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Populistische Pauschal-Diffamierung

Vorabdrucke, Interviews, zahllose Debattenbeiträge in Zeitungen, Magazinen, Blogs: Es war eine beispiellose Marketingmaschinerie, die schon lange vor Erscheinen des Buchs von Thilo Sarrazin in Gang gesetzt wurde. Dessen krude Thesen bedürfen jedoch eines Warnhinweises: Lesen auf eigene Gefahr.

Von Rainer Burchardt | 30.08.2010
    Nun also dieselbe unsäglich populistisch-provokante Pauschal-Diffamierung vor allem der türkischstämmigen Einwanderer hierzulande zwischen zwei Buchdeckeln. Nach dem angeblich das Deutschtum unterwandernden Reproduktionszyklus türkischer Kopftuchmädchen jetzt das gesammelte Sammelsurium von Vorurteilen und Verurteilungen in Buchform. Eiskalt kalkuliert, bewusst politisch unkorrekt, Tabubrüche zuhauf im Tarnmantel angeblich wissenschaftlich abgesicherter Erkenntnisse. Schon in der Einleitung wird klar, wie sich Sarrazin verbal munitioniert hat:

    Ich stütze mich in meinen Ausführungen auf empirische Erhebungen, argumentiere aber direkt und schnörkellos. Es geht mir vor allem um Klarheit und Genauigkeit, die Zeichnung ist daher kräftig, nicht unentschlossen oder krakelig. Ich habe darauf verzichtet, heikel erscheinende Sachverhalte mit Wortgirlanden zu umkränzen, mich um Sachlichkeit bemüht – die Ergebnisse sind anstößig genug.
    Das kann man wohl sagen, aber gewiss anders, als der offenbar äußerst verbiesterte Autor es meint. Anstößig ist dabei noch milde formuliert. Das Buch ist ein Skandal – und sollte es wohl aus Gründen der Wahrnehmbarkeit und – gewiss auch dies – der einträglichen Absetzbarkeit sein. Ambivalent ist das Ganze aber auch, weil nicht auszuschließen ist, dass eine Vielzahl an Deutschen endlich einmal das gebündelt nachlesen will, was sie angeblich schon immer gedacht, aber nicht zu sagen gewagt hat. Insofern muss man dem Autor zunächst einmal konzedieren, dass er unter Wahrnehmung auch seines Rechts auf freie Meinungsäußerung eine zumindest von ihm argwöhnte Bedarfshaltung weiter Kreise der deutschen Bevölkerung bedient hat. Die von ihm gelieferte Vielzahl an Statistiken und wissenschaftlichen Quellen, die in der Mehrzahl seit Jahren bekannt sind, mag so manche Stammtischdiskussion anreichern, nicht mehr und nicht weniger. Denn die Conclusio des selbsternannten Vorkämpfers zur Bewahrung und Sicherung des Deutschtums, Thilo Sarrazin, von der Muslimisierung unserer Gesellschaft vor allem durch bildungs- und arbeitsunwillige Türken, wird dadurch nicht richtiger.

    In Deutschland ist zu beobachten, dass die Nettoreproduktionsrate der bildungsfernen Schichten beziehungsweise der Unterschicht über dem nationalen Durchschnitt, die Nettoreproduktionsrate der bildungsnahen Schichten beziehungsweise der Mittel- und Oberschicht dagegen darunter liegt. Deutlich über dem Durchschnitt liegt auch die Nettoreproduktionsrate der muslimischen Migranten. Diese gehören in Deutschland zum überwiegenden Teil zur bildungsfernen Schicht beziehungsweise zur Unterschicht.
    Eine etwas verschwiemelte und in der Wortwahl eher zynische Langform seiner gern von ihm plakativ formulierten These, Deutschland werde immer dümmer. Dass er zudem in einer ziemlich undifferenzierten Art und Weise vor allem Gesichtspunkte der angeblich ökonomischen Wertlosigkeit vor allem der türkischen Zuwanderer anführt, ist besonders ärgerlich. Nicht einmal im Ansatz setzt sich der Autor mit der unbestreitbaren Tatsache auseinander, dass es schließlich jahrzehntelang ein wesentlicher Bestandteil deutscher Politik war, Ausländer als billige Arbeitskräfte ins Land zu holen - übrigens gerade jüngst wieder von Wirtschaftsminister Brüderle ins Spiel gebracht. Oft genug waren und sind die Zuwanderer gut genug, die von Deutschen verabscheuten Drecksarbeiten zu verrichten. Hat der Mohr jetzt seine Schuldigkeit getan und kann gehen? Bei Rechtsradikalen heißt es in diesem Zusammenhang häufig, die Ausländer nähmen uns nicht nur die Arbeit, sondern auch noch die Frauen weg. Bei Sarrazin dominieren eher angebliche Faulheit in Tateinheit mit mangelndem Bildungs- und Integrationswillen vor allem der türkischen Muslime. In einem entlarvenden Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit" formulierte er, bezogen auf multikulturelles Paarungsverhalten gar:

    Die Araberjungen kommen an ihre arabischen Mädchen nicht ran. Letztlich nutzen sie die leichter zu kriegenden deutschen Unterschichtmädchen, um sie dann dafür zu verachten, dass sie so leicht verfügbar sind.

    Dies passt komplett zum Gesamttenor des Buches, der sich in etwa so zusammenfassen ließe: Die Deutschen sehen der Muslimisierung unserer Gesellschaft und damit der Zukunft wort- und tatenlos zu. Motto nach Sarrazin:

    Heimatverbunden? Aber gerne!
    Lokalpatriot? Natürlich!
    Europäer? Sowieso!
    Weltbürger? Klar doch, das gehört sich so!
    Deutscher? Nur bei der Fußballweltmeisterschaft, sonst eher peinlich!


    Eines seiner Kapitel überschreibt er mit dem Shakespearezitat aus Hamlet:

    Etwas ist faul im Staate Dänemark.

    Es ist ein Kapitel über den angeblichen Verfall unserer Gesellschaft. Auch hier, natürlich mit diesbezüglich nicht wirklich aussagekräftigen Statistiken aus dem Weltreich der Bildungsökonomen garniert, die Apokalypse einer dahinsiechenden deutschen Gesellschaft:

    Dass in Deutschland überdurchschnittlich viele Kinder in sogenannten bildungsfernen Schichten mit häufig unterdurchschnittlicher Intelligenz aufwachsen, lässt uns schon aus rein demografischen Gründen durchschnittlich dümmer werden. Der Anteil der Menschen, der aufgrund mangelhafter Bildung sowie intellektueller Mängel nur schwer in das moderne Arbeitsleben integriert werden kann, nimmt strukturell zu.

    In der Sarrazin'schen natürlich nicht formulierten aber insinuierten "Muslime-Raus-Logik" hieße dies ja wohl, dass wir Deutsche damit wieder klüger würden. Statistisch gesehen jedenfalls. Das ist völlig absurd. Aber es ist das überaus lächerliche bis ärgerliche Argumentationsmuster des Autors, das das gesamte Machwerk durchzieht. Das Ganze noch gemixt mit mehr als fragwürdigen biologisch-genetischen Schlussfolgerungen, die faktisch in einem politisch-populistischen Sozialdarwinismus münden. Ein Skandal – nachdenklich allerdings sollte es uns machen, dass diese kruden Thesen in der Öffentlichkeit so viel Aufmerksamkeit und wohl auch Zuspruch finden. Das gilt leider auch für uns Medienmacher.

    Rainer Buchhardt war das über Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Deutsche Verlags-Anstalt, 464 Seiten, 22 Euro und 99 Cent kostet das Buch, ISBN 978-3421044303.