Dienstag, 19. März 2024

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Psyche und Seele
"Ich bin für strenge Trennung von Psychotherapie und Seelsorge"

Als Psychiater und Theologe befasst sich Manfred Lütz intensiv mit psychischen Krankheiten und der Psychotherapie. Dabei müsse es eine strikte Trennung zur seelsorgerischen Arbeit geben. Diese funktioniere auf Augenhöhe, während in der Psychotherapie asymmetrisch gearbeitet werde, sagte Lütz im Dlf.

Manfred Lütz im Gespräch mit Christiane Florin | 25.09.2020
Surreale Illustration: eine Wolke zwischen Hut und Körper eines Menschen.
Surreale Illustration "Psyche und Raum": "Die Psyche schafft Distanz und ist aber auch etwas, was ich wissenschaftlich einfach bearbeiten kann", sagt Manfred Lütz (Getty / iStockphoto)
Der Psychiater und Theologe Manfred Lütz schreibt zu vielen Themen, über Gott und über das Glück, über die Geschichte des Christentums und die Kunst des Bluffs. Jetzt sind zwei Bücher gleichzeitig erschienen, die sich mit der Psyche und der Seele befassen: einmal die aktualisierte Fassung des Bestsellers: "Neue Irre. Wir behandeln die Falschen" und ein Gesprächsband mit dem berühmten amerikanischen Psychoanalytiker Otto Kernberg.
Christiane Florin: Herr Lütz, warum sind Sie Psychiater geworden?
Manfred Lütz: Ich habe am Schluss des Medizinstudiums im praktischen Jahr einen Teil in der Psychiatrie gemacht und fand das ganz faszinierend. Ich fand es intellektuell am interessantesten. Ich bin auch so ganz unpraktisch. Chirurgie wäre für mich nie infrage gekommen. Ich habe erlebt, dass die Psychiatrie eigentlich die erfolgreichste medizinische Disziplin der letzten 50 Jahre ist. In der Psychiatrie ist die Liegezeit von über drei Jahren auf ungefähr drei Wochen reduziert. Man kann psychische Krankheiten heilen! Das wusste ich selbst nach dem Medizinstudium so nicht. Es ist einfach faszinierend, wenn man erlebt, wie ein tief depressiver Mensch, der sich umbringen wollte, nach drei Monaten Behandlung plötzlich sagt: "Herr Doktor Lütz, warum habe ich so einen Unsinn gedacht? Mir geht es gut". Das zu erleben ist etwas unglaublich Schönes.
Christiane Florin: Das Happy-End wollte ich mir eigentlich für das Ende des Gesprächs aufbewahren. "Irgendwas mit Psyche" ist heute sehr beliebt. Rund 85.000 Menschen in Deutschland studieren Psychologie, das ist einer der beliebtesten Studiengänge überhaupt, trotz oder vielleicht auch wegen des Numerus clausus. Womit erklären Sie sich das Interesse an der Psyche?
Der Psychiater und Theologe Manfred Lütz bei der Aufzeichnung der ZDF-Talkshow Markus Lanz im Fernsehmacher Studio auf dem Phoenixhof / Hamburg
Manfred Lütz bei der Aufzeichnung der ZDF-Talkshow Markus Lanz im Fernsehmacher Studio auf dem Phoenixhof (imago / Future Image)
Lütz: Ich kann mir vorstellen, dass man Psychologie studiert, weil man irgendwie keine Religion mehr hat und jetzt sozusagen eine Art andere Weltanschauungen sucht, eine Weltanschauung, die irgendwie wissenschaftlich ist und wo man sozusagen hinter die Dinge schaut. Also, wo man den Menschen überlegen ist, wenn man die Mechanismen kennt, nach denen die denken, nach denen die fühlen, nach denen die Partnerschaften eingehen. So dass die Menschen für einen selber, wenn man Psychologie studiert hat, berechenbarer werden. Das ist aber nicht der Fall. Es ist eine Illusion, aber das erklärt, glaube ich, die große Beliebtheit der Psychologie.
Florin: Das Fach Psychologie wäre aber für Sie nicht infrage gekommen?
Lütz: Doch, es ist auch interessant. Aber die Leute - auch Abiturienten - stellen sich unter Psychologie etwas völlig Falsches vor. Psychologie ist erstmal Mathematik heutzutage. Sie müssen einfach Studien lesen können und müssen Determinanten feststellen können. Das Psychologiestudium hat primär mit psychischen Erkrankungen gar nichts zu tun. Wenn ich im Kabarett auftrete, erzähle ich das manchmal, dass Psychologen von psychischen Krankheiten gar keine Ahnung haben. An der Stelle kann ich dann immer sofort sehen, wer Psychologe ist. Dann ergänze ich das aber immer darum, dass, wenn die dann eine Psychotherapie-Zusatzausbildung haben, dann können die manchmal besser Psychotherapie als Psychiater. Dann sind die auch wieder beruhigt. Aber de facto ist das Psychologiestudium erstmal ein Studium, wie die normalen psychischen Funktion ablaufen. Man macht Werbepsychologie und Betriebspsychologie. Es gibt alle möglichen Bereiche. Die Psychotherapie ist ein ganz spezieller Bereich.
"Die Seele ist die Würde des Menschen"
Florin: Sie haben Medizin studiert, sich dann auf Psychiatrie spezialisiert. Und Sie haben katholische Theologie studiert, sind Diplom-Theologe. Was unterscheidet die Psyche, mit der sie sich als Mediziner beschäftigen, von der Seele, an die sie als Katholik glauben?
Lütz: Seele ist ein etwas diffuser Begriff heutzutage. Früher war der ziemlich klar definiert. Es gab Streit zwischen den Platonikern, zwischen Aristotelikern. In der Philosophie ist der Begriff auch gar nicht mehr beliebt, weil man nicht genau weiß, was man damit meint. Aber ich sage es jetzt mal so, wie ich das verstehe aus meiner Profession als Psychiater, Psychotherapeut und als Theologe: Da ist für mich die Seele eigentlich der Kern des Menschen, das Herz des Menschen, nicht im anatomischen Sinne, sondern der Kern. Also dasjenige, was ich liebe, wenn ich einen Menschen liebe, das ist die Seele. Dasjenige, wovon ich begeistert bin, was mich anspricht, was das "Du" für mich ist, das Einmalige am Anderen. In dieser Seele ist die Würde eines Menschen. Diese Seele hat jeder Mensch, auch ein Behinderter, auch ein schwer psychisch Kranker.
Ein hoch psychotischer Mensch hat diesen Kern, der seine Würde ausmacht. Die Psyche, würde ich jetzt mal sagen, ist für mich ein bisschen das, was die Psychoanalyse den psychischen Apparat nennt, also die Determinanten der Psyche. Zu den Determinanten gehören körperliche Veränderungen im Gehirn, gehören vielleicht irgendwelche Hirnkrankheiten, können auch frühkindliche Erfahrungen zählen, die sozusagen die Freiheit des Menschen begrenzen. Die Seele aber ist der Bereich, den man liebt, aber auch der Bereich, in dem Gut und Böse liegen, also wo das Moralische liegt, was ja nach Kant die Würde des Menschen ausmacht. Ich habe in der Psychiatrie und Psychotherapie eigentlich mit der Psyche zu tun, nicht mit der Seele.
Florin: Das heißt, das Wort "Psyche" schafft eine deutliche Distanz zur Seele des Menschen?
Lütz: Es schafft Distanz und ist aber auch etwas, was ich dann auch wissenschaftlich einfach bearbeiten kann. Deswegen bin ich auch für eine strenge Trennung zwischen Psychotherapie und Seelsorge. Denn Psychotherapie ist immer im besten Sinne manipulativ. Das heißt, ein Experte versucht, die Symptome des Patienten wegzumachen. Das ist auch der Anspruch des Patienten. Das heißt, ich habe eine Methode und mit dieser Methode versuche ich, das wegzukriegen.
Aber wenn es um den Glauben geht, zum Beispiel um einen religiösen Glauben, und ich versuche, jemandem den Glauben sozusagen manipulativ anzumachen, wenn ich das so sagen soll, dann wäre das respektlos vor der Freiheit des Menschen. Der Glaube ist eine freie Antwort. Das heißt, wenn ein Seelsorger mit jemandem zu tun hat, muss er das auf Augenhöhe machen, von Existenz zu Existenz im Sinne von Martin Buber oder von Ich und Du. Die Psychotherapie ist, das muss man sich immer klarmachen, asymmetrisch. Der Therapeut ist der Experte. Und sobald der Therapeut auf Augenhöhe mit dem Patienten geht, sich in den Patienten verliebt, dem Patienten sagt, wie schlecht es ihm - dem Therapeuten - geht, dann ist das Missbrauch.
"Intimste Dinge, die Ihnen kein Mensch normalerweise sagen würde"
Florin: Vor allem im Gespräch mit dem Psychoanalytiker Otto Kernberg gehen Sie auf dieses Thema ein. Sie vergleichen sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche mit dem Missbrauch des Patienten durch den Psychotherapeuten. Da nennen Sie die Zahl von 14 Prozent der Psychotherapeuten, die übergriffig werden. Woher kommt die Zahl?
Lütz: Die Zahl nannte Otto Kernberg, 13 Prozent, sagt er. Das hat er aus Studien. Da sind Psychotherapeuten anonymisiert befragt worden. Die haben das selbst berichtet, dass sie übergriffig geworden sind. Das sind Studien, die sich dann auch immer wieder bestätigt haben.
Florin: Haben Sie in Ihrer langen Berufszeit erlebt, dass die Gefahr der Übergriffigkeit in der Psychatrie größer ist als in anderen Bereichen der Medizin?
Lütz: Ja, klar. Es ist es natürlich so, dass sie eine völlig künstliche Situation haben. Sie begegnen einem Menschen des anderen Geschlechts, der ihnen Sachen sagt, die Ihnen kein Mensch normalerweise sagen würde, intimste Dinge. Sie müssen selber, wenn Sie ein guter Psychotherapeutin mit Ihren eigenen Gefühlen auch umgehen können. Sie haben eine Selbstanalyse vorher gemacht, damit Sie damit richtig umgehen können und nicht übergriffig werden. Sie müssen diese Gefühle, die Sie dann haben, wenn Sie psychoanalytisch arbeiten, zum Beispiel dann auch deuten. Wenn Sie die ausagieren, ist es Missbrauch. Es gibt Leute, die sind nicht gut ausgebildet. Es gibt Leute, die sind auch nicht geeignet für den Beruf gegebenenfalls, die dann diese Grenze überschreiten und das ist insofern ein bisschen ähnlich wie im Bereich der Seelsorge.
Es gab ja diese MHG-Studie, wo die Zahlen ergeben haben, dass Diakone beispielsweise viel weniger missbrauchen als Priester. Man hat es dann einseitig nur auf den Zölibat geschoben. Man kann da ja nur spekulieren. Aber der Unterschied zwischen diesen beiden Berufsbildern ist, dass der Priester auch Beichte hört, dass der Priester als Seelsorger wahrgenommen wird und dass der Priester im Übrigen auch Macht hat, vielmehr Macht. Der Diakon - darunter leiden die armen Diakone auch häufig - haben eben keine Macht. Diakonia heißt ja dienen. Möglicherweise hat das mit diesem Unterschied auch zu tun. Auch eine Beichtsituation ist eine völlig unnatürliche Situation. Da sagt ein völlig fremder Mensch einem Priester die intimsten Dinge, und da muss man dann schon mit umgehen können.
Florin: Otto Kernberg sagt, als sie ihn auf das Thema Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche ansprechen, sehr knapp: "Für mich hat das mit autoritären Strukturen zu tun, gegen die dann rebelliert wird, indem man frevelt." Das heißt, die katholische Kirche ist ein autoritäres System?
Lütz: Ja sicher. Ich glaube, dass Institutionen an sich immer autoritär sind, in gewisser Weise. Autoritär ist natürlich jetzt ein negativer Ausdruck. Aber das hier Autorität eine Rolle spielt. Macht spielt eine Rolle. Macht ist an sich nicht schlecht. Man braucht Macht, um so ein Deutschlandfunk zum Beispiel zu leiten. Aber wichtig ist, dass man reflektiert mit dieser Macht umgeht. Das heißt, Macht muss kontrolliert werden. Das ist wichtig. Und da hat die katholische Kirche hier offensichtlich noch ein paar Aufgaben zu erfüllen.
Florin: Die Klinik, deren Chef Sie waren (das Alexianer-Krankenhaus in Köln) ist spezialisiert auf Suchterkrankungen. Alexianer haben da eine lange Tradition. Sie schreiben in dem Buch "Irre. Wir behandeln die Falschen"...
Lütz: "Neue Irre".
"Die katholische Kirche ist keine therapeutische Einrichtung"
Florin: Darin schreiben Sie, wie wichtig es ist klarzumachen, dass Menschen, auch wenn sie abhängig sind, immer noch eine Wahl haben, entweder zu trinken oder eben auch nicht zu trinken. Ich sehe da einen Widerspruch zwischen dem autoritären System katholische Kirche und Ihrem Plädoyer für die Wahlfreiheit. Wie können Sie das trennen, dass Sie auf der einen Seite Wahlfreiheit für Ihren Beruf brauchen, und auf der anderen Seite ein klar identifizierbarer lehramtsttreuer Katholik sind?
Lütz: Ich bin Chefarzt eines psychiatrischen Krankenhauses gewesen, nicht nur für Sucht, wir haben alle schweren psychischen Krankheiten behandelt. Aber Sie haben schon recht: Das Therapieprinzip ist für mich gewesen - nicht nur bei Sucht, sondern auch bei den anderen Dingen - die Wahlfreiheit. Das heißt, der Patient bestimmt das Ziel der Behandlung. Wir haben den Patienten zu dienen bei diesem Ziel, wenn es ethisch ist. Es ist meistens ethisch. Vielfach sind Psychiatrien so organisiert gewesen, dass der Süchtige keine Wahl hat, er muss in die Ergotherapie oder in die Sporttherapie. Ich habe dann eingeführt, dass er das wählen kann, dass er sich das angucken kann und dass er dann kann sagen kann, ob ihm das hilft. Eine Therapie, von der der Patient den Eindruck hat: "Das hilft mir", ist meistens wirksamer als eine, die nur aufgezwungen wird. Das kann man sich auch denken. Nur: Die katholische Kirche - und auch übrigens der Deutschlandfunk - sind keine therapeutischen Einrichtungen.
Florin: Ich möchte nicht immer diese Gleichsetzung katholische Kirche - Deutschlandfunk. Ich habe Sie ja jetzt nach der katholischen Kirche gefragt. Medien funktionieren ein weniger autoritär als die katholische Kirche.
Lütz: Naja, aber Sie haben einen Intendanten.
Florin: Aber das ist kein autoritäres System wie die katholische Kirche. Sie haben übrigens Otto Kernberg an der Stelle nicht widersprochen, als er die Kirche als autoritär bezeichnet hat. Also, noch einmal zur Frage: Auf der einen Seite der Psychiater, der Psychotherapeut, der auf die Wahlfreiheit abhebt und auf der anderen Seite der Katholik, der sich einem autoritären System fügt.
Lütz: Ja gut. Aber Sie kommen jetzt mit dem öffentlichen Klischee, die katholische Kirche sei ein autoritäres System.
Florin: Sie haben ja nicht widersprochen an der Stelle.
Lütz: Das teile ich so nicht. Ich glaube, dass die katholische Kirche auch ein System ist, eine Institution ist, wo Macht ausgeübt wird. Und das finde ich nach wie vor auch bei anderen Institutionen so. Die Anwendung dieses Klischees der Autoritären auf die Kirche führt dazu, dass viele Dinge auch nicht richtig wahrgenommen werden. Zum Beispiel wird immer vom Zwangszölibat gesprochen. Das ärgert mich immer, weil ich das eine Beleidigung von Erwachsenen freien Menschen finde. Der Zölibat, also die Ehelosigkeit der Priester, ist eine der freiesten Entscheidungen, die in Deutschland gefällt werden. Die Leute bereiten sich fünf Jahre lang mindestens auf diese Entscheidung vor. Die sind erwachsen und sagen: Ich wähle das. Genauso wie ein Matrose wählt, dass er Matrose wird und dann lange Zeit ohne Partnerschaft über die über die Weltmeere segelt.
"Ich fühle mich unglaublich frei in der Kirche"
Florin: Ich kann den Zölibat einmal wählen. Aber dann, wenn ich für mich feststelle: "Es geht nicht. Ich schaffe es nicht", dann ist es mit gravierenden Konsequenzen verbunden. Ich glaube, das ist gemeint, wenn jemand das Wort Zwangszölibat verwendet. Dass das eine erstmal freiwillige Entscheidung war, zu der man nicht gezwungen wurde, steht ja außer Frage. Aber noch mal der Konflikt Freiheit - Gehorsam, der ist ja da.
Lütz: Ich fühle mich völlig frei in der katholischen Kirche. Ich bin Laie, ich bin kein Priester. Ich bin kein Diakon. Ich sage, was ich denke. Ich sage auch einem Bischof, was ich denke, gerade dann, wenn ich anderer Meinung bin. Denn er ist nicht verheiratet, hat keine Frau, die ihm das sagt. Das heißt, ich fühle mich völlig frei. Meine Frau ist wahnsinnig aktiv bei uns in der Gemeinde, hat überhaupt keine Funktion. Aber sie ist bei der Tafel aktiv, kümmert sich um die Flüchtlinge, bereitet Schulgottesdienst vor und so weiter. Sie fühlt sich auch völlig frei. Das heißt, es ist die Frage, welche Projektion auf die Kirche passiert und welche Geschichten Sie erzählen.
Es gibt Menschen, die sich tatsächlich in der katholischen Kirche total unfrei fühlen. Ich habe mal ein Buch dazu geschrieben über die Frage des Arbeitsrechts Jahr. Da ist es tatsächlich ein Problem, wenn man zum Beispiel ein Krankenhaus komplett katholisch halten will und dann jemanden entlässt, weil er wieder verheiratet geschieden ist, obwohl er eigentlich nur Operateur ist. Das finde ich einfach anachronistisch. Das wirkt auch auf die Leute ganz merkwürdig. Da wird tatsächlich Macht ausgeübt. Also wenn man Arbeitgeber ist, wird Macht ausgeübt. Wenn man Arbeitgeber ist, wird Macht ausgeübt. Aber ich bin kein kirchlicher Angestellter. Ich bin ganz normaler Katholik, und da fühle ich mich unglaublich frei in der Kirche.
Florin: Das Autoritäre war keine Erfindung von mir, sondern Otto Kernberg hat es in dem Gespräch mit ihnen so deutlich gesagt,
Lütz: Im Zusammenhang mit Missbrauch.
Florin: Im Zusammenhang mit Missbrauch, ja, und als Vergleichspunkt zur Psychotherapie. Vielleicht ist der Punkt nicht, dass Autorität ausgeübt wird. Autorität wird ja in vielfachen zusammenhängen ausgeübt, sondern dass man nicht kenntlich macht: Hier geht es auch um Macht, hier ist eine Asymmetrie, auch im Verhältnis zwischen Therapeuten und Patienten.
Lütz: Ich meinte das auch auf den Missbrauch bezogen. Da, finde ich, ist das gleiche Problem. Missbrauch ist vor allem eine Machtfrage. Sexueller Missbrauch hat auch mit Sexualität zu tun. Aber es ist vor allem eine Machtfrage. Ich glaube, beim Missbrauch in der katholischen Kirche spielt das Ausspielen der Macht des Priesters zum Beispiel natürlich eine Rolle. Da muss man ansetzen und muss sehen, dass diese Macht insofern kontrolliert wird, als man Präventionsmaßnahmen betreibt, dass Opfer sich melden können und sich eben nicht nur bei den Priestern selber melden müssen, sondern bei unabhängigen Instanzen. Da passiert inzwischen auch einiges. Das ist ein Problem, das hat die katholische Kirche, hat die evangelische Kirche, das hat auch der Deutsche Olympische Sportbund übrigens. Das haben alle Institutionen, in denen Machtverhältnisse herrschen und wo die Gefahr besteht, dass man sich abschottet.
"Es gilt erst einmal die Gesundheitsvermutung"
Florin: Eine andere Aussage, die Sie in beiden Büchern sehr stark machen, ist, dass öffentliche Personen, die als auffällig, überdreht, eitel, gefährlich wahrgenommen werden, meistens psychisch völlig gesund sind, anders als im allgemeinen Sprachgebrauch üblich. Dort werden sie als Narzissten, als Psychopathen oder sonstwas bezeichnet werden. Sie betonen: Auch Donald Trump ist unmoralisch, aber nicht krank. Er ist kein Narzisst im pathologischen Sinne. Woher wissen Sie das?
Lütz: Ich habe dieses Buch "Neue Irre. Wir behandeln die Falschen" geschrieben, weil er nach zehn Jahren wichtig war, noch mal den neuesten Stand der Psychiatrie und Psychotherapie zu referieren. Alle Diagnosen, alle Therapien auf dem heutigen Stand der Forschung und auch so ein bisschen allgemeinverständlich, weil es mir darum geht, eine breitere Öffentlichkeit aufzuklären. Es heißt aber "Neue Irre", denn als ich darüber schon mal etwas geschrieben habe, da habe ich mich auf Hitler bezogen, auf Stalin usw.
Und jetzt gibt es diese Leute, die tatsächlich die Chefsessel der Welt erreicht haben, Trump, Bolsonaro, Kim Jong Un. Das finde ich unheimlich. Das Problem ist, dass in der Öffentlichkeit alle Phänomene, die außergewöhnlich sind, sehr schnell pathologisiert werden. Damit hat man das sozusagen in der diagnostischen Schublade: "Aha, der Trump is Narzisst. Dann weiß ich, was das ist. Dann kann ich damit besser umgehen." Das ist erstens eine Diskriminierung von psychisch Kranken. Denn Narzissten sind ganz arme Menschen, die dauernd Zuwendung brauchen, nie genug kriegen, nie befriedigt sind und schließlich keine Freunde mehr haben. Denn die Freunde halten das einfach nicht mehr aus, dem dauernd Beifall zu klatschen. Und dann müssen die in Therapie.
Der Trump hat genügend Freunde. Der Trump leidet überhaupt nicht in der in der Situation. Sie haben Sie insofern recht, als ich den natürlich nicht untersucht habe. Ich vermute das erst einmal nach dem, was ich sehe.
Florin: Es gilt erst einmal die Gesundheitsvermutung.
Lütz: Ja, es gilt die Gesundheitsvermutung. Sehr richtig! Danach muss ich sagen: Der Mann leidet überhaupt nicht. Da besteht überhaupt kein Hinweis darauf. Der Mann hat, glaube ich, von seinem Vater gelernt: Das Wichtigste im Leben ist Geld, Erfolg und der Größte sein. Und dafür darf man alle Schweinereien machen. Der versteht zum Beispiel überhaupt nicht, warum Leute sich darüber aufregen, dass er gefallene Soldaten für Loser hält. In Donald Trumps Weltbild kann man nicht mehr verlieren als das Leben. Das heißt, man ist ein Loser. Er hat sich ja von einem Vietnamkrieg gedrückt. Also, das ist sehr konsequent bei ihm.
Und die Dinge, die er sagt: Wenn er sich über Behinderte lustig macht, macht er das, um den Effekt bei seinen Anhängern zu haben. Er macht das nicht an sich aus Lust am Bösen, sondern er macht das wegen der jubelnden Anhänger, die dann johlen, wenn er einen behinderten Journalisten nachmacht, was ja völlig unmoralisch ist. Ich halte das für viel gefährlicher, als wenn der Narzisst wäre. Wenn der Narzisst wäre, könnte man ihn ja behandeln. Ich glaube, dass er überhaupt keine moralischen Kategorien hat. Man kann Menschen Moral abtrainieren. Ich glaube nicht, dass er es bis zum Letzten geht. Immer gibt es noch einen Funken. Deswegen muss man die dann auch verurteilen, wenn die nachher Verbrechen begehen oder so etwas. Aber man kann das sehr systematisch machen. Und ich habe den Eindruck, bei Trump ist das sehr ausgeprägt.
Ich habe dieses zweite Buch gemacht mit Otto Kernberg, der ist der berühmteste Narzissmus-Experte der Welt. Der hat seine Praxis 500 Meter vom Trump- Tower in New York entfernt. Da rede ich mit dem da drüber. Otto Kernberg hat eine andere Position als ich. Der hält sich streng an die Goldwater-Regel. Die Goldwater-Regel ist damals 1964 begründet worden. Da wurde ein republikanischer Präsidentschaftskandidat, der auch ziemlich schräg war, rassistische Bemerkung machte und so weiter, diagnostiziert öffentlich auch mit Narzissmus. Da hat dann die amerikanische psychiatrische Gesellschaft gesagt: Das ist unethisch,
Florin: Solche Ferndiagnosen darf man nicht machen.
Lütz: Ja. Kernberg hat mir eine Begründung dafür gegeben, die ich auch sehr plausibel findet. Er sagt: Möglicherweise macht so jemand das Ganze nur als Rolle. Möglicherweise ist er gar nicht so. Möglicherweise machte er das nur, weil er Erfolg damit hat. Und Trump hat Erfolg damit. Theoretisch wäre es denkbar, dass der privat ein einfühlsamer, schüchterner, zurückhaltender Mensch wäre.
Donald Trump zum Nationalfeiertag am Mount Rushmore.
Vernichtendes Psychogramm des Machtmenschen Trump
Gerade erst hat in den USA das Buch von John Bolton für Aufregung gesorgt, schon erscheint das nächste. Es stammt von Mary Trump, seiner Nichte. Für die promovierte Psychologin ist er der "gefährlichste Mann der Welt".
Trump: Krank oder unmoralisch?
Florin: So. Und wenn Sie jetzt sagen: Der ist nicht krank, sondern der ist unmoralisch. Unmoralisch ist keine psychiatrische Diagnose, aber es ist ein Urteil. Das ist jetzt das Urteil des Theologen über Donald Trump.
Lütz: Nein, des Menschen. Ich finde, man muss das auch öffentlich sagen. Das war ja ganz interessant in dem Buch mit Kernberg. Otto Kernberg hat sich noch nie zu Donald Trump öffentlich geäußert wegen der Goldwater-Regel. Dann habe ich ihn gefragt: "Sie sind amerikanischer Staatsbürger. Sie müssen ja demnächst wählen, jetzt mal nicht diagnostisch. Was halten Sie von dem Mann?" Dann hat er gesagt, er hält ihn für total unmoralisch, für eine Gefahr für die Demokratie und hat ihn dann sehr präzise beschrieben.
Dafür würde ich ohnehin plädieren: Ich glaube, wir dürfen Menschen nicht mit Diagnosen in Schubladen stecken und Diagnosen dann sozusagen als Schimpfworte benutzen. Für das, was man normalerweise narzisstisch nennt, kann man egozentrisch sagen, rücksichtslos, unverschämt. Man kann sagen "nur um sich kreisend". Also es gibt sehr viele deutsche Begriffe, schöne Begriffe, die gar nicht mehr verwendet werden, weil man sich nur noch auf diese diagnostischen Kategorien setzt. Das halte ich für einen Fehler.
Florin: Und damit auch eine gewisse Schuldunfähigkeit attestiert. Otto Kernberg sagt, der Erfolg einer Psychotherapie sei, ein normales Leben führen zu können. Damit komme ich auf den Anfang unseres Gesprächs zurück, als sie sagten "geheilt". Nun erfährt man bei der Lektüre auch: Die Grenze zwischen Normalität und Persönlichkeitsstörung ist nicht immer so ganz scharf zu ziehen, sagt Kernberg auch an einer Stelle. Also was ist jetzt normal?
Lütz: Ich habe mal bei einer Visite zu einer Schwesternschülerin gesagt, die mich fragte: "Was ist denn jetzt eigentlich normal? ""Was normal ist, bestimme ich. Ich bin Chefarzt." Ich habe vorher überprüft, dass sie auch Humor hatte. Ich glaube, im Zweifel ist jemand normal, aber merkwürdig wie Sie und ich. Ich glaube, wir müssen aufpassen, dass wir Diagnosen nur auf Phänomene begrenzen, die wirklich auch Leidensphänomene sind. Aristoteles hat gesagt, die Diagnose hat nur den Sinn der Therapie, nur den Sinn der Therapie für leidende Menschen. Das heißt, sie hat eine Dienstfunktionen, ist eine spezielle Erkenntnis, die es sonst nicht gibt, nicht wie eine physikalische Erkenntnis.
Wenn wir uns darauf konzentrieren, dann wird auch deutlich zum Beispiel, dass in der jetzigen Corona Krise es so ist, dass die schweren psychischen Krankheiten gar nicht zugenommen haben. Ich habe mich extra noch mal bei Kollegen erkundigt, wie die Belegungssituation ist. Menschen kommen mit schwersten Krisen klar. Aber wir leiden natürlich ein bisschen darunter, aber nicht in einer pathologischen Weise. Wir sind alle bedrückt davon und nicht jeder, der traurig ist, oder jeder, der verzweifelt ist, ist krank. Im Gegenteil: Wenn jemand nach einer schweren Ehekrise nicht traurig ist, dann ist er möglicherweise gestört. Also ich plädiere dafür, dass man die Öffentlichkeit mehr über psychische Krankheiten aufklärt. Deswegen dieses Buch "Neue Irre", dass man wirklich weiß, was das ist, und jeder muss das wissen. Ein Drittel der Deutschen sind im Leben irgendwann mal psychisch krank. Und die Zweidrittel anderen haben Angehörige, die psychisch krank sind. Man muss das wissen, und die breite Öffentlichkeit muss das wissen. Und wir müssen etwas toleranter mit unseren Merkwürdigkeiten sein, die auch ganz schön sind.
Florin: Ganz am Schluss geht es um den Sinn des Lebens. "Lieben und arbeiten", sagt Otto Kernberg. Beten, sagt er nicht, beten und arbeiten und lieben. Ihre Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens?
Lütz: Er ist ja auch kein Benediktiner, würde ich sagen. Ich habe mit ihm über die Gottesfrage gesprochen. Das war der spannendste Teil des Gesprächs. Da kam er drauf. Er ist sehr nachdenklich geworden an dieser Stelle. Für mich ist der Sinn des Lebens tatsächlich: die Fähigkeiten, die ich habe, so einzusetzen, dass sie fruchtbar werden. Diese Fähigkeiten hat mit der liebe Gott so gegeben, und die muss ich umsetzen. Dann muss ich nachher sehen, dass ich hoffentlich einigermaßen meine Pflicht auch im Leben getan habe. Das ist für mich der Sinn des Lebens.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


Manfred Lütz: Neue Irre - Wir behandeln die Falschen: Eine heitere Seelenkunde. Auf dem neuesten Stand der Forschung. Kösel 2020.

Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? Manfred Lütz im Gespräch mit Otto Kernberg. Herder 2020.