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Popmusik
Ein Flirt mit der Klassik

Auf den ersten Blick gibt es zwischen Klassik und Popmusik mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Doch die Grenzen sind schon längst nicht mehr klar zu ziehen, wie mehrere Musikprojekte beweisen.

Von Raphael Smarzoch | 15.02.2014
    Popmusik, darunter versteht man für gewöhnlich Sounds von Lady Gaga, Katy Perry oder Madonna, imaginiert ausverkaufte Stadien und denkt mit Sorge an hyperventilierende Fans. Philharmonien, Kleiderordnungen, Hust- und Räusperverbote haben hier nichts zu suchen. Die Grenzen zwischen Klassik und Pop verschwimmen allerdings immer wieder. Metallica und Deep Purple haben gezeigt, wie man mit großen Orchesterapparaten musiziert. Der Symphonic Metal transformiert die klassische Konzertbühne in eine Metallindustrie und die Band These New Puritans übersetzt mit ihren introspektiven Stücken die Gesetze der Kammermusik in die Welt des Pop.
    Beethovens "5. Sinfonie", Maurice Ravels "Bolero" oder Edvard Griegs "Morgenstimmung", deren betörende Klangwolken auch schon als Soundtrack in einer Bierwerbung eingesetzt wurden. Pop steht für populär und das gilt auch für diese Stücke. Chopin oder Mozart wurden einst von ihren Zeitgenossen so verehrt, wie es heutzutage bei berühmten Popstars der Fall ist. Skandale gab es auch. Man denke nur an den Grafen Carlo Gesualdo, der den Mord an seiner Frau und ihrem Liebhaber mit gottesfürchtigen Madrigalen zu sühnen versuchte. Heutzutage erfreuen sich klassisch ausgebildete Komponisten wie Max Richter, Nils Frahm, Jóhann Jóhannsson oder Ólafur Arnalds einer großen Popularität.
    "Ich habe meine Musik noch nie als klassisch bezeichnet. Obwohl ich klassische, also traditionelle Instrumente benutze, setze ich sie nicht auf die übliche Weise ein. Meine Musik baut natürlich auch auf klassischer Harmonielehre auf, die ich allerdings nicht so benutze, wie es die klassischen Meister getan haben. Klassisch bezieht sich für mich auf die Zeit der klassischen Musik, von der ich sehr viel gelernt habe."
    Ólafur Arnalds als einen Popmusiker zu beschreiben, der mit klassischen Sounds flirtet, ist keine unpassende Charakterisierung. Pop steht schließlich auch für Eingängigkeit, Musik mit Ohrwurmcharakter. Dieses Kriterium erfüllen die cineastischen Kompositionen des Isländers. Sie gehorchen den Gesetzen der Tonalität und distanzieren sich von Dissonanzen und seltsamen Tönen. Experimenteller geht das Duo Mouse on Mars zur Sache.
    "Es ist wirklich so wie ein Expertenteam, was irgendwie so Neuwagen testet. Wir sind sozusagen die verspinnerten Designer oder Ingenieure, die in so einer Kapsel irgendwie einfach mit den besten Nahrungsmitteln, Vitaminen vollgestopft, einfach nur assoziieren dürfen."
    Jan Werner beschreibt die Zusammenarbeit mit der Kölner Musikfabrik. Im Gespräch erzählt er von unterschiedlichen Arbeitsweisen. Er und sein Partner Andi Thoma denken nicht in Noten, sie komponieren anders als ein klassischer Komponist. Mit digitalen Werkzeugen formen sie ihre Sounds in Echtzeit. Die Ensemblemitglieder versuchen dann, die Computerklänge nachzuspielen. Viel konzeptioneller nähert sich der britische Elektroniker Matthew Herbert der klassischen Musik.
    Musik aus einem Sarg
    In seiner Adaption von Gustav Mahlers "10. Sinfonie" rekonstruiert er das Werk nicht, sondern versucht, das persönliche Erleben des Komponisten zu reflektieren, seine Verzweiflung und sein Ringen mit dem Tod darzustellen. Das einleitende Bratschenmotiv ließ er an Mahlers Grab einspielen. Weitere Teile der Sinfonie wurden in einem Sarg oder über die Lautsprecher eines Krematoriums aufgenommen. An Mahler fasziniert ihn sein Nonkonformismus, der sich in musikalischen Details, aber auch in einer kritischen Haltung gegenüber dem klassischen Musikbetrieb zeigt.
    "Mahler lässt so viele Konventionen hinter sich. In seinen Stücken hört man Ausschnitte aus folkloristischer Musik oder Vogelgesang, der durch sein Fenster dringt. Man kann darin diese winzigen Zitate hören. Seine Musik klingt sehr alltäglich und möchte nicht zeigen, wie mächtig ein bestimmter König oder wie wichtig eine bestimmte Religion ist. Er umgeht die Gründe, aus denen Musik oftmals komponiert wird, etwa weil sie in Auftrag gegeben wurde oder weil jemand dafür gezahlt hat."
    Hierarchien löst auch das Internet auf. Die omnipräsente Digitalisierung macht das Denken in Genres wie Klassik und Pop obsolet oder stellt es zumindest als Konzept aus analogen Tagen infrage. Musik von Carly Rae Jepsen und Franz Schubert, sie ist nur wenige Mausklicks voneinander entfernt. Das amerikanische Duo Gatekeeper kokettiert auf seinem aktuellen Album "Young Chronos" mit Sounds aus der Ära des Barock. Traditioneller Operngesang trifft auf glasklare High-Definition-Rhythmen.
    Womöglich resultiert dieses musikalische Rendezvous aus dem Wunsch heraus, feste Konstanten und Fixpunkte in einer durch Digitalisierung, Fluidität und Selbstoptimierung geprägten Epoche zu setzen. Das Experimentieren mit Klängen aus Renaissance, Barock und Alter Musik, wie es bei Produzenten wie Planingtorock oder d’eon im Augenblick en vogue ist, möchte womöglich die aus den Fugen geratene Zeit des 21. Jahrhunderts wieder in bekannte Bahnen lenken, um die unbekannten Herausforderungen der Zukunft erträglicher zu machen.