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Quo vadis?

Angesichts der anstehenden Entscheidung über den künftigen Status des Kosovo steht die serbische Gesellschaft vor einer Zerreißprobe. Die Serben sollen angesichts der schmerzlichen Abtrennung des Kosovo von Serbien mit der EU-Integration entschädigt werden. Mit diesem Kuhhandel hoffen die EU-Politiker, das Land stabil und die nationalistisch-extremistischen Kräfte im Zaum zu halten. Anmerkungen dazu von Erich Rathfelder, freier Journalist auf dem Balkan, in unserer heutigen Europakolumne.

    Bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen werden die Serben also Farbe bekennen müssen. Entscheiden sie sich für den bisherigen Präsidenten Boris Tadic oder für den extremen Nationalisten Tomislav Nikolic? Tun sie es für Tadic, könnte das Kosovo frei werden, mit Serbien würde es bald zu weiteren Verhandlungen im Rahmen des SAA-Abkommens kommen. Entscheiden sie sich für Nikolic, wäre Serbien erst einmal für die EU verloren. Denn Nikolic will mit Unterstützung der orthodoxen Kirche ein Bündnis mit Russland formen und das Kosovo keinesfalls kampflos aufgeben.

    Ob die Strategie der EU aufgeht, ist äußerst fraglich. Es geht bei den Wahlen um mehr: um das serbische Selbstverständnis, um die Interpretation der Geschichte und die Anerkennung der durch Serben begangenen Kriegsverbrechen während der Balkankriege der 90er Jahre. Und bei all diesen Punkten sind die demokratischen und nach vorne blickenden gesellschaftlichen Kräfte leider in der Minderheit.

    Das Kosovo ist zwar ein nationales Symbol, gilt im nationalen Selbstverständnis als mittelalterliche Wiege der Nation, die durch die verlorene Schlacht auf dem Amselfeld 1389 an das Osmansiche Reich verloren wurde. Die Einsicht aber, Serbien habe nach der Eroberung des Kosovo über 500 Jahre später, 1912/13, bei der Verwaltung des Landes versagt, ist nicht einmal unter den Intellektuellen in Belgrad weit verbreitet. Die Diskriminierung der albanischen Bevölkerungsmehrheit durch Serbien wird kaum thematisiert.
    Die Ideologie, immer nur Opfer der Geschichte zu sein, verstellt den meisten Serben den Blick auch auf die jüngste Vergangenheit. Zwar klagen Serben zurecht die Opfer von Hunderttausenden Serben während des II.

    Weltkrieges und der Nazi-Besatzung an, die eigenen Verbrechen während dieser Zeit und während der jüngsten Kriege aber werden verschwiegen.

    Von vielen wird sogar der Genozid in Srebrenica geleugnet, vom UN-Tribunal als Kriegsverbrecher gesuchte Personen wie Radovan Karadzic und Ratko Mladic gelten als nationale Helden, die man schützen muss.

    Eine kritische Auseinandersetzung über die eigenen Verbrechen findet nicht einmal in dem Lager, das sich proeuropäisch nennt, statt, sondern nur in kleinen Zirkeln. Als der damalige serbische Ministerpräsident Zoran Djindjic 2004 das Steuer herum reißen wollte, wurde er ermordet.

    Heute stehen der liberale Präsidentschaftskandidat Cedomir Jovanovic ebenso im Fadenkreuz der extremistischen Kräfte wie Menschenrechtskämpfer oder andere Oppositionelle. Und sie müssen um ihr Leben fürchten.

    Ohne die Auseinandersetzung um die jüngste Vergangenheit findet aber Serbien für sich selbst seinen Weg nach Europa nicht. Es müsste gerade jetzt von der EU angehalten werden, erst einmal reinen Tisch zu machen.

    Doch leider ist mit der jetzt praktizierten EU-Strategie das Gegenteil der Fall. Wenn viele Außenpolitiker der EU davon reden, man könnte die Bedingung für eine Integration Serbiens in die EU, nämlich die wichtigsten Kriegsverbrecher festzunehmen, fallen lassen, geht man in die falsche Richtung. Man stärkt dabei nur die extremistischen Kräfte in der serbischen Gesellschaft.

    Die Integration in das Europa der EU ist mit der jetzigen EU-Politik zu billig zu haben. Der für Serbien selbst notwendige Klärungsprozess würde wiederum verzögert. Und brächte die EU selbst in eine Identitätskrise.

    Die bisher hoch gehaltenen europäischen Werte würden dann von niemanden mehr respektiert. Schon gar nicht von serbischen Extremisten. Die Politik in Bezug auf Serbien ist eine Nagelprobe für Europa.