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Propheten des Niedergangs

Es ist eine einzige These, mit der der 42jährige amerikanische Historiker Arthur Herman ein ganzes, über 500 Seiten starkes Buch bestreitet. Die These ist so schlicht wie alt: Je erfolgreicher das westliche Denken sei, je umfassender sich Wissenschaft, Technik, Aufklärung, Demokratie und Freiheit durchgesetzt haben, desto mehr rede diese Kultur von ihrem Untergang. Die Moderne phantasiert ihre eigene Zerstörung, die Apokalypse als bloßes Hirngespinst also, das sich dafür um so hartnäckiger hält. Herman möchte ihm auf den Grund gehen und es dort mit allen Wurzeln ausreißen.

Peter Michalzik |
    Mit den Gründen für die Endzeitgläubigkeit, wenn es sie denn wirklich geben sollte, hält er sich jedoch merkwürdigerweise gar nicht auf. Er gibt sich da mit dem rein abstrakten Gedanken zufrieden, daß in jedem Fortschrittsglaube als Kehrseite der Medaille auch eine Rückschrittsidee liegt. Um die Verfallsphantasien zu bekämpfen, hält Herman es für ausreichend, diejenigen aufzulisten, in denen er Kulturpessimisten zu erkennen glaubt, und das nachzuerzählen, was er für ihre Gedanken hält.

    Da dürfen wir also bei einem Kurztrip in die griechische Kultur mit dabei sein, in dessen Zentrum für Herman der Begriff der Anakyklosis steht, der Kreislauf des Lebens. Wir klappern dann im Schnelldurchgang die abendländische Kulturgeschichte ab um möglichst flugs im 19. Jahrhundert zu landen. Im wesentlichen kreist Hermans Paraphrase der abendländischen Geistesgeschichte nämlich um die vergangene Jahrhundertwende, weil der notorische Optimist hier das Herz des von ihm verabscheuten Kulturpessimus ausmacht. Denn hier sitzt Friedrich Nietzsche, auf den bei Herman alles zuläuft und der für ihn gleichzeitig der Vater alles decadence-geborenen Denkens ist.

    Nietzsche, das ist Hermans Leitmotiv, ist an allem schuld. Von ihm führe über Martin Heidegger und Ludwig Marcuse eine direkte Linie zum Unabomber - jener vor kurzem verurteilte Mathematiker, der die Welt mit seinen Briefbomben vor dem moralischen Verfall retten wollte. Das Bild, das der amerikanische Vizepräsident Al Gore in seinem Buch "Wege zum Gleichgewicht" 1992 von der Zivilisation gezeichnet hat, entspreche ebenfalls dem nietzscheanischen Pessimismus. Womit auch gleich nachgewiesen wäre, daß das Denken des Unabombers dem Weißen Haus nicht ganz fremd ist - wie übrigens auch umgekehrt: Gores Buch, berichtet uns Herman ausdrücklich, lag bei der Verhaftung in des Unabombers Hütte. Nietzsches Schuld aber ist für ihn damit nicht erschöpft: "Im Grunde sind die heutigen Actionhelden allesamt aus Nietzsches Büchern herausgeschnittene plakative Poster", schreibt Herman. In diesen Filmen behaupte sich allein der Wille zur Macht in der verkommenen Zivilisation. Vielleicht sollte sich Herman mal Filme wie "Terminator II" anschauen, die ganz anders funktionieren. Und die übrigens in jedem einzelnen Film-Stil mehr an historischer Reflexion enthalten, als Hermans ganzes Buch.

    Negative Fixierung nennt man solch blindwütige Einseitigkeit. Dabei ist die Historisierung und Kritik der Apokalypse nicht nur ein interessantes, sondern auch ein wichtiges Unterfangen. Daß es auch anders geht, zeigen übrigens die brillanten Studien des Briten Norman Cohn, dessen Buch "Die Erwartung der Endzeit" im vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung erschienen ist. Cohn hat hier nachgewiesen, wie tief, vielleicht untrennbar, das apokalyptische Denken mit unserer Kultur verschränkt ist. Ihm gelingt nämlich, was Herman nicht mal als ein Defizit seiner Studie erkennt. Er legt den Ursprung des apokalyptischen Denkens frei. Um es kurz anzudeuten: Die frühen Gesellschaften dachten sich selbst stabil, waren aber gleichzeitig von Naturkatastrophen hochgradig bedroht. Der iranische Prophet Zarathustra löste diesen Widerspruch, indem er die Entscheidung zwischen dem glücklich-stabilen oder katasrophal-chaotischen Zustand aus der Gegenwart in die Zukunft verlegte. Damit aber schuf er Heilserwartung wie Apokalypse. Außerdem konnte sich von da an jeder frei entscheiden, ob er am Sieg des Guten in der Zukunft mitarbeiten will. Daß sich solche Gedanken dann bruchlos in das jüdische und christliche Weltbild integrieren ließen und auf diesem Weg bis in unsere Zeit nachwirken, braucht nicht betont zu werden. Bei Herman aber ist von solchen Zusammenhängen keine Rede.

    Die zentrale Frage jeder Kritik des Kulturpessimismus ist heute die nach seiner Berechtigung des: "Welche Bedrohung für unsere Lebensgrundlagen liegt den tatsächlich in unserer Zivilisation?" fragt Herman, aber auch hier gelingt ihm keine Antwort. Die Bedrohung bleibt bei ihm eine bloße Schimäre ohne alle realen Bezüge.

    Hermans Buch leidet an seiner Verteidigung des hemmungslosen Individualismus, der absolut freien Entscheidung, als die er Demokratie versteht. Er merkt dabei gar nicht, daß auch die Idee der Entscheidungsfreiheit, über die wir uns im übrigen kein Urteil erlauben wollen, im Zusammenhang einer Entwicklung entstanden ist, die auch die Idee der Endzeit geboren hat. Hier aber müßte eine ernstzunehmende Untersuchung der apokalyptischen Idee und ihrer Folgen ihren Ausgangspunkt nehmen.