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Quo vadis Türkei?

Der türkische Generalstaatsanwalt wirft der gemäßigt islamischen AKP vor, die laizistische Staatsordnung zu bedrohen. Sie fordert deshalb neben dem Parteiverbot zusätzlich auch ein Betätigungsverbot für Ministerpräsident Erdogan und Staatspräsident Gül. Es ist ein regelrechter Machtkampf zwischen Regierung und oppositionellen Kemalisten. Die Europa-Kolumne von Jürgen Gottschlich, taz-Korrespondent in Istanbul.

    In der Türkei beginnt heute eine der wohl kritischsten Wochen in der jüngeren Geschichte des Landes. Am heutigen Vormittag starten die elf Richter des Verfassungsgerichts in Ankara mit den Schlussberatungen über ein Verbot der Regierungspartei AKP. Schon Ende der Woche könnte das Urteil fallen. Obwohl Parteienverbote in der Türkei sehr viel häufiger ausgesprochen werden als in Deutschland, wäre das Verbot der Regierungspartei, die die absolute Mehrheit der Abgeordneten stellt und erst vor einem Jahr mit 47 Prozent aller Wählerstimmen einen eindrucksvollen Wahlsieg einfahren konnte, auch in dem demokratischen Schwellenland am Südostrand Europas ein Novum. Einen solchen Vorgang hat es auch am Bosporus noch nie gegeben. Regierungen wurden wenn, dann durch einen Putsch beseitigt, weshalb etliche Anhänger der Regierung nun von einem drohenden "Justiz-Putsch" sprechen.

    Tatsächlich ist die Anklage absolut politisch motiviert, und so hat denn auch der als Berichterstatter ernannte Richter erst vor zwei Wochen seinen Kollegen empfohlen, die Anklage zurückzuweisen. Doch das will noch nicht viel heißen. Von den elf Richtern gelten mindestens sieben als erklärte AKP Gegner und sieben Stimmen sind genau das Quorum, das für eine Verurteilung ausreicht.

    Doch das Verbotsverfahren gegen die AKP ist nicht die einzige Erschütterung, die das Land derzeit in eine Ausnahmesituation treibt. Zeitlich parallel wurden in großangelegten Verhaftungsaktionen mehr als 150 Leute festgenommen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, sie hätten in Form einer terroristischen Vereinigung durch gezielte Morde, Anschläge, Desinformation und gesteuerten Massendemonstrationen versucht, das Land in einem Bürgerkrieg zu treiben, um letztlich die Armee zum Einschreiten zu zwingen. Zur dieser "Ergenekon" genannten Organisation von Ultra-Nationalisten sollen ehemalige hohe Generäle, bekannte Publizisten, Wirtschaftsführer und Anwälte gehören. Ab Oktober stehen sie vor Gericht. Sämtliche türkische Zeitungen überschlagen sich mit Spekulationen über diese Truppe. Wo die einen nichts anderes sehen, als einen Gegenschlag der AKP, die mit Hilfe der ihr wohlgesonnenen Teile von Polizei und Justiz ihre Kritiker einschüchtern wolle, sehen die anderen einen historischen Schlag gegen die als "Tiefer Staat" bezeichneten Kräfte aus der Bürokratie und dem Sicherheitsapparat. Die hätten schon schon immer versucht, hinter den Kulissen die eigentlichen Fäden im Staate zu ziehen.

    In dieser völligen Unübersichtlichkeit hat die EU einen eindeutigen Standpunkt eingenommen: Ein politisch motiviertes Verbot der Regierungspartei widerspricht nach der Ansicht der Europäer den demokratischen Standards der Union elementar und kann nicht ohne Folgen für den Beitrittsprozess bleiben. Doch diese Drohung wird diejenigen, die das Verbot betreiben, kaum beeindrucken, gehören sie doch sowieso zu den EU-Gegnern, denen ein Abbruch der Verhandlungen gerade recht ist. Außerdem hat Frankreich mit seiner jüngsten Verfassungsänderung, die zwingend ein Referendum bei zukünftigen EU-Erweiterungen vorsieht, die Hoffnung auf einen türkischen Beitritt so weit minimiert, dass die Beitrittsperspektive in der innenpolitischen Auseinandersetzung kaum noch eine Rolle spielt. Die Türkei hat ihren EU-Anker verloren und driftet mit zunehmender Geschwindigkeit einer völlig ungewissen Zukunft entgegen.