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Portrait eines Kellners

In seinem neuen Roman zeichnet Alain Claude Sulzer das Portrait eines bewegenden Kellnerlebens. Mit der Geschichte des französischen Kellners Erneste ist ihm ein literarisches Kleinod gelungen.

Von Jochen Schimmang | 25.03.2005
    Das ist keine neue Geschichte: Die große Liebe wird von einer Seite verraten; darauf folgt der große Schmerz, der sich schließlich beruhigt, latent aber immer vorhanden ist, gleichsam eingekapselt; und dann bricht die Kapsel auf, nach dreißig Jahren oder mehr, weil irgend etwas geschieht, was an damals erinnert. Jemand erzählt von dem oder der längst Entschwundenen, eine Nachricht in der Zeitung spricht davon, oder, wie bei Alain Claude Sulzer, es kommt einfach ein Brief.

    Noch einmal: Liebesverrat und der große Schmerz sind kein neuer Stoff, sogar renommierte Literaturwissenschaftler haben sich schon darüber hergemacht. Man kann den Stoff allerdings immer wieder neu erzählen und ihm, wenn das gelingt, so seine Würde geben.

    Das geschieht bei Sulzer, man darf das gleich vorwegnehmen, auf bewegende Art und Weise. Die Würde liegt hier in der Figur des Protagonisten, des Kellners Erneste. Der Roman setzt im September 1966 ein, als Erneste einen Brief aus New York erhält von der großen Liebe seines Lebens, Jakob, von dem er seit dreißig Jahren nichts mehr gehört hat. Erneste arbeitet jetzt im Restaurant am Berg; damals, Mitte der 30er Jahre, hat er im Parkhotel gearbeitet, am Brienzer See, und den zwei Jahre jüngeren Jakob, der aus Deutschland kam, als Kellner angelernt und sich in ihn verliebt. Später wird Jakob mit einem berühmten Gast des Parkhotels nach Amerika gehen, einem Schriftsteller, bei dem sich unschwer Züge von Thomas Mann erkennen lassen. "Jakob folgte ihm und seiner Familie im Kostüm des Dieners als Liebhaber nach Amerika", heißt es im Roman. Das ist der Liebesverrat, nach dem Erneste sich wieder einrichten muss in seinem Leben. Nach 30 Jahren wird sich Jakob noch einmal brieflich melden; der Schriftsteller, der nach der Emigration wieder in der Schweiz lebt, spielt auch noch eine Rolle - die Details müssen hier nicht referiert und vorweg verraten werden. Sulzers Roman eher leiser Roman wird von einer durchaus spannend konstruierten Handlung angetrieben. Die eigentliche Spannung und die Qualität des Buches liegen jedoch woanders.

    Sie liegen in der Zeichnung der Figur des französischen Kellners Erneste. Wir begegnen Erneste auf den ersten Seiten als altem Kellner, schon über fünfzig, dessen Leben in eherner Gleichförmigkeit abläuft. Diese Gleichförmigkeit wird jedoch begleitet von einem stillen Glücksgefühl, ja, fast könnte man von einem Triumph sprechen. Erneste ist vor allem derjenige, von dem die anderen nichts wissen, und das macht seine Stärke aus. Wenn der Blick des Anderen auf ihm ruht, durchdringt er ihn nicht. In seiner so perfekten wie unberührbaren Art, zu dienen, könnte er dem Universum Robert Walsers entstammen.

    Seine Eltern und seine Geschwister hat er sehr früh verlassen, um zunächst in Straßburg Kellner zu lernen. "Er liebte seinen Beruf", heißt es am Anfang "weil dieser ihm die Befreiung brachte, nach der er sich so lange gesehnt hatte, die Freiheit, unbeobachtet zu tun und zu denken, was ihm beliebte. Daran hatte sich seit seiner ersten Stelle vor 35 Jahren nichts geändert. Er war frei. Er war nicht reich, aber er war erlöst. Ob seine Geschwister noch lebten, wusste er nicht..."

    Erlösung ist ein starker Begriff, aber man versteht: Erneste ist vor allem aus den familiären Bindungen erlöst und geht keine anderen ein, bis Jakob kommt. Seine einzige Bindung gilt seinem Beruf, dem Hotel, dem er so lange dient und das für ihn einen so institutionellen Charakter hat wie für andere die Armee oder die Kirche. Erneste ist der Einverstandene par excellence, und das macht sein Glück aus: "Wenn jemand Pläne für ihn machte, dann waren es andere, die sich darin auskannten und denen er sich gerne unterwarf. Die Arbeit im Hotel gab ihm mehr als nur ein Gefühl von Sicherheit, er fühlte sich geborgen. Dass er einsam war, nahm er kaum wahr, er fühlte sich geborgen."

    Sulzers große Leistung, die er übrigens fast nur über seine ruhig dahin fließende, sorgsam durchgearbeitete Sprache bewerkstelligt, besteht darin, Erneste nicht zu einer komischen Figur oder einer unbewusst vegetierenden Kreatur zu degradieren. Wenn Erneste einverstanden ist und sich unterwirft, dann hat das nichts Dumpfes, sondern ist eine bewusste Entscheidung, die ihm überhaupt erst ermöglicht, sein Leben zu führen. Es ist beinahe, als hätte er Arnold Gehlen und dessen Ausführungen über die Notwendigkeit der institutionellen Bindung für den Menschen gelesen. Das hat er natürlich nicht, denn Erneste liest überhaupt nicht, und er vergisst auch die Titel ebenso wie den Inhalt der Filme, die er dann und wann sieht.

    Aber von seiner dienenden Position aus ist er ein exzellenter Beobachter, der zum Beispiel sehr genau weiß, wie sich in dem Restaurant, in dem er bedient, der einsame Esser unter lauter Paaren, Gruppen und Familien fühlt, eine Beobachtung, die in der herrlichen Formel mündet: "Arroganz ist ein durchlässiger Panzer, wenn man allein essen muss."

    Weil Erneste ein so guter Beobachter ist und sowohl die eigene Situation wie die der anderen jederzeit reflektiert, weiß er auch sofort, in welchem Augenblick sein Schutz zusammenbricht: als er nämlich den neuen Kellner Jakob am See von der Fähre abholt und dieser ihm die Hand gibt. "Die kleine Welt", heißt es, "in der sich Erneste so sorglos eingerichtet hatte, ging im Schutz von Jakob Meiers Schatten unter..." Das ist die zerstörerische Kraft der Liebe, mit den Demütigungen, die auch damit verbunden sind, und in diesem Fall mit dem Verrat, der an ihrem Ende steht. Davon erzählt Sulzer auch, mit aller Wucht und Härte und dabei jederzeit in dieser gebändigten, durch gefeilten Sprache. Natürlich liegt eine schwere Melancholie über dem ganzen Buch, aber die hat nichts Weiches, Süßliches, sondern ist ganz hart und undurchdringlich. Am Schluss, soweit das möglich ist, gibt der Autor Erneste seine von mehreren Seiten beschädigte Würde zurück.

    Wenn die Kritik nicht die wuchtigen Stoffe und voluminösen Werke vorstellen kann, ihr ein Buch aber dennoch sehr gut gefällt, spricht sie gern von einem "Kleinod". Ich gestehe, dass mir in diesem Fall auch nichts Besseres einfällt, und ich wünsche, dass möglichst viele Leser dieses Kleinods ansichtig werden.

    Alain Claude Sulzer: Ein perfekter Kellner
    Roman. edition epoca, Zürich
    219 Seiten, 21 €