
    Jun: Steinmeier hätte bessere Chancen gehabt
    Müller: Ist er deswegen der Kandidat geworden?
    Jun: Er hätte sicherlich, was die Popularität betrifft, bessere Chancen gehabt. Aber gleichzeitig hat sich ja nun die SPD auch darauf verständigt, wenn ich das richtig sehe, dass man stärker polarisieren will, und dafür wäre Steinmeier dann auch nicht zur Verfügung gestanden. Das würde wiederum eher für Gabriel als für Schulz sprechen. Wenn man tatsächlich in einen Wahlkampf gehen will, in dem man sich doch stärker vom Koalitionspartner, vom jetzigen Koalitionspartner abgrenzt, dann sehe ich da eher Gabriel mit Vorteilen gegenüber Schulz.
    Müller: Ihnen fällt aber sonst auch kein überzeugender Name noch ein?
    Jun: Der dritte Name, der immer wieder genannt wird, wäre der von Olaf Scholz. Aber auch da sehe ich, was die Möglichkeit der Polarisierung betrifft, der schärferen Auseinandersetzung mit den politischen Mitbewerbern, Gabriel eher im Vorteil als Scholz.
    Müller: Wir haben ja auch schon mal Rudolf Scharping zum Beispiel als Spitzenkandidat erlebt. Wir haben auch Johannes Rau als Spitzenkandidat erlebt. Viele, viele SPD-Kandidaten, die grandios gescheitert sind, weil sie dann doch dem Mehrheitsbild irgendwie nicht entsprochen haben. Hat die SPD Schwierigkeiten, aus der eigenen Perspektive heraus die richtigen Leute zu bringen?
    Jun: Es ist insgesamt gar nicht so einfach, einen Kanzlerkandidaten zu nominieren, der über hohe Popularitätswerte verfügt. Der letzte war sicherlich Gerhard Schröder, der dieses Kriterium erfüllt, aber auch Oskar Lafontaine beispielsweise davor ebenfalls nicht. Es ist sicherlich immer so, dass hier ein struktureller Vorteil auf Seiten des Amtsinhabers liegt, und da die Union sehr häufig den Kanzler stellte, hat sie hier eine bessere Chance. Dem Herausforderer fällt es immer schwer, dann Positionen zu besetzen, die mehrheitsfähig in der deutschen Bevölkerung sind und die ihn als so stark erscheinen lassen, dass man ihm das Amt auch vollständig zutraut.
    Müller: Und einen Merkel-Überdruss so wie damals bei Helmut Kohl haben wir noch nicht?
    Jun: Den kann ich derzeit nicht erkennen. Zwar hat die Kanzlerin nicht mehr die hohen Popularitätswerte wie noch vor der Flüchtlingskrise oder der Flüchtlingsfrage, aber insgesamt ist noch kein großer Einbruch hier diesbezüglich so zu erkennen, dass man von einer definitiven Wechselstimmung sprechen kann.
    Müller: Bei uns hier heute Mittag im Deutschlandfunk der Politikwissenschaftler Professor Uwe Jun von der Universität in Trier. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben. Auf Wiederhören.
    Jun: Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.