Donnerstag, 18. April 2024

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Psychologe: Pippi Langstrumpf ist zeitlos

Nach Ansicht des Entwicklungspsychologen Herbert Scheithauer sind die Geschichten von Pippi Langstrumpf zeitlos, denn sie behandelten das "Einhalten von Regeln beziehungsweise gerade das Nichteinhalten von Regeln". Pippi könne das Stärkeverhältnis Erwachsene-Kind umdrehen, besitze aber gleichzeitig auch Schwächen. So sei eine Identifikation mit ihr für Kinder einfach, so Scheithauer.

Moderation: Bettina Klein | 14.11.2007
    Bettina Klein: Seit vielen Tagen schon wird sie in den Feuilletons gefeiert. Heute ist ihr Geburtstag. Heute wäre die schwedische Schriftstellerin Astrid Lindgren 100 Jahre alt geworden. Ihre bekannteste Figur war sicherlich die Pippi Langstrumpf, auch der Verfilmungen wegen, populär wie kaum eine andere Kinderbuchheldin. Was bedeutet sie heute noch für die Heranwachsenden oder braucht eine neue Generation eben auch neue Vorbilder? Darüber möchte ich jetzt sprechen mit Professor Herbert Scheithauer. Er ist Entwicklungspsychologe an der Freien Universität Berlin. Er hat sich beschäftigt mit der Rolle von Kinderbüchern für die Entwicklung der kindlichen Psyche. Guten Morgen Herr Scheithauer.

    Herbert Scheithauer: Guten Morgen. Ich grüße Sie!

    Klein: Die Figur der Pippi Langstrumpf als eine Art "role model", war sie an ihre Zeit vor einigen Jahrzehnten gebunden?

    Scheithauer: Nein. In gewisser Weise ist Pippi Langstrumpf zeitlos, denn Pippi Langstrumpf behandelt ja das Einhalten von Regeln beziehungsweise gerade das nicht Einhalten von Regeln. Das ist etwas, was in der Entwicklung von Kindern in dem typischen Alter, wenn sie dann Pippi Langstrumpf lesen oder auf DVD sehen, von besonderer Bedeutung. Das heißt Pippi steht für eine Person, die vieles was sich Kinder in ihrer Fantasie wünschen einfach umsetzen kann. Sie hat eine gewisse Stärke und kann auch das Stärkeverhältnis Erwachsene-Kind sozusagen umdrehen. Gleichzeitig weist sie aber auch Schwächen auf wie zum Beispiel ihr Appetit oder ihre Unwissenheit in manchen Situationen. Das heißt die Kinder können sich einerseits mit Pippi Langstrumpf sehr gut identifizieren, aber andererseits können sie sich auch ein bisschen von ihr distanzieren. Letztlich ist es auch so, dass das Thema Freundschaft, hier die Freundschaft zu Tommy und Annika, berührt wird. Das heißt all diese Themen sind nach wie vor für Kinder heute in diesem Lebensalter von großer Bedeutung.

    Klein: Das heißt man kann nicht sagen, dass die Kindererziehung im Laufe der vergangenen Jahrzehnte tendenziell so libertär geworden ist, dass ein solcher Kontrapunkt der rebellischen und aufmüpfigen Kinderheldin keinen großen Sinn mehr hätte? Diesen Sinn hat sie nach wie vor.

    Scheithauer: Es ist natürlich immer eine Sichtweise, wie man diese Figur erlebt. Ich glaube gerade Ältere oder auch Erwachsene erleben diese Figur anders als Kinder, wenn sie diese Geschichte sehen, die oftmals, auch wenn man sie dazu befragt, ja wie siehst du denn die Pippi, was findest du denn besonders an dieser Figur, eben sagen na ja, die kann so viel Quatsch machen, die kann all das tun was sie will. Das heißt Kinder sehen da oftmals noch eine andere Bedeutung in dieser Figur.

    Klein: Das heißt Sie würden auch nicht unterstreichen, dass man sagt, heute versuchen gerade die Kindertagesstätten, versuchen auch Eltern ihren Kindern Manieren beizubringen und lesen dann eben weniger gerne etwas von der aufmüpfigen Pippi vor?

    Scheithauer: Ich glaube Pippi ist nach wie vor ein Schlager und wird gerne auch im Grundschulalter oder auch im Kindergarten noch vorgelesen, wenngleich sich natürlich die Situation ein bisschen verändert hat. Ich denke vor 20, 30 Jahren haben noch andere Kinder dieses Buch gelesen. Heute haben wir auch eine ganze Gruppe von Kindern und Familien, die sehr bildungsfern sind und sich wahrscheinlich überhaupt nicht mit solchen Büchern beschäftigen würden, wenn nicht automatisch im Kindergarten oder in der Schule dieses Buch auch an sie herangebracht werden würde. In der Entwicklung dieser Kinder spielt die Pippi auch eine ganz andere Rolle. Das heißt es kann sein, dass Pippi Langstrumpf gerade für Kinder eine besondere Bedeutung hat, wo ein gewisses Normen- und Regelverständnis bereits schon entwickelt ist, denn Pippi stellt sich ja ganz klar auch gegen bestehende Regeln und Normen. Das kann bei Kindern, wo dieses Regelverständnis noch gar nicht da ist, wo auch so was wie Perspektivenübernahme, sich in andere hineinversetzen noch nicht ausgebildet ist, vielleicht eine ganz andere Wirkung haben und gar nicht mehr die Relevanz haben von der Figur der Pippi her.

    Klein: Welche Bedeutung hatte es damals, dass es sich um ein Mädchen und nicht um einen Jungen gehandelt hat? Inwiefern spielte die dann auch aufkommende Emanzipationsbewegung der Frauen eine Rolle dabei?

    Scheithauer: Zum einen liegt natürlich die Figur der Pippi als Mädchen darin begründet, dass Astrid Lindgren für ihre Tochter eine Geschichte geschrieben hat und so auch die Möglichkeit für die Tochter gegeben hat, sich leichter in diese Rolle oder in diese Figur hineinzuversetzen und das ganze mitzuerleben. Im Nachhinein haben natürlich vielfältige Interpretationen auch deutlich gemacht, dass gerade die Figur oder die Rolle der Pippi für die Frauenbewegung durchaus eine besondere Bedeutung hat, weil sie Stärke symbolisiert und Pippi viele Dinge macht, die Mädchen damals eben nicht gemacht haben. Ich glaube aber, dass diese Figur auch so überzeichnet ist und überzogen ist in einigen Bereichen, dass sie durchaus die Möglichkeit gibt, dass sich Jungen mit dieser Figur in gewissen Bereichen identifizieren. Das gibt diese Rolle oder diese Figur durchaus her, weshalb ich also nicht glaube, dass die Rolle der Pippi Langstrumpf nur für Mädchen funktioniert.

    Klein: Sehen Sie abschließend eine Parallele einer ähnlichen Heldin, eines ähnlichen Helden in gegenwärtiger Kinderliteratur, etwa Harry Potter vielleicht?

    Scheithauer: Harry Potter ist natürlich jetzt noch mal was ganz Besonderes. Wir haben ja leider Gottes in den letzten Jahren die Entwicklung, dass durch die zunehmende Mediatisierung, das heißt insbesondere auch durch die Nutzung von Fernsehen, Internet und so weiter, viele Kinder teilweise gar nicht mehr zum Buch greifen und es auch immer mehr Kinder gibt, die in Haushalten aufwachsen, wo überhaupt nicht mehr gelesen wird. Natürlich haben wir jetzt das Glück, dass es Pippi auf DVD gibt. Das heißt man kann sich dann so auch diese Geschichten anschauen. Aber gerade in bildungsfernen Milieus, gerade in Familien, die selber einen niedrigen Bildungsstatus aufweisen, werden dort auch eher Serien beispielsweise im Fernsehen geschaut, die ganz andere Helden nach außen darstellen, die sehr stereotypisierend sind, Stärke symbolisieren und so weiter. Da spielen solche Kinderfiguren wie Pippi Langstrumpf erst mal nicht so die große Rolle, wenngleich es ja wichtig ist das zu tun. Wir selber arbeiten ja auch in unserem Präventionsprojekt Papillio beispielsweise mit Bilderbüchern, in denen über das Bilderbuch und über das gemeinsame Lesen Eltern mit ihren Kindern sozial-emotionale Kompetenzen bei Kindern herausbilden können. Das heißt das ist durchaus wichtig, dass es hier nach wie vor diese Vorbilder gibt und die Möglichkeit für Kinder, in ihrer Fantasie sozusagen auch einen Rollenwechsel hier zu betreiben.

    Klein: Sagt Herbert Scheithauer, Entwicklungspsychologe an der Freien Universität Berlin. Danke Ihnen für das Gespräch!