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"Problematische Liebe" zu Israel

Der 1954 in Israel geborene Schriftsteller David Grossman engagiert sich öffentlich in der Friedenspolitik. Und das nicht erst seit sein Sohn 2006 im Libanon-Krieg fiel. Dabei erweist er sich bei aller Kritik an den politischen Eliten Israels als Patriot, der die Auswirkungen der Dauerpräsenz von Krieg auf die Moral der Menschen analysiert. "Die Kraft zur Korrektur" liefert differenzierte Einblicke in das Innenleben der israelischen Gesellschaft.

Von Martin Sander | 28.08.2008
    Zu den frühen, prägenden Vorstellungen des israelischen Schriftstellers David Grossman gehört die von einem Tunnel. Dieser Tunnel führt aus einem kargen Neubauviertel Tel Avivs direkt in den Kosmos des Schtetls, der traditionellen Lebenswelt der jüdischen Diaspora in Osteuropa. Als Achtjähriger hatte der 1954 in Israel geborene Grossman von seinem Vater eine hebräische Übersetzung der Geschichten von Scholem Alejchem geschenkt bekommen, dem jiddischsprachigen Klassiker der Schtetl-Literatur. Noch Grossmans Vater war gewissermaßen im Kosmos von Scholem Alejchem - in einer galizischen Kleinstadt - groß geworden, dann aber 1936 nach Palästina ausgewandert.

    In seinem Essay unter dem Titel "Bücher, die mich gelesen haben" schreibt David Grossman über die Faszination, die Scholem Alejchems Geschichten von Tewje dem Milchmann und anderen Protagonisten auf ihn ausübten. Er habe eine längere Zeit fest an die außerliterarische Realität dieser Welt am anderen Ende seines imaginären Tunnels geglaubt.

    Als ich etwa neuneinhalb Jahre war, wurde mir mitten in der Trauerfeier am Gedenktag für die sechs Millionen Opfer der Shoah, mitten in einer jener unsensiblen, abgedroschenen hilflosen Zeremonien, mit einem Mal klar: Diese sechs Millionen, diese Ermordeten, diese Opfer, diese "Märtyrer der Shoah", wie man sie auch nannte - das waren meine Leute. Das waren Mottel, Tewje, Lili und Shimek. Auf dem glühend heißen Asphalt des Schulhofs wurde mir das Schtetl auf einen Schlag genommen. Es war das erste Mal, dass ich begriff, was der Holocaust bedeutete.

    David Grossman charakterisiert die widersprüchliche Haltung der israelischen Gesellschaft in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts: Auf der einen Seite steht die öffentliche Erinnerung an den Holocaust als Pflichtübung, auf der anderen Seite wird das in ihm ausgelöschte Leben der jüdischen Diaspora im östlichen Europa tabuisiert, denn Israel zeigt sich der Zukunft zugewandt, präsentiert sich modern und stark.

    Von jenen Jahren seiner Kindheit bis heute untersucht David Grossman das besondere Selbstverständnis seines Landes. Im Mittelpunkt von sechs zumeist aus aktuellem Anlass entstandenen Beiträgen über Politik und Literatur steht das gespaltene Verhältnis einer weitgehend säkularen Gesellschaft zu seinem besonderen religiösen und kulturellen Erbe.

    Grossman analysiert die Auswirkungen der Dauerpräsenz von Krieg auf die Moral der Menschen und diagnostiziert eine Art doppelter Buchführung, den durch die unablässige Bedrohung verfestigten Ad-hoc-Kodex eines "Notstands-Wertesystems". Dieses System brutalisiere das Denken und bringe die dagegen aufbegehrende innere Stimme des Individuums immer wieder erfolgreich zum Schweigen. Der Leser lernt zugleich die Strategien vieler Israelis kennen, sich einer zermürbenden Dauerkonstellation, bestehend aus militärischer Gefährdung, Werteverfall und Korruption zu entziehen.

    Hunderte von Israelis belagern Woche für Woche die Tore der polnischen Botschaft in Tel Aviv, um die polnische Staatsbürgerschaft zu erwerben - man stelle sich die grausame Ironie vor, die darin enthalten ist. Polen!. Sie wollen auf diesem Weg in den Besitz eines zusätzlichen Passes gelangen, um sich und ihren Kindern den Umzug in die Staaten der Europäischen Gemeinschaft zu erleichtern, um dort zu arbeiten, aber durchaus auch, um sich eine zusätzliche Option auf Schutz und die Flucht aus Israel zu verschaffen.

    Die Gewalt, die durch Anschläge gegen Israel, aber auch von Israel gegen seine palästinensischen Nachbarn ausgeübt werde, habe bei der Bevölkerung des Landes zu einem tiefen Orientierungsverlust geführt, diagnostiziert Grossman. Er selbst, dessen Sohn vor zwei Jahren im Libanon-Krieg fiel, versucht sich gegen die traumatisierende Wirkung des Nahost-Konflikts nicht nur durch seine literarische Arbeit zu wehren, sondern auch durch sein öffentliches Engagement in der Friedenspolitik. Dabei erweist er sich bei aller Kritik an den politischen Eliten Israels als Patriot mit einer, wie er es in einer Gedenkrede für den ermordeten Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin formuliert, "problematischen Liebe" zu seinem Land.

    Ich bin ein durch und durch säkularer Mensch, und dennoch ist die Gründung und die pure Tatsache der Existenz des Staates Israel für mich eine Art Wunder, das uns als Volk geschah. Ein politisches, nationales und menschliches Wunder. Ich vergesse dies nicht einen Moment. Auch nicht, wenn vieles in unserer Realität mich empört und deprimiert, auch nicht, wenn das Wunder immer mehr in Routine und Armseligkeit, Korruption und Zynismus zerfällt. Und auch wenn die Realität wie eine schlechte Parodie des Wunders wirken mag, vergesse ich sie nicht.

    Verfasst von einem ebenso analytisch begabten wie leidenschaftlich argumentierenden Zeitgenossen und Schriftsteller liefert dieser Band unter dem Titel "Die Kraft zur Korrektur" ebenso spannende wie ungewöhnlich differenzierte Einblicke in das Innenleben der israelischen Gesellschaft aus nahezu einem halben Jahrhundert.

    David Grossman: Die Kraft zur Korrektur. Über Politik und Literatur.
    Aus dem Hebräischen von Vera Loos und Naomi Nir-Bleimling,
    Hanser Verlag, 149 S. 15,90 Euro