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Portugal
Der Fluch der guten Tat

Nach den Waldbränden steht in Portugal der Wiederaufbau an. Reichlich Spenden gingen ein, aber vieles davon ist unbrauchbar: zu viele Kleider, zu viele Kinderschuhe, zu viele Lkw. Die Bewohner fragen sich: Ist es undankbar, das zu sagen?

Von Tilo Wagner | 23.11.2017
    Ein Schild der Gemeinde Pedrógão Grande wirbt am Straßenrand für den Wiederaufbau.
    "Danke, wir werden wieder leben" - Schild der Stadt Pedrógão Grande mit Dank an die Spender (Deutschlandradio / Tilo Wagner)
    Auf einem Sandplatz im Zentrum der portugiesischen Kleinstadt Pedrógão Grande steht ein riesiges Zelt. Im Innern türmen sich die Pappkartons. Ein halbes Dutzend Helfer sortiert alte Turnschuhe und Kleider, stapelt gebrauchtes Spielzeug und dicke Decken.
    "Es ist unfassbar, was wir hier an Gutem gesehen haben"
    Andre Rente betritt das Zelt. Der deutsche Betriebswirt, in Portugal geboren und aufgewachsen, ist im Auftrag einer portugiesischen Stiftung in einer Region unterwegs, die Mitte Juni von einem verheerenden Waldbrand heimgesucht wurde: 64 Menschen kamen ums Leben, Hunderte verloren ihr Eigenheim. Rente hilft bei der Koordination des Wiederaufbaus und kümmert sich auch um die vielen Spenden, die von Kirchen, Vereinen, Unternehmen und Privatpersonen in Portugal und Europa in die Kleinstadt verschickt wurden.
    "Also, wir haben insgesamt zwei große Zelte und noch mehr Material auf dem Gelände zerstreut gehabt. Die LKW kamen einer nach dem anderen an, aus Frankreich, aus Luxemburg, aus der Schweiz, aus Portugal, aus Spanien, von überall ein bisschen. Es ist unfassbar, was wir hier an Gutem gesehen haben, denn nicht nur die Portugiesen im Inland und Ausland haben sich mobilisiert, auch andere europäische Staaten haben es gesehen, haben mithelfen wollen und Mitleid gehabt."
    Durch die Ruinen eines abgebranntes Haus sind verkohlte Baumstämme zu sehen.
    Das Feuer zerstörte Häuser und Wälder in der Region (AFP / Patricia de Melo Moreira)
    Insgesamt zählte Andre Rente 31 Sattelzüge, die im Sommer in Pedrógão Grande eintrafen. Der Ort ist von den Waldbränden nicht direkt betroffen worden, aber im Landkreis brannten in vielen kleinen Dörfern insgesamt rund 200 Häuser vollständig aus, 200 weitere wurden beschädigt. Überwiegend ältere Menschen haben ihren Besitz verloren - in einer Region, wo der Anteil der Senioren an der Bevölkerung so hoch ist wie in kaum einer anderen Gegend in Europa. Seit Jahrzehnten ziehen die Jüngeren aus den Waldgebieten in die Städte an der Küste, auf der Suche nach einem Job und einem besseren Leben. Dennoch trafen in Pedrógão Grande Spielzeug und Kleidung für Tausende von Kindern ein.
    Unzählige Kinderschuhe für nur 600 Kinder
    In einer alten Schule gegenüber des Lagerzelts stapeln sich kleine Schuhe entlang der langen Gänge und in den Klassenräumen. Andre Rente sagt:
    "Also, wie Sie sehen, das zeigt genau, wie die Menschen nicht die Realität kennen, wie tatsächlich die Regierungen nicht die konkreten Informationen ausgebreitet haben, damit die Menschen und die Mitbürger Europas genau wissen könnten, was sie zur Verfügung stellen sollten, was die Bedürfnisse waren. Und, wie gesagt, man sieht, 3000 Einwohner leben in der ganzen Gemeinde mit weniger als 600 Kindern, und das alles hier sind Kinderschuhe, dafür haben Sie nicht mal die Kinder."
    Freiwillige sortieren am 20.06.2017 Spenden in Pedrógão Grande
    Die Helfer wurden in Pedrógão Grande förmlich mit Spenden überschüttet - viele der Kleiderspenden werden nun allerdings weitergespendet (imago stock&people / Zhang Liyun )
    Das sei nur ein Beispiel für die Unmengen von Kleiderstücken, die in dem Ort eingetroffen sind, sagt Andre Rente. Tagtäglich waren den ganzen Sommer lang rund zwei Dutzend freiwillige Helfer und Mitarbeiter der Stadtverwaltung damit beschäftigt, die Kleiderspenden zu sortieren, zu verpacken und darauf zu warten, dass sie irgendwann wieder woandershin gebracht werden. Aber eigentlich, so Andre Rente, hätten die Menschen in den Waldbrandgebieten viel dringendere Dinge erledigen können.
    "In einem Drama, wo die Menschen alles verloren haben und sich jetzt langsam erst wieder aufrecht stellen, hat jetzt dieses kleine Rathaus mit einem jährlichen Budget von sechs Millionen Euro und quasi 100 Mitarbeitern ... stellt sich jetzt noch dem anderen Drama, nämlich: Wir hätten vielleicht einen oder zwei LKWs ganz gut gebrauchen können, aber was machen wir jetzt mit den anderen 29? Und die zweite Frage: Was verlangt man von uns und wieviel müssen wir dafür bezahlen, es wieder an jemanden weiterzugeben, der es wirklich gebrauchen könnte?"
    400 Häuser neu zu errichten, aber kaum Geld dafür
    Andre Rente hätte sich gewünscht, dass anstelle der vielen materiellen Güter mehr Spendengeld nach Pedrógão Grande geflossen wäre. Eine Aktion der Caritas Portugal hatte über 1,8 Millionen Euro einsammeln können, über Stiftungen, Unternehmen und über ein Solidaritätskonzert kamen noch einmal schätzungsweise 10 Millionen Euro zusammen. Doch das Geld reicht nicht für den Aufbau der 400 zerstörten Häuser und die Anschaffung von verbranntem Hausrat, Nutztieren und Forst- und Landwirtschaftsgeräten. Weil viele Eigentümer nicht versichert waren, stehen sie jetzt mit leeren Händen da. Deshalb hat die EU-Kommission Anfang November aus dem EU-Solidaritätsfonds 1,5 Millionen Euro Vorschuss gezahlt, damit die Aufbauarbeiten weitergehen können.
    In Pedrógão Grande sind die Menschen dankbar für jede Spende. Und deshalb geben sie sich große Mühe, die vielen Decken, Schuhe, Spielsachen und Kleider, die gespendet wurden, aber niemand wirklich braucht, mit großer Sorgfalt zu behandeln. Das Motto scheint klar: Niemand will jemanden offen dafür kritisieren, dass er zu viel gespendet habe. Andre Rente sagt:
    "Jetzt ist unsere Mission, diese Übermenge, die wir tatsächlich hier im Dorf oder im Land nicht mehr brauchen, weiter zu spenden für diejenigen, die es tatsächlich brauchen. Ob es im Irak ist oder in der Südtürkei oder jetzt in Haiti oder in Santo Domingo."