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"Putin ist eigentlich im Grunde verbraucht"

In Russland entwickele sich immer mehr ein Mittelstand, der seine politischen Interessen vertreten sehen wolle und sich vom angekündigten Ämtertausch zwischen Putin und Medwedew verkohlt fühle, sagt Eberhard Schneider, Politikwissenschaftler an der Uni Siegen.

Eberhard Schneider im Gespräch mit Christian Bremkamp | 07.12.2011
    Christian Bremkamp: Massenproteste in Moskau, in St. Petersburg und weiteren Städten des Landes. Zahlreiche Russen wollen das offizielle Abstimmungsergebnis vom Sonntag nicht anerkennen. Danach hatte bei der Parlamentswahl die von Ministerpräsident Putin geführte Regierungspartei "Einiges Russland" zwar deutlich Federn lassen müssen, war mit fast 50 Prozent der Stimmen aber dennoch zum Sieger gekürt worden. Wahlfälschungsvorwürfe hin oder her. In der Folge sieht sich die Regierung nun aber nicht nur mit Protesten auf der Straße konfrontiert; auch wirtschaftlich gesehen hat das Ergebnis Folgen. Am Telefon begrüße ich jetzt Professor Eberhard Schneider, Russland-Kenner und Politikwissenschaftler an der Universität Siegen. Guten Tag, Herr Schneider.

    Eberhard Schneider: Guten Tag, Herr Bremkamp.

    Bremkamp: Herr Schneider, was unterscheidet Russland noch von Weißrussland, bekanntermaßen die letzte Diktatur Europas?

    Schneider: Nun, der belarussische Präsident Lukaschenko hat gleich die Verfassung damals ändern lassen und hat die Klausel streichen lassen, dass ein Präsident nur einmal wiedergewählt werden darf. Putin wollte das nicht tun, hätte aber dann sich das Zwischenspiel mit Medwedew ersparen können. Was die Reaktionen der Sicherheitsorgane betrifft, dann geht Lukaschenko noch rigoroser vor, als Putin vorgehen lässt. Aber er ist schon auf diesem Weg scheinbar in diese Richtung.

    Bremkamp: Aber ist die gelenkte Demokratie Russland nicht doch mittlerweile zumindest eine gestörte, wenn nicht defekte Demokratie?

    Schneider: Da bin ich völlig Ihrer Meinung, und dieser Begriff der gelenkten Demokratie bedeutet ja eigentlich, dass man Demokratie nur in dem Maße zulassen will, in dem Demokratie nicht stört. Dieser Begriff ist damals geprägt worden von dem stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung und dem Chefideologen von 'Einiges Russland', und Präsident Medwedew hat damals diesem Begriff widersprochen und hat gesagt, es gibt nur eine Demokratie, es gibt keine Demokratie mit Adjektiven.

    Bremkamp: Sie sagen, wenn die Demokratie nicht stört. Wenn man dann auf Weißrussland blickt, dazwischen sind doch aber nicht nur graduelle Unterschiede. Oder täusche ich mich da?

    Schneider: Nun, man kann wie gesagt noch viel rigoroser dagegen vorgehen, als jetzt in Russland zurzeit der Fall ist. Aber Putin weiß natürlich, dass das sein Image in der Welt noch weiter gefährden würde, und er weiß natürlich auch, dass er für seine Modernisierungspolitik westliche Hilfe braucht, und ihm ist auch klar, dass er die nicht bekommen wird, wenn er weiter in Richtung autoritärem Regime marschiert.

    Bremkamp: Vor allem, weil er wieder Präsident werden will, im Ringtausch mit Dmitri Medwedew. Was glauben Sie denn? Ist er bereit, diesem Ziel alles unterzuordnen, vielleicht sogar zu opfern, oder vielleicht doch einzulenken?

    Schneider: Nun, er wird auf jeden Fall als Präsident kandidieren. Die Partei 'Einiges Russland' hat ihn ja bereits als Kandidaten aufgestellt. Er hält Medwedew nicht für stark genug, dieses Amt in einer zweiten Amtszeit auszuüben, und er hält ihn auch nicht fähig, die Balance durchzuführen zwischen politischer Reformierung des Systems und der Verhinderung, dass es weiter abgleitet und einer Kontrolle sich entzieht.

    Bremkamp: Was sagt denn Herr Medwedew dazu, wenn er überhaupt was sagt?

    Schneider: Ja, gut, Herr Medwedew ist der treue Paladin von Putin. Das war auch der Grund, warum Putin ihn damals ausgesucht hat. Der Konkurrent von Medwedew 2008 für die Kandidatur wäre ja Sergei Iwanow gewesen, damals Verteidigungsminister, auch FSB-Oberst. Das wäre eine ganz andere gestandene Persönlichkeit gewesen und Putin hat richtig erkannt, dass er das, was er vor hat, nur mit Medwedew machen kann, nicht mit Sergei Iwanow.

    Bremkamp: "Ohne mich geht nichts", scheint Putin immer wieder vermitteln zu wollen, mit ihm aber wohl auch nicht mehr so richtig. Ratingagenturen geben Warnungen heraus, der Aktienmarkt bricht ein. Nimmt das Duo Putin-Medwedew denn überhaupt noch wahr, was um sie herum passiert?

    Schneider: Putin ist eigentlich im Grunde verbraucht. Er merkt jetzt, dass er wahrscheinlich überzogen hat. In Russland entwickelt sich immer mehr ein Mittelstand, etwa 15 bis 25 Prozent, vor allem in den Städten, und dieser Mittelstand ist sehr aktiv im Internet, in den sozialen Netzwerken tätig, und die wollen immer mehr selbst auch ihre politischen Interessen vertreten sehen und sie fühlen sich im Grunde genommen verkohlt durch diesen Ämtertausch.

    Bremkamp: Sind das die Menschen, die jetzt auch auf die Straße gegangen sind?

    Schneider: Es sind vor allem auch junge Menschen. Es sind aber auch Menschen im Mittelalter, wenn man die Berichte so sieht, zum Teil aus weiten Teilen des Landes angereist, zum Beispiel aus Nowosibirsk - das ist ein paar tausend Kilometer von Moskau entfernt. Das ist eine neue Situation und ich glaube, Medwedew ist ja ein Internet-Fan, er versteht das. Aber Putin, glaube ich, versteht das nicht.

    Bremkamp: Wahlfälschungen hat es gegeben, wie so oft schon in Russland. Dennoch: Viele Russen werden die Partei 'Einiges Russland' aus freien Stücken am Sonntag gewählt haben. Warum, warum noch, weil es einfach keine Alternative gab?

    Schneider: Einiges Russland ist die Partei der Macht. Man ist gewöhnt aus dem Sowjetsystem, man muss immer die herrschende Partei wählen.

    Bremkamp: Das ist aber jetzt schon einige Jahre her, das Sowjetsystem!

    Schneider: Ja, gut! Aber die bestimmten Generationen sind immer noch davon geprägt, und vor allem ist auch klar, wenn sie in bestimmten Positionen sein wollen - das ist wie bei der KPDSU -, dann müssen sie in der Partei 'Einiges Russland' sein. Und Sie haben natürlich völlig recht: die einzige Alternative waren die Kommunisten. Die sind dann noch weiter rückwärts gerichtet und sie haben immerhin jede fünfte Stimme bekommen, 20 Prozent, haben einen Zuwachs erreicht immerhin von fast acht Prozent, das ist schon erstaunlich. Und einen Zuwachs haben auch bekommen die Nationalpopulisten von Schirinowski, auch eine Zunahme von drei Prozent. Das ist also schon erstaunlich. Aber eine richtige liberale Alternative gibt es natürlich nicht, weil die zwei zugelassenen liberalen Parteien kommen unter sieben Prozent nicht in das Parlament und weil vor allem die Vorschriften sehr streng sind, wenn eine Partei sich registrieren lassen will, und erst wenn sie registriert ist beim Justizministerium, darf sie überhaupt bei einer Wahl kandidieren.

    Bremkamp: Wenn der eben angesprochene Ringtausch Putin-Medwedew klappt, was vermuten Sie, worauf müssen wir uns einstellen, auf Dauerproteste im ganzen Land?

    Schneider: Die Proteste werden wieder abflachen, die werden wieder zurückgehen, das Land ist auch zu riesig. Ich möchte mal hinweisen auf den Valdai-Klub, der vor vier Wochen in Kaluga getagt hat. Putin hat ihn damals 2004 gegründet, er hat selbst daran teilgenommen. Da wurden vorgestellt, von Wissenschaftlern ausgearbeitet, sechs Szenarien für die zukünftige Entwicklung Russlands. Das ist hoch interessant für meine Begriffe. Das wahrscheinlichste Szenario, das eintreten wird, das nennen sie "Negatives Trägheitsszenario", und das heißt im Grunde nichts anderes als Fortsetzung des Status quo. Und wenn dieses Szenario erschöpft ist und nicht mehr wirkt, dann vermuten die Autoren eine autoritäre Modernisierung. Das wird wahrscheinlich der Weg sein einer autoritären Modernisierung. Nur ich sage gleich - und das ist wahrscheinlich auch der Trugschluss bei Putin -, eine nur wirtschaftliche und nur eine technokratische Modernisierung stößt irgendwann an ihre Grenzen, wenn sie nicht verbunden wird, was Medwedew erkannt hatte, mit einer politischen Modernisierung. Die Menschen und die Gesellschaften lassen sich nicht teilen, und insofern wird das das Problem für Putin werden.

    Bremkamp: Sehen Sie denn irgendjemanden, eine Persönlichkeit am Horizont, sage ich mal, der Putin oder auch Medwedew künftig Paroli bieten könnte? Gibt es da eine Alternative?

    Schneider: Im Moment auf dieser Ebene nicht, zumindest die, die bekannt sind, weil sie auch keine Chance hatten, bekannt zu werden. Die Potenziale sind sicher vorhanden, aber sie hatten keine Möglichkeiten, sich zu artikulieren. Es ist ja ungeheuer schwer, neue Parteien zu gründen, und sie dürfen auch nicht vergessen diese ungeheuere Macht des Fernsehens. Alle drei Fernsehkanäle, die föderal empfangen werden können, sind staatlich oder halbstaatlich. Das ist das hauptsächliche Informationsmedium der Russen. Zeitungen werden ja kaum gekauft und in der Region sind die guten Zeitungen auch gar nicht zu bekommen. Man darf nicht vergessen: Diese große Propagandamaschinerie über die Medien beeinflusst natürlich auch die Menschen.

    Bremkamp: Professor Eberhard Schneider war das von der Uni Siegen im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Herr Schneider, vielen Dank.

    Schneider: Danke auch.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.