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Pulitzer-Preisträger auf allen Bühnen

Tracy Letts' "Eine Familie" ist ein dreistündiges Epos um Drogen, Selbstmord und Rassismus. Das mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Bühnenstück tourt derzeit durch die deutschsprachigen Bühnen - unter anderem in Basel.

Von Christian Gampert | 02.11.2009
    Am besten hat es in diesem Stück Beverley Weston, ein Dichter, der seit Jahrzehnten nichts mehr geschrieben hat: Er hält einen alkoholgeschwängerten Weltekelmonolog und geht nach zehn Minuten ins Wasser. Seine liebe tablettensüchtige Frau Violet und die drei Töchter aber dürfen einander noch drei weitere Theaterstunden zerfleischen und – bei der bewährten Zeremonie des Leichenschmauses - alle Familiengeheimnisse aufblättern, die man so genau gar nicht wissen wollte, weil man sie im Grunde schon kennt.

    Es ist schwer was los bei Tracy Letts, aber die Frage bleibt: warum so ein zwar gut gebautes, aber im Grunde kreuzbiederes Familientableau aus dem amerikanischen Mittelwesten derzeit das deutschsprachige Theater aufmischt und alle, alle, die sonst gar nicht genug bekommen können von Videoscreens und Textflächengelaber, nun wieder richtige Geschichten erzählen wollen und Sehnsucht haben nach sogenannten prallen Charakteren.

    Erste Vermutung: Es besteht eine gewisse Übersättigung an Schnipseldramaturgien, lauwarmen Rimini-Doku-Protokollen und sich selbst überholenden Pollesch-Pamphleten, man braucht jetzt wieder eine Prise Tradition.

    Zweite Vermutung: Tracy Letts kommt da genau richtig, er macht das Bewährte noch mal, er bietet das perfekte Remake von Edward Albee und Tennessee Williams plus ein bisschen Fernsehsoap und Kurzdialog: zurück also in die Familienhölle, da sind wir daheim.

    Folglich, dritte Vermutung, holt uns das Stück, auch jenseits seiner spezifisch amerikanischen Attribute, identifikationsheischend da ab, wo wir schon mal waren und immer noch sind, im Family Life, in der großen, lustvoll zerstrittenen Theaterfamilie sowieso, aber vor allem in der überlasteten Kleinfamilie, wo wir uns die Klinke in die Hand und die Kinder auf den Arm geben und jeder für sich einem Berufsleben nachgeht, das es mit allen Mitteln zu verteidigen gilt. Und selbst, wer keine Kinder hat, der hat eine Beziehung oder keine Beziehung oder alte Eltern oder keine Eltern mehr – die Familie legt sich noch in der Negativabgrenzung als Schatten über sämtliche Lebensäußerungen, und all das ist bei Tracy Letts ebenso präsent wie der untergegangene amerikanische Traum.

    Das Stück ist also einerseits genial, andererseits von kaum überbietbarer Impertinenz. Es gibt dem Schauspieler so viel Zucker, dass er daran eigentlich ersticken müsste – und der Zuschauer mit ihm. Nikola Weisse zum Beispiel, ein durch viele Ensemblekämpfe gegangenes, souveränes, ungeheuer bühnenpräsentes altes Theaterschlachtschiff, kostet in Basel die Rolle der bösartigen, intriganten, geldgeilen Big Mama so ostentativ aus, als sei sie auf einer Solo-Performance. Diese Violet Weston zeigt ihren verbrauchten Körper, sie raunzt, sie brüllt, sie wälzt sich in ihrem plüschigen Ehebett, das schon lange niemand mehr mit ihr teilen will, sie demonstriert, wie großartig doch all die innerlich gebrochenen Familientyrannen waren, die wir mit politisch korrekter Akribie längst aufs Altenteil geschoben haben und nunmehr im Theater bestaunen müssen.

    Das Stück ist, auch das mag man als Qualität betrachten, dehnbar bis zum Anschlag; man kann es als tiefschwarze Tragödie machen, man kann aber auch ständig mit der Komikpatsche draufhauen. Der Regisseur Elias Perrig erzählt psychologisch genau im Cinemascopeformat, in einem potthässlichen holzgetäfelten Bungalow, und schneidet dann Slapsticks dagegen; seine Männerfiguren zitieren in Kleidung, Posen und Gesten die Horrorkabinette des American Way of Life, wie der Bildhauer Duane Hanson sie nachgebaut hat; die Frauengestalten sind mehr Desperate Housewifes, aggressiv und verzweifelt, immer mit einem Fuß in der Psychiatrie.

    Ein Well-Made-Play, aber auch, ach Gott, wie hausbacken und konventionell! Die Kinder kommen zur Beerdigung, schon ist die Katastrophe da ... Jon Fosse macht sowas mit drei Strichen, Tracy Letts braucht drei Stunden. Ein richtig schön ausgepinseltes Gruppenbild, mitten in dieser herzlosen schnellen Internetwelt. Rührend. Die Inszenierung ist meisterlich, das Stück eher altmeisterlich. Und das Theater konservativer, als wir alle denken.

    Info:
    Theater Basel