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Propaganda gegen Jungen-Überschuss

Chinas Ärzte dürfen bei Ultraschall-Untersuchungen das Geschlecht des ungeborenen Kindes nicht verraten. So sollen Abtreibungen verhindert werden. Denn die Bauern wünschen sich traditionell einen Sohn als Stammhalter. Die kommunistische Regierung versucht nun, mit einer massiven Propaganda die traditionelle Denkweise zu durchbrechen.

Von Eva Corell |
    Mathematikunterricht in der Grundschule von Jingxian. Der Lehrer schreibt einfache Formeln an die Tafel, die Viertklässler wiederholen sie im Chor. Eine ganz normale chinesische Dorfschule, 30 Kinder an klapprigen Holztischen zwischen nackten Betonwänden, doch auffallend ist: Jungen sind deutlich in der Überzahl. Nur etwa ein Drittel der Schüler in Jingxian sind Mädchen. Lehrer Jiang weiß: Töchter sind in Chinas Bauernfamilien unerwünscht, werden oft erst gar nicht in die Schule geschickt.

    "Unserem Dorf geht es noch relativ gut, aber in den ärmeren Gebieten dürfen nur die Söhne die Schule besuchen. Selbst die Familie meiner Schwägerin gibt kein Geld aus für die Schulausbildung ihrer Töchter."

    Die Provinz Jiangxi ist trauriger Spitzenreiter eines Negativrekords in China: Nirgends ist das Ungleichgewicht der Geschlechter größer, nirgends haben Mädchen weniger Überlebenschancen als hier. Das beginnt schon bei der Geburt. Auf 100 Mädchen werden 138 Jungen geboren, so hat die letzte Volkszählung ergeben. Dafür gibt es keine biologische Erklärung. Schuld ist die traditionelle Vorstellung, dass das Glück einer Familie vom männlichen Stammhalter abhängt.

    "Bei uns auf dem Land will fast jeder einen Jungen", sagt Bäuerin Xiao Hailan, "denn nur der kann den Familiennamen fortsetzen. Jungen sind kräftiger, besser geeignet für die schwere Arbeit auf dem Ackerboden. Ein Mädchen heiratet und geht weg. Schon deshalb können sich die Eltern im Alter nur auf die Söhne verlassen. Jedenfalls denken so die meisten Leute."

    Das Leben in Jingxian läuft ab wie seit Jahrhunderten - Wäsche gewaschen wird am Fluss, auch wenn Bäuerin Xiao das zunehmend schwer fällt. Sie ist im siebten Monat schwanger. Eltern und Schwiegereltern hoffen natürlich auf einen Sohn, der Druck ist groß. Mädchen gelten als "po-chu-qü-de shui", wörtlich: ausgeschüttetes Wasser. Weil sie heiraten und zur Familie des Mannes ziehen, oft ohne Spuren zu hinterlassen. In den Stammbäumen von Jiangxi tauchten lange überhaupt keine Frauennamen auf. Die Ein-Kind-Politik der Pekinger Regierung hat das Ungleichgewicht noch verstärkt. Seit man das Geschlecht eines Kindes im Mutterleib bestimmen konnte, stieg die Abtreibungsrate bei Mädchen rasant.

    Ultraschall-Untersuchung im Volkskrankenhaus der nahe gelegenen Kreisstadt Gao-An: Auf dem Monitor sind deutlich Kopf, Herz und Wirbelsäule des sechs Monate alten Fötus zu erkennen. Doch den Monitor kann Bäuerin Xiao von ihrer Untersuchungsliege aus nicht sehen – eine Vorsichtsmaßnahme der Ärzte. Alarmiert durch die hohe Zahl von Abtreibungen ist es inzwischen in ganz China gesetzlich verboten, das Geschlecht eines Kindes beim Ultraschall zu verraten.

    "Wir halten uns streng an die Vorschriften", betont Chefärztin Liang, Leiterin der Frauenabteilung von Gao-An. "Keiner unserer Ärzte würde es wagen, das Geschlecht eines Babys zu bestimmen. Er riskiert damit seinen Job und müsste obendrein bis zu 30.000 Yuan Strafe zahlen."

    30.000 Yuan, umgerechnet 3000 Euro, bedeuten in Chinas Provinz ein kleines Vermögen. Trotzdem ließen sich viele Ärzte von Eltern bestechen. Mit Strafen allein bekam die kommunistische Regierung das Problem nicht in den Griff. Die jüngste Propaganda-Offensive in Jiangxi setzt deshalb auf Belohnungen für Familien, die Töchter als gleichwertig akzeptieren.

    Trommeln kündigen den Besuch der Familienplanungsbeamten an. Mit einem weißen Kleinbus fahren sie in Jingxian ein, hinten drin ein Gynäkologenstuhl und jede Menge Propagandaposter. Mitten auf dem Dorfplatz bauen die staatlichen Berater ihren Stand auf, rollen rote Banner aus und verteilen Kondome. "Für Mädchen sorgen" heißt ihre Kampagne, die gerade vor dem chinesischen Neujahrsfest auf Hochtouren läuft. Jetzt kommen die Wanderarbeiter auf Urlaub nach Hause, neun Monate später werden die meisten Kinder geboren.

    "Unsere Arbeit besteht darin, die Familien bei der Geburtenplanung zu beraten", doziert Xing Xuelin, Leiter der Kadertruppe. "Und über die staatliche Politik zur Unterstützung der Bauern aufzuklären. Familien mit Töchtern bekommen im Alter vom Staat eine zusätzliche Rente in Höhe von 120 Euro jährlich. Das hat vielen Bauern die Sorge um die Altersversorgung genommen."

    Auf dem Land sind Ausnahmen von der Ein-Kind-Politik erlaubt: Wenn das erste Kind ein Mädchen ist, darf die Familie ein zweites, oft sogar drittes bekommen. Bauer Zhang Jieping hat sich nach zwei Töchtern verpflichtet, keine weiteren Kinder zu zeugen. Dafür ist er von der Regierung fürstlich belohnt worden:

    "Ich habe von der Familienplanungskommission eine Prämie von 1000 Yuan für den Hausbau bekommen, wir heizen mit kostenlosem Biogas. Außerdem gab es 1600 Baumsetzlinge sowie eine Ackerfräse – alles umsonst."

    Zhang war früher ein einfacher Schweinezüchter, jetzt gilt er als reich – ein Modellbauer, dem die Regierung eine moderne Villa geschenkt hat, damit andere seinem Beispiel folgen. Mädchen werden in Jiangxi seit neuestem vom Staat krankenversichert, für arme Familien ist sogar der Schulbesuch kostenlos. Und: Schwiegersöhne lockt man mit Geld, zur Familie der Frau zu ziehen. Mit solchen Prämien, da ist sich der oberste Familienplaner der Provinz, Feng Hua, sicher, lässt sich die Geschlechterbalance wieder ausgleichen.

    "Ich hoffe, dass wir das Verhältnis in fünf bis zehn Jahren wieder normalisieren können. Denn wenn sich das Ungleichgewicht verstärkt, wäre es möglich, dass Millionen Chinesen später keine Frauen finden. Das würde die Stabilität unseres Staates gefährden."

    Deutlich hat auch Präsident Hu Jintao bereits vor den Folgen des Frauenmangels gewarnt. Experten schätzen, dass zum Ende des nächsten Jahrzehnts 40 Millionen chinesische Junggesellen keine Familie gründen können. Die Folgen: mehr Prostitution, Frauenhandel, Mädchenentführungen – ein Alptraum auch für Pekings Kommunisten, die deshalb weiterhin Ausnahmen von der Ein-Kind-Politik erlauben, so wie im Dorf Jingxian.

    "Die meisten bekommen nach einem Abstand von fünf Jahren ihr zweites Kind, wenn das erste ein Mädchen ist", erzählt Bäuerin Xiao, "viele sogar ein drittes, wenn sie es sich leisten können."

    So ist es trotz Geburtenkontrolle nicht gelungen, Chinas Bevölkerungswachstum zu stoppen - jährlich kommen 21 Millionen Menschen dazu. Schon deshalb will Peking an seiner Ein-Kind-Politik vorerst festhalten.