Dienstag, 23. April 2024

Archiv


"Ich bleibe SPD-Mitglied bis an mein Lebensende"

Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin ist nach eigener Aussage ein Befürworter von Einwanderung, "die zu einer Integration in die aufnehmende Gesellschaft führt". Er kritisiert die angeblich mangelnde Integrationsneigung muslimischer Zuwanderer. Seine Ansichten hält der ehemalige Berliner Finanzsenator für kompatibel mit seiner Mitgliedschaft in der SPD.

Thilo Sarrazin im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 29.08.2010
    Tobias Armbrüster: Thilo Sarrazin, Ihr neues Buch wurde in dieser Woche erst in Auszügen veröffentlicht, hat aber trotzdem schon einige heftige Reaktionen ausgelöst. Angela Merkel nennt Ihre Äußerungen über Ausländer in Deutschland "verletzend", der Ausländerbeauftragte der Berliner SPD findet sie zum Teil "rassistisch", und Sigmar Gabriel wundert sich, warum Sie noch immer SPD-Mitglied sind. Können Sie nachvollziehen, woher diese Ablehnung kommt?

    Thilo Sarrazin: Ja, also das Buch, das wird also jetzt am Montag erscheinen. Und von denen, die sich also bisher geäußert haben – ob die Bundeskanzlerin oder andere oder Äußerungen haben verbreiten lassen –, kennt keiner das Buch. Ich bin sicher, wer sich anderthalb Tage Zeit nimmt, das Buch zu lesen, wird erstens genau wissen, was ich gesagt habe, und der wird wissen, dass ich dort ernsthafte Punkte habe der Kritik, welche geäußert wird, ohne den Gegenstand zu kennen, den man jetzt da kritisiert – nehme ich einfach nicht zum sachlichen Nennwert und werde mich dazu auch nicht äußern.

    Armbrüster: Da gehen wir mal direkt in den Inhalt. Buchtitel ist: "Deutschland schafft sich ab". Warum schafft Deutschland sich ab?

    Sarrazin: Deutschland schafft sich auf unterschiedlichen Wegen ab. Erstens wird jede Generation aufgrund der Geburtenzahlen immer ein Drittel kleiner als die vorhergehende Generation. Und da muss man kein Mathematiker sein, um auf dem Taschenrechner auszurechnen, dass die Fortsetzung der in den vergangenen 45 Jahren stabilen Geburtenrate bedeutet, dass wir in drei bis vier Generationen auf etwa 20 Prozent des heutigen Bevölkerungsniveaus sind.

    Armbrüster: Das heißt, die Menschen, die in Deutschland leben, die werden immer weniger.

    Sarrazin: Die werden immer weniger. Ein Ausgleich durch Migration fand in den vergangenen Jahrzehnten teilweise statt. Wir hatten im Jahr 1965 1,3 Millionen Geburten gehabt, im letzten Jahr 2009 waren es noch 650.000. Von diesen Geburten stammen also 250.000 aus den zugewanderten Gruppen – den ehemaligen Gastarbeitern, den Russland-Deutschen, den Osteuropäern und so weiter, und aus den Asylanten und Wohlstandsflüchtlingen – seit Anfang der 80er-Jahre. Ohne Migration hätte Deutschland im vergangenen Jahr statt 1,3 Millionen Geburten wie im Jahre 1965 noch 400.000 gehabt. Das heißt, Deutschland ist in der Tat physisch auf dem Wege, sich abzuschaffen. Wir teilen diesen ...

    Armbrüster: Moment, aber verstehe ich Sie jetzt richtig: Wir profitieren eigentlich von der Migration in dem Sinne, dass die Zahlen nicht stärker sinken, als sie sinken ohne Migration?

    Sarrazin: Das ist richtig, aber sie sinken immer noch sehr stark, und wir haben mit dieser Geburtenentwicklung, mit dieser relativen Fruchtbarkeit, auch deutliche Unterschiede gegenüber Ländern wie den USA, die auch ein moderner Industriestaat sind, aber letztlich eine Geburtenrate haben, die auch ohne Immigration den Bestand erhält. Auch die Geburten in den Ländern wie England, Schweden, Frankreich sind deutlich höher als bei uns. Dies ist das erste Thema, mit dem ich mich beschäftige. Das zweite Thema ist der Umstand, dass innerhalb der Zahl der Geborenen der Anteil bildungsferner Schichten kontinuierlich wächst. Das gilt ausdrücklich zunächst einmal ohne Migration. Auch die Menschen, die in Deutschland leben, haben bei bildungsnahen Schichten eine dramatisch niedrigere Geburtenrate als bei bildungsferneren Schichten. Und das bedeutet, dass das intellektuelle Potenzial in Deutschland – ich rede immer noch über den Zustand ohne Migration – noch deutlich stärker sinkt als das demografische Potenzial.

    Armbrüster: Sie zeichnen in Ihrem Buch, um da mal gleich in medias res zu gehen, ein Bild von vor allem muslimischen Einwanderern, die weniger intelligent sind als die Deutschen, als die Menschen, die in dem Land wohnen, in das sie hineinkommen, und die sich aber gleichzeitig sehr viel schneller vermehren.

    Sarrazin: Ja, das ist Missverständnis, dem Sie da aufsitzen. Nirgendwo in meinem Buch steht, dass irgendwelche Migrantengruppen weniger intelligent seien, als die, die schon bei uns sind. Das kann man auch gar nicht wissen, dazu müsste man sie ja alle testen. Das ist gar nicht das Thema. Wir können sehen, dass unterschiedliche Migrantengruppen stark unterschiedliche Bildungs- und Integrationserfolge haben. Wir sehen, dass bei Migranten, bei Deutsch-Russen, die zu uns kamen – meist waren es ja mehr Russen als Deutsche –, dass bei osteuropäischen Einwanderern, dass bei Einwanderern aus der EU und bei Einwanderern aus Ostasien alle Integrationsunterschiede, soweit man sie misst an der Bildung und an der Beteiligung am Erwerbsleben, auch an der Sprachkompetenz innerhalb von einer Generation sich abbauen. Wir sehen andererseits bei der Gruppe der muslimischen Migranten – das geht über alle Migranten muslimischer Herkunft – die Integration wesentlich länger dauert und auch in der zweiten und der dritten Generation wir noch deutlich unterdurchschnittliche Erwerbsbeteiligung, unterdurchschnittliche Bildungsbeteiligung und überdurchschnittliche Transferabhängigkeit haben. Das ist kein Phänomen nur in Deutschland, dieses Phänomen betrifft andere europäische Staaten mit muslimischer Migration genau so. Dies kann nicht auf ethnische Hintergründe zurückgeführt werden, da zum Beispiel Inder und Pakistani ethnisch völlig identisch sind, gleichwohl haben die Inder im britischen Schulsystem bessere Schulerfolge, die Pakistani schlechtere. Es muss am gemeinsamen kulturellen islamischen Hintergrund liegen.

    Armbrüster: Aber Herr Sarrazin, ich verstehe nicht ganz genau, was das Problem ist. Wenn Menschen aus anderen Ländern zu uns kommen, bei uns wohnen, bei uns Arbeit finden und sich langsam über Generationen hier einleben und langsam integriert werden, sich langsam den Deutschen so zusagen anpassen – das ist ein Vorgang, der sich in der Historie immer wieder ereignet hat, der auch in Deutschland im Grunde nichts Fremdes ist. Wir sollten es doch eigentlich begrüßen, wenn Leute zu uns kommen und bei uns arbeiten und über die Generationen hinweg immer mehr integriert werden. Wo liegt das Problem?

    Sarrazin: Ich begrüße jede Einwanderung, die am Ende zu einer Integration in den aufnehmenden Staat und in die aufnehmende Gesellschaft führt, und zwar in eine kulturelle, ökonomische und sprachliche Integration. Ich würde es für gefährlich halten, wenn sich in einem Nationalstaat wie Deutschland – wir haben in Europa Nationalstaaten – mit der Zeit dann nationale und kulturelle Minderheiten bilden würden, die sich dauerhaft absondern. Und die Beobachtung mit der muslimischen Migration in ganz Europa sind eben gerade die nachhaltig unterdurchschnittlichen Integrationserfolge, auch in der zweiten und dritten Generation und auch teilweise eines großen Desinteresses an der Kultur der aufnehmenden Gesellschaft und auch eines Desinteresses, sich überhaupt zu integrieren. Ich beziehe dieses aus meinem familiären Zusammenhang, weil ich unfreiwillig über meine Frau 35 Jahre Schule in Deutschland begleitet habe, aufgenommen also auch aus dem persönlichen Zusammenhang. Aber ich verweise darauf, dass genau dieses Phänomen ja auch sonst auf breites Interesse stößt. Ich habe in meinem Buch zitiert das Buch des Nobelpreisträgers V.S. Naipaul – ethnisch ein Inder, geboren in der englischen Kolonie Trinidad, schreibt englisch, hat ja in seinem Buch "An Islamic Journey" aus dem Jahre 1981 genau aus der Bereisung und Beobachtung des ganzen islamischen Gürtels, vom Iran über Pakistan, über Malaysia und Indonesien, die kulturellen Eigenarten des Islam erzählerisch untersucht und abstrahiert, die zu dieser Absonderung führen. Und dass diese Absonderung nicht nur mich besorgt stimmt, sondern auch viele Türken besorgt stimmt oder viele Muslime besorgt stimmt, das können Sie sehen an muslimischen Feministinnen wie Hirsi Ali, Seyran Ates, Güner Balci oder Necla Kelec, die ich allesamt auch in meinem Buch zitiert habe. Das ist keine Erfindung des älter werdenden Thilo Sarrazins, der das halt also schöner fand, als man unter sich war. Das Thema ist viel komplexer. Ich war von der Prognose her immer ein Integrationsoptimist, weil ich Kind der harten Wissenschaft bin. Ich glaube an Zahlen, Fakten, ökonomische Zwänge. Ich glaubte immer daran, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt.

    Armbrüster: Herr Sarrazin, darf ich Sie einmal kurz unterbrechen. Würden Sie, um das kurz zusammenfassend sagen, dass Muslime in Deutschland integrationsresistent sind?

    Sarrazin: Es ist immer falsch, von "den" Muslimen zu sprechen. Die von mir zitierte Necla Kelek oder Seyran Ates oder Güner Balci oder auch Cem Özdemir oder wen Sie immer nennen, der im öffentlichen Leben steht, viele türkische Ingenieure, Ärzte und Anwälte und arabische Ingenieure, Ärzte und Anwälte und Facharbeiter – es gibt auch dort Gruppen, die sich integrieren. Aber es ist andererseits so, dass ganz große Teile dieser Gruppen, teilweise auch überwiegende Teile dieser Gruppen, wenig Integrationsneigung zeigen, auch in der zweiten, dritten und mittlerweile vierten Generation, und dass sich dort sehr viele Probleme in Deutschland im sozialen und ökonomischen Bereich konzentrieren.

    Armbrüster: Es gibt nun sehr viele Politiker, aber auch Wissenschaftler, die Ihnen da deutlich widersprochen haben in den letzten Tagen bei solchen Aussagen, unter anderem Ihr ehemaliger Kollege in Berlin, Herr Buschkowsky, der Bezirksbürgermeister von Neukölln. Viele Leute werfen Ihnen vor, dass Sie hier sehr selektiv mit wissenschaftlichem Material umgehen.

    Sarrazin: Also, der Heinz Buschkowsky ist in meinem Zuwanderungskapitel ausführlich zitiert, es gibt dort bestimmt acht Seiten Buschkowsky-Zitate. Er bekam das Zuwanderungskapitel vorher vom Verlag auf meine Bitte, damit er seine Äußerungen autorisiert. Wo er sie autorisiert hat, hat er sie leicht verschärft. Ich sehe zwischen mir und Heinz Buschkowsky keine inhaltlichen Unterschiede. Also Heinz Buschkowsky ist sicherlich in der SPD unter einem starken Druck, und er ist mir in einer Sache gram – sonst verstehen wir uns prächtig –, weil es in meiner Zeit als Finanzsenator zu meinen Aufgaben gehörte, überall zu sparen, auch bei den Bezirken, auch in seinem geliebten Neukölln. Da hatten wir viele streitige Diskussionen, die manchmal auch ein paar Wunden hinterlassen. Das heißt aber nicht, dass uns bei dem Thema Migration und Integration Wesentliches getrennt hätte.

    Armbrüster: Noch mal, viele Politiker sagen, Sie gehen hier sehr selektiv mit Zahlen um. Sie suchen sich sozusagen die Untersuchungen raus, die wahrscheinlich in Ihr Bild hinein passen. Wenn wir von Misserfolgen bei der Integration sprechen, gerade bei den Muslimen, könnte es nicht daran liegen, dass viele Menschen in Deutschland Muslimen gegenüber immer noch sehr stark mit Vorurteilen gegenübertreten, sozusagen die Desintegration forcieren?

    Sarrazin: Also, der Vorwurf, ich ginge da selektiv mit Zahlen um, ist von denen, die mein Buch nicht kennen, schon mal sowieso vollständig unsinnig. Ich habe den Mikrozensus für 2007 und 2008 ausgewertet. Das sind Statistiken des Statistischen Bundesamtes. Ich beziehe mich auf von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Untersuchungen. Ich sehe kein selektives Umgehen mit Zahlen. Der Vorwurf von Buschkowsky war, das Zuwanderungskapitel enthält ja nichts Neues, da hat er recht. Es enthält alles Dinge, die bereits bekannt sind, die nur auch gerne verdrängt werden. Und den selektiven Umgang mit Zahlen nenne ich nicht. Im Übrigen, es ist immer so – und das darf man auch gar nicht verkleinern – wer in ein Land kommt, in dem er fremd ist, in dem er die Sprache nicht spricht, Unsicherheiten hat, vielleicht auch kulturell andere Angewohnheiten, erfährt auch immer eine gewisse Benachteiligung. Wenn einer von uns beiden jetzt in Italien lebte und auf einem Amt etwas regeln wollte, würde er auch benachteiligt werden gegenüber sprachfähigen Italienern. Das ist so, und diese Benachteiligung sollte man auch nicht verkleinern. Die hatten genau so deutsche und italienische und polnische oder jüdische Einwanderer Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA gehabt. Darum ist es wichtig, auf die zweiten und dritten Generationen zu schauen, denn Benachteiligung kann man überwinden. Ob man sie überwindet, liegt aber im wesentlichen in denen beschlossen, die gekommen sind. Und dass also Vietnamesen, Osteuropäer, Portugiesen, Spanier deutlich höhere Integrationserfolge hatten und haben, auch wenn man das in der Generationenfolge sieht, als muslimische Migranten, kann nicht um Benachteiligung gehen, auch nicht um optische Benachteiligung. Ein Inder oder ein Chinese, der also so weit er in Deutschland ist, im Durchschnitt erfolgreicher ist als die Deutschen, sieht wesentlich andersartiger aus als ein Ägypter oder Türke. Die gehen im Zweifel auch immer als Griechen oder Süditaliener durch. Es ist im Kern nicht die Benachteiligung, die die Migranten immer in der Erstgeneration haben. Denn die kann nicht die unterschiedlichen Erfolge in der zweiten oder dritten Generation erklären.

    Armbrüster: Aber könnte es nicht sein, Herr Sarrazin, dass gerade Muslime in Deutschland besonders große Benachteiligung erfahren? Gerade durch die Terrordebatten zum Beispiel, die wir seit dem 11. September 2001 führen, gerade durch ihre Religion?

    Sarrazin: Ich sehe nicht, was die Terrordebatte, die wir seit dem Jahre 2001 führen, mit den durchschnittlichen und persistent unterdurchschnittlichen Schulerfolgen von türkischen Migranten in Berlin über die vergangenen 45 Jahre zu tun haben. Es kann überhaupt keine Verbindung gezogen werden zwischen der Diskussion um den islamischen Terror und dem Umstand, dass pakistanische Schüler in Schulen schlechter abschneiden als indische.

    Armbrüster: Wenn man Ihr Buch liest, dann könnte man an vielen Stellen meinen, es sei inzwischen völlig problemlos, als Nicht-EU-Ausländer nach Deutschland einzuwandern, hier hinzuziehen. Dabei sind, das wissen wir alle, diese Zeiten längst vorbei. Es ist gar nicht mehr so leicht. Sie kommen nach Deutschland von außerhalb der EU allenfalls noch über das Asylrecht. Warum spielen Sie mit diesem Bild von einer Einwanderungswelle, die unser Land sozusagen überspült?

    Sarrazin: Ich spiele nicht mit dem Bild einer Einwanderungswelle. Ich habe in meinen Berechnungen unterstellt, dass wir 50.000 bis 100.000 zusätzliche Einwanderer im Jahr haben. Ich habe weiterhin unterstellt, dass diese im Wesentlichen aus der Türkei, also Nahost und Nordafrika kommen. Und dies stimmt überein mit der empirischen Evidenz. Ich unterstelle eine niedrigere Zuwanderung als das Statistische Bundesamt in seinen Bevölkerungsprognosen. Und diese Einwanderung ist allerdings zum großen Teil eine Einwanderung über den Familiennachzug, illegale Einwanderung oder Einwanderung aus Asylgründen. Es ist zu 90 Prozent nicht die qualifizierte Einwanderung, die Australier, Kanadier oder Amerikaner intelligent organisieren. Und das ist das Problem.

    Armbrüster: Diese Einwanderung würden Sie gerne stoppen, wenn ich das richtig verstehe?

    Sarrazin: Ich bin der Meinung, dass wir die Einwanderung genau nach dem Vorbild dieser Länder auf die Qualifikationen, die wir brauchen, konzentrieren sollten. Und ich glaube nicht, dass die nur durch das Asylrecht und die Zufälligkeiten der illegalen Einwanderung und der Familienzusammenführung gesteuerte Zuwanderung aus Nordafrika, Nahost und der Türkei irgendein Problem löst. Im Gegenteil, dadurch werden mehr Probleme geschaffen als gelöst.

    Armbrüster: Wollen Sie dann das Asylrecht komplett abschaffen?

    Sarrazin: Dazu habe ich mich in meinem Buch nicht geäußert.

    Armbrüster: Aber darauf würde es ja hinauslaufen.

    Sarrazin: Es geht darum, dass wir als Staat und Gesellschaft den Status richtig analysieren und aus der Analyse des Status' die richtigen Folgerungen ziehen. Es ist in jedem Fall ein Irrtum, Deutschland oder Europa könne das Leid hellen. Es ist für die Lösung der Probleme in Afrika oder Nahost völlig unerheblich, ob Europa pro Jahr 300.000 Einwanderer aufnimmt oder 500.000 oder eine Million. Die Probleme können nur in diesen Ländern selber gelöst werden. Und von daher ist es unsere Aufgabe und, wie ich finde, auch unsere Pflicht, zunächst an die Entwicklung unserer eigenen Gesellschaft zu denken. Politiker sind also nicht gewählt von den Gruppen möglicher künftiger Migranten, sie sind gewählt von der wahlberechtigten Bevölkerung in Deutschland und sollen deren Interessen vertreten.

    Armbrüster: Aber Immigration, Herr Sarrazin, hat es in Deutschland immer gegeben. Wahrscheinlich würde es unser Land ohne Immigration, ohne Einwanderung überhaupt nicht mehr so geben. Was hat sich geändert?

    Sarrazin: Also, diese Wahrheit ist sowohl falsch als auch richtig. Also, Immigration des Umfangs, wie sie Europa in den vergangenen 30 Jahren erfuhr, Herr Armbrüster, hat es in der gesamten europäischen Geschichte nicht gegeben. Also, der Christopher Caldwell, den ich auch in meinem Buch zitiere, zitiert genetische Untersuchungen der irischen und der britischen Bevölkerung. Die britische Bevölkerung hatte Mitte der 60er-Jahre noch zu 75 Prozent exakt den Genpool, den es einige Tausend Jahre vorher hatte. Bei der irischen Bevölkerung waren es sogar über 90 Prozent. Die Migration war letztlich seit der Völkerwanderung im Verhältnis zu der heutigen Entwicklung allenfalls marginales Phänomen. Und vor allen Dingen ist es auch deshalb nicht vergleichbar, weil letztlich die Migration in Europa immer der Austausch von doch kulturell recht ähnlichen Bevölkerungsgruppen war. Natürlich war es ungemein hilfreich, dass die evangelischen Christen aus dem Bistum Salzburg und die Hugenotten aus Frankreich von den preußischen Königen in Berlin und im Oderbruch angesiedelt wurden. Aber diese waren Europäer, die einen vergleichbaren kulturellen Hintergrund hatten, noch einige Zeit ein bisschen Französisch sprachen. Man sieht ja noch heute im Berliner Umgangsdeutsch die französischen Einsprengsel aus der damaligen Zeit. Aber dies war sowohl mengenmäßig als auch von der kulturellen Gewichtung her überhaupt nichts, was dem vergleichbar ist, was Europa seit 30 Jahren mit der muslimischen Einwanderung erlebt.

    Armbrüster: Herr Sarrazin, Sie arbeiten nun im Vorstand der Deutschen Bundesbank. Was sagen Ihre Kollegen im Vorstand zu dem Buch?

    Sarrazin: Meine Kollegen kennen es noch nicht, und ich möchte ihrer Wertung, die sie mir, wenn sie es gelesen haben, sicherlich im privaten Gespräch mitteilen werden, insoweit auch nicht vorgreifen.

    Armbrüster: Haben Sie schon einen Anruf bekommen von Axel Weber?

    Sarrazin: Axel Weber weiß, wie der gesamte Vorstand, dass das Buch erscheint und wann es erscheint. Sonst haben wir darüber noch nicht gesprochen.

    Armbrüster: Es ist aber ja doch erstaunlich, dass wir sonst selten Kommentare aus dem Bundesbankvorstand hören, anders als zu fiskalpolitischen Themen. Warum machen Sie da eine Ausnahme?

    Sarrazin: Ich äußere mich hier als der 65-jährige, der langjährige Beamte und auch für einige Jahre der Politiker Thilo Sarrazin, der mit dem Buch in gewissem Sinne eine Summa historica zu vielen Fragen zieht, die ihn in den vergangen 45 Jahren dienstlich und außerdienstlich beschäftigt haben.

    Armbrüster: Und wie lange können Sie noch SPD-Mitglied bleiben?

    Sarrazin: Ich bleibe SPD-Mitglied bis an mein Lebensende. Ich trat im Herbst 1973 ein. Der Bundeskanzler hieß damals Willy Brandt. Insofern bin ich auch ein Opfer der Willy-Welle, wenn man so will. Willy Brandt hatte, kurz ehe ich in die SPD eintrat, den Zuzugstopp für Gastarbeiter verkündet. Und er hatte einige Monate vorher einen Bundestagswahlkampf gewonnen mit den Worten: Deutsche, ihr könnt stolz sein auf euer Land. Ich weiß nicht, ob eine derartige Wahlkampfüberschrift gegenwärtig in der SPD mehrheitsfähig wäre.

    Armbrüster: Thilo Sarrazin, vielen Dank für das Gespräch.