Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Polyneuropathie
Von Kribbeln und Brennen bis hin zu Lähmungserscheinungen

Kribbeln und Brennen, gestörtes Temperaturempfinden, Taubheitsgefühle, Schmerzen: das sind die häufigsten Symptome von Polyneuropathie, einer peripheren Nervenkrankheit. Häufigste Ursachen sind hoher Zucker oder übermäßiger Alkoholkonsum.

Von Justin Westhoff | 14.04.2015
    Karin Hahn:
    "Die Patienten beschreiben Sensibilitätsstörungen in den Füßen, in einem strumpfartigen Muster, später auch in den Händen, in einem handschuhförmigen Muster, die langsam aufsteigen können und im Verlauf auch von einer Schwäche der Muskulatur begleitet sein können."

    Das sind einige der typischen Symptome einer Polyneuropathie. Dr. Katrin Hahn, neurologische Oberärztin an der Berliner Charité, weist darauf hin, dass fast jeder Mensch schon einmal vergleichbare Empfindungen erlebt hat, wenn auch in einer milderen Form.

    Karin Hahn:
    "Wenn man auf einem Nerven relativ lange draufliegt, zum Beispiel am sogenannten Musikantenknochen, merkt man, dass es im kleinen Finger taub wird, so fühlt sich das auch für die Patienten mit Neuropathie an."

    Kribbeln und Brennen, gestörtes Temperaturempfinden, Taubheitsgefühle, Schmerzen sowie in den schlimmsten Fällen Lähmungserscheinungen an Beinen und Armen - das alles betrifft das periphere Nervensystem, jenen Teil der Nervenbahnen außerhalb von Gehirn und Rückenmark also, die Muskeln, Haut und innere Organe versorgen. Neben angeborenen Formen sind die meisten Polyneuropathien Folge anderer Erkrankungen.

    Karin Hahn:
    "Die Ursachen sind sehr, sehr vielfältig, wenn man das jetzt für Deutschland oder für Europa nimmt, dann ist ein zu hoher Zucker, also ein Diabetes mellitus oder ein übermäßiger Alkoholkonsum, das sind sicher die zwei häufigsten Ursachen."

    Entsprechend "einfach" - und meist erfolgreich - ist in diesen Fällen die Behandlung: Verzicht auf das Nervengift Alkohol und gute Einstellung des Blutzuckerspiegels durch den Arzt.

    Aber auch entzündliche Krankheiten wie rheumatoide Arthritis, eine Grippe oder eine HIV-Infektion können eine Polyneuropathie auslösen, ebenso wie eine Chemotherapie gegen Krebs. In all diesen Fällen kann es manchmal passieren, dass sich das Immunsystem gegen den eigenen Organismus richtet. Und spezielle Formen der Mehrfach-Nervenstörung sind meist nach ihrem Entdecker benannt. Als Beispiel beschreibt Dr. Katrin Hahn, Leiterin einer Spezialsprechstunde, das "Guillain-Barré-Syndrom".

    Karin Hahn:
    "Typischerweise geht einem Guillain-Barré-Syndrom ein Infekt voraus, meist so um zwei bis drei Wochen, das ist relativ häufig eine Durchfallerkrankung und nicht selten aber auch eine Form einer Lungenerkrankung, und der Körper entwickelt in dem Versuch, mit der Erkrankung zurechtzukommen, dann eben Symptome eines Guillain-Barré-Syndroms, und Patienten entwickeln relativ rasch aufsteigende Paresen, die nicht selten zur Gehunfähigkeit oder zur kompletten Lähmung des Körpers bis hin zur Beteiligung der Atemmuskulatur führen können. "

    Wegen der möglichen Parese, sprich Lähmung, können bestimmte Polyneuropathien also je nach Ausprägung lebensgefährlich werden:

    Karin Hahn:
    "Also man kann sich vorstellen, dass ein Patient, der eine Beeinträchtigung der Atemmuskulatur hat, solch ein Patient muss also in einem dafür spezialisierten Zentrum mit einer neurologischen Intensivstation behandelt werden, und nicht selten kommt es bei dieser Erkrankung auch zu so genannten autonomen Mitreaktionen, Patienten können lebensbedrohliche Herz-Rhythmus-Störungen entwickeln, die müssen entsprechend behandelt werden."

    Davor liegt eine ausgefeilte und aufwändige Diagnostik durch neurologische Messungen und MRT. Zum Glück gibt es inzwischen aber auch bei solchen infektionsbedingten Neuropathien gute Therapiemöglichkeiten.

    Karin Hahn:
    "Mit einer Plasmapherese, einer so genannten Blutwäsche, würde man versuchen, diese Antikörper aus dem Blut rauszuwaschen, damit sie die Nerven faktisch nicht mehr schädigen können, beziehungsweise mit Immunglobulinen, mit gesunden Antikörpern, diese krankhaften Antikörper, die sich gegen die Nerven richten, zu verdrängen. "

    Abgesehen von diesen Fällen: An die Behandlung jeder Polyneuropathie schließt sich eine Reha mit Physiotherapie an. Zur Linderung der Symptome hat ferner die Naturheilkunde einiges zu bieten, findet Charité-Professor Andreas Michalsen:


    "Ein sehr gutes Verfahren ist die Elektrotherapie, am bekanntesten sind hier die Stangerbäder, also elektrogalvanische Bäder, da muss man keine Angst bekommen, Strom und Wasser denkt man ja, geht das gut? Das sind ganz leichte, ganz milde Ströme, die durch das Badewasser geschickt werden, und die die Nerven stimulieren."

    Ähnlich funktioniert auch die klassische Hydrotherapie à la Kneipp.

    Andreas Michalsen:
    "Da sind diese Wechselgüsse - kalte Güsse, kalt-warme Güsse. Auch die Bäder, wo ja letztlich immer die Hautnervenrezeptoren stimuliert und gereizt werden, sehr wirksame Therapieansätze. Nur: Man muss es regelmäßig machen. Kneipp-Therapie kann man regelmäßig auch gut zuhause machen, und das muss man auch, täglich einmal eine Anwendung mindestens. "

    Auch die Überempfindlichkeit der Nerven bei Polyneuropathie kann durch alternativmedizinische Verfahren gedämpft werden, sagt der Professor für Naturheilkunde.

    Andreas Michalsen:
    "Sehr gut wirksam ist in der Regel die Akupunktur. Vor allem bei der Polyneuropathie an den Füßen, bei den Empfindungsstörungen, aber auch bei den Schmerzen. Eine weitere bewährte Therapie ist beispielsweise die Capsaicin-Creme, also das ist eine Salbe aus spanischem Pfeffer, Pfeffer ist scharf, ist reizend, irritierend für die Haut, wenn man das hochkonzentriert einreibt, das betäubt quasi die Schmerzsensoren, und wenn man das regelmäßig macht, dann ist das eine sehr hochwirksame Therapie, beispielsweise gegen so unangenehme Empfindungen bei der Polyneuropathie wie Ameisenlaufen oder Schmerzen."

    Michalsen sieht allerdings selbst Grenzen der naturheilkundlichen Behandlungsweise:

    "'Je nachdem, wie stark der Nerv geschädigt ist, ist dann die Ansprechbarkeit auf die Therapie verstärkt oder nicht mehr so stark. Wir wissen beispielsweise: Bei entzündlichen immunologischen Erkrankungen ist es schwierig, da noch Effekte zu erzielen. Also insofern gilt auch: je früher die Therapie, desto günstiger."

    Wo es sonst meist an Zusammenarbeit zwischen sogenannter "Schulmedizin" und Naturheilkunde fehlt, funktioniert das bei Polyneuropathien ganz gut. Das bestätigt auch die Neurologin Dr. Katrin Hahn:

    "'Es ist sinnvoll, solche Therapien begleitend einzusetzen, es ist ja nicht zuletzt so, dass wir bei einem Teil der Patienten die Ursache, die zur Funktionsstörung der Nerven geführt hat, gar nicht klären können, das heißt auch diesen Patienten möchte man eine symptomatische Therapie anbieten, die zur Besserung der Lebensqualität führt."

    In vielen Fällen aber werden bei Polyneuropathien nicht nur die Symptome gelindert, sondern die Krankheit wird geheilt. Sogar bei den schweren autoimmunen Formen besteht meist kein Grund zur Verzweiflung:

    Katrin Hahn:
    "Viele Patienten, gerade junge Patienten, erholen sich, sehr, sehr gut; für einen Patienten, der sonst keine Begleiterkrankung hat, wird es mit großer Wahrscheinlichkeit ein einmaliges Ereignis bleiben."