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Prozess gegen Historiker Juri Dmitrijew
Mildes Urteil gegen Menschenrechtler?

Dreieinhalb Jahre Haft lautet das Urteil gegen den russischen Historiker Juri Dmitrijew. Menschenrechtler sehen im Vorwurf des sexuellen Missbrauchs und im ganzen Prozess einen Versuch der russischen Behörden, den Historiker mundtot zu machen. Er hatte Verbrechen der Stalin-Zeit öffentlich gemacht.

Von Thielko Grieß | 22.07.2020
Das Foto zeigt den russischen Menschenrechtler und Historiker Juri Dmitrijew, Regionalchef von Memorial in Karelien.
Der russische Historiker Juri Dmitrijew forschte über die Verbrechen der Stalin-Zeit (imago / TASS / Igor Podgorny)
Schuldig ist der Historiker Juri Dmitrijew nach Auffassung des Gerichts in einem Punkt: Er soll sich an seiner Adoptivtochter vergangen haben. Dafür muss er drei Jahre und sechs Monate in Haft, auf die jedoch die Untersuchungshaft angerechnet wird. Sein Anwalt rechnet damit, dass sein Mandant im Herbst wird freikommen können.
"Juri Dmitrijew hat das Urteil recht positiv aufgenommen. Er ist ein sehr beherrschter Mensch. Er ist überzeugt und weiß, dass er unschuldig ist. Er hat mir danke gesagt."
Da russische Gerichte in Fällen wie diesem meist dem Antrag der Staatsanwaltschaft folgen, und die hatte 15 Jahre Straflager gefordert, wurde dieses vergleichsweise milde Urteil vor dem Gerichtsgebäude in Petrosawodsk begrüßt. Jan Ratschinskij, Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Memorial, am Nachmittag mit seiner Deutung:
"So wie ich es verstehe, war das Ziel der Staatsmachtstrukturen und teilweise auch des Gerichts, etwas zu finden, womit die Staatsanwaltschaft nicht öffentlich beschämt wird und nicht gleichzeitig ein Mensch mit der Haftstrafe, die die Staatsanwaltschaft gefordert hatte, umgebracht wird."
Misstrauen in russische Justiz
Die Unterstützer sind sich also einig: Sie glauben, Dmitrijew habe sich nicht an seiner Tochter vergangen. Der Vorwurf sei politisch konstruiert, um die Arbeit des Historikers zu erschweren.
Weil der Prozess hinter verschlossenen Türen stattfand und sich die Staatsanwaltschaft nicht äußerte, sind die Details für Außenstehende nicht endgültig zu beurteilen. Für die Position derer, die von einem politischen Urteil sprechen, spricht allerdings das begründete Misstrauen in die Justiz Russlands, die nicht unabhängig ist. Und gerade Menschenrechtler, die sich einer dem Staat missfallenden Arbeit widmen, können schnell Beklagte und Verurteilte werden.
Dmitrijew ist biologischer Vater zweier Kinder und hatte gemeinsam mit seiner Frau zusätzlich eine Adoptivtochter angenommen. An ihr soll er sich vergangen haben, was er stets bestritten hat.
Freispruch wurde aufgehoben
In einem ersten Urteil vor zwei Jahren war Dmitrijew in erster Instanz freigesprochen worden. Das Oberste Gericht der Teilrepublik Karelien hob das Urteil dann jedoch auf, woraufhin der zweite Prozess begann, der heute zu Ende ging. Und er hatte einen noch schwerer wiegenden Vorwurf zu begutachten - eben des Missbrauchs.
Das Mädchen, heute ein Teenager, lebt inzwischen bei seiner leiblichen Oma. Dmitrijew und sie haben keinen Kontakt mehr. Es gibt nach Medienberichten Hinweise darauf, dass auf die Heranwachsende Druck ausgeübt wurde, um Aussagen zu erhalten, die ihren Ziehvater belasten.
Es gab aber auch entlastende Expertisen, argumentiert Natalja Solschenizyna, Witwe des Schriftstellers und Nobelpreisträgers Alexander Solschenizyn, der das Buch "Archipel Gulag" schrieb.
"Es gab drei Gutachten über Juri Dmitrijew, die vollständig bestätigen, dass er in jeder Beziehung ein absolut normaler Mensch ist, von dem man nicht das vermuten kann, was man ihm vorwirft."
Jede Hinrichtung konnte er belegen
Juri Dmitrijew hat als Historiker über Jahrzehnte die Identität von Erschossenen in Massengräbern unter anderem in Sandarmoch recherchiert, einem Ort einige hundert Kilometer nordöstlich von Sankt Petersburg.
"Dank Dmitrijews Suche in Archiven kennen wir heute die Namen aller in Sandarmoch Hingerichteten. 6.241 Namen, ihr Geburtsjahr, ihren Beruf, das genaue Datum des Arrests, des Urteils und der Hinrichtung", erklärt Irina Flige, Direktorin des Sankt Petersburger Zweiges der Menschenrechtsorganisation Memorial.
"Jede Hinrichtung konnte er mit Einträgen in Archivdokumenten belegen. Es gibt in ganz Russland keinen anderen, auf diesem Niveau dokumentierten Ort der Opfer staatlichen Terrors."
Die Aufarbeitung dieses historischen Kapitels begann erst mit dem Ende der Sowjetunion möglich zu werden. Heute, nachdem Russlands Führung längst eine andere Geschichtspolitik betreibt, ist das Graben in vergangenen Jahrzehnten wieder schwieriger geworden. Es ist nicht verboten, aber es wird erschwert, wo es nur geht. Die Organisation Memorial, der Dmitrijew angehört, trägt den diffamierenden Stempel "Ausländischer Agent". Die öffentliche Debatte über den gewaltsamen Tod vieler Menschen im Auftrag des Staates vor Jahrzehnten ist erloschen.