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Protest gegen Frankreichs Regierung
"Wir wollen gehört werden"

Die nordfranzösische Bewegung der "Rotmützen" setzt sich aus Kleinunternehmern, Bauern, Angestellten, Arbeitern und Lokalpolitikern zusammen. Sie protestieren gegen neue Steuern und für die Sicherung ihrer Arbeitsplätze. Ihr Wortführer Christian Troadec fordert unter anderem eine Verfassungsänderung.

Christian Troadec im Gespräch mit Christoph Heinemann | 15.11.2013
    Christoph Heinemann: Für welche Ziele kämpfen die "Rotmützen"?

    Christian Troadec: Erstes Ziel ist Beschäftigung in der Bretagne. Viele Betreibe schließen, Beschäftigte werden entlassen, viele verlieren ihren Arbeitsplatz. Wir wollen in der Bretagne leben, entscheiden und arbeiten.

    Heinemann: …und zwar ohne LKW-Maut…

    Troadec: In der Tat. Die Regierung möchte diese Abgabe einführen. Es ist eigentlich eine gute Idee, den Transport auf der Schiene zu fördern. Nur befindet sich die Bretagne verglichen mit den anderen französischen Regionen in einer geographisch besonderen Lage: Dies ist eine Halbinsel, und wir verfügen über keine Alternativen zum Transport mit LKW. Deshalb fordern wir nicht nur die Aussetzung, sondern die Rücknahme der LKW-Maut. Als Signal, welches die Bretagne für Unternehmen attraktiver macht und Arbeitsplätze fördert.

    Heinemann: Eine LKW-Maut gibt es in mehreren europäischen Staaten und fast überall in Frankreich, warum nicht in der Bretagne?

    Troadec: Ja, das Prinzip ist ja auch nicht schlecht. In Frankreich haben allerdings der Staat und die staatliche Eisenbahn SNCF bisher dafür gesorgt, dass der Gütertransport nicht über die Schiene läuft. Seit mehr als 40 Jahren hat man hier auf den Lastkraftverkehr gesetzt. Jetzt, da die Wirtschaft und die Ernährungsindustrie in der Krise stecken, kann man den Leuten nicht einfach sagen: "Ihr müsst andere Transportmittel nutzen", obwohl dafür keinerlei Strukturen geschaffen wurden.

    Heinemann: Fordern Sie letztendlich auch weniger Zentralismus?

    Troadec: Ja, denn anders als in den deutschen Bundesländern, die mit Gesetzgebungsmacht ausgestattet sind, wird in Frankreich alles in Paris entschieden. Und das gilt dann für das ganze Land. Die Bretonen äußern heute deutlich, dass sie Dezentralisierung benötigen und damit die erforderlichen Mittel, um die Region wirtschaftlich zu entwickeln.

    Heinemann: Wollen Sie die französische Verfassung umschreiben?

    Troadec: Das fordern wir in der Tat. Frankreich ist heute der letzte Zentralstaat in Europa. Alle anderen haben eine Dezentralisierung eingeführt: Großbritannien mit Schottland und Wales, in Deutschland gilt dies seit Kriegsende, Spanien mit starken Regionen, Katalonien oder Baskenland, eine anderes Beispiel ist Italien. In allen Staaten besteht heute ein Gleichgewicht zwischen den Entscheidungen auf lokaler und Bundes- bzw. nationaler Ebene. Nur Frankreich bewegt sich auf einem alten Weg, mit einer administrativen Schwerfälligkeit, die schöpferische Energien und Innovationen verhindert.

    Heinemann: Sind Gewalt und Sachbeschädigung Mittel des politischen Kampfes?

    Troadec: Wir haben diese Übergriffe auf die Radaranlagen sofort verurteilt. Mit unserem Kampf hat das nichts zu tun. Wir wollen nicht, daß sich diese Art der Gewalt in Frankreich ausbreitet.

    Heinemann: Sie selbst kommen aus dem linken politischen Spektrum, wieso fordern Sie den linken Staatspräsidenten und seine Regierung heraus?

    Troadec: Als die Linke 2012 gewählt wurde, habe ich François Hollande unterstützt. Wir haben von der Linken große Reformen erhofft. Leider gibt es keine einzige in Frankreich.

    Heinemann: Sollte die Regierung umgebildet, vielleicht ein neuer Premierminister berufen werden?

    Troadec: Wir wollen gehört werden. Wer Premierminister ist, das ist für uns nicht die entscheidende Frage. Wir möchten, dass die Regierung das Volk hört.

    Heinemann: Besteht nicht das Risiko, dass Sie mit Ihrem Protest den Front National stärken?

    Troadec: Im Gegenteil: Nach unserer Meinung wäre der Front National für die Bretagne Gift. Wir bekämpfen seine extremistischen Ideen der Zurückweisung Anderer. Gäbe es uns nicht – sozusagen als Gegengift – würde der Front National Vorteile aus der Lage ziehen und einmal mehr auf der Welle des Leides der Menschen surfen. Zum Glück gibt es uns, sonst könnten einige versucht sein, Front National zu wählen.

    Heinemann: Fühlen Sie sich von Präsident Hollande verraten?

    Troadec: Damit wir uns verraten fühlen könnten, hätte er erst einmal irgendetwas versprechen müssen. Er ist vor allem gewählt worden, weil die Leute Nicolas Sarkozy loswerden wollten. Das war eine Anti-Sarkozy-Wahl, weniger eine Abstimmung für Hollande. Unser Präsident verwaltet das Land eher auf die bekannte Art, als dass er über einen politischen Atem verfügte.

    Heinemann: Wie soll die Regierung das Defizitziel einhalten, ohne Steuern und Abgaben zu erhöhen?

    Troadec: Allein schon durch eine Reform der Politik und der Verwaltung in Frankreich. Teile der Verwaltung verstehen die Menschen überhaupt nicht. Die und auch ein Teil des politischen Betriebes müsste abgeschafft werden. Aber leider passiert das Gegenteil: Einer nach dem anderen wird immer stärker.

    Heinemann: Was erwarten Sie von der Europäischen Union?

    Troadec: Wir sind ausgesprochen proeuropäisch. Wie vielleicht auch Sie und andere gehöre ich der ersten Generation an, die keinen Krieg erlebt hat. Es ist großartig, in einem Europa des Friedens zu leben. Darüber bin ich jedes Mal wieder froh, wenn über Europa geredet wird. Europa benötigt mehr Mitbestimmung, der europäische Bürger muss dem Brüsseler und Straßburger Europa näher kommen. Leider passiert das nicht. Wir erleben stattdessen Sozialdumping. Das könnten die Regierungen rasch abschaffen. Dann könnten Länder durch die europäische Entsenderichtlinie nicht länger davon profitieren, dass Arbeitnehmer verglichen mit dem Lohnniveau der Bretagne für die Hälfte oder ein Drittel der Kosten arbeiten.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.