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Radikal gesellschaftskritisch

Mit dem Jahr des 100. Todestages von Lew Tolstoj hat die Welle einer längst fälligen erneuten Auseinandersetzung mit Leben und Werk dieses Mannes, der am Ende seines Lebens zu den berühmtesten Menschen der Welt gehörte, eingesetzt.

Von Karla Hielscher |
    Beglückt lesen wir die Neuübersetzungen seiner großen Romane, die in ihrer tiefen Menschenkenntnis, ihrem Reichtum an Lebenswelt und ihrer komplexen sprachlichen Gestaltung unsterblich sind.

    Die Popularität Tolstojs zu seiner Lebenszeit hatte allerdings weniger mit seiner künstlerischen Prosa zu tun als mit seiner radikal gesellschaftskritischen religiösen Lebenslehre. Seine rückwärtsgewandte soziale Utopie mit ihrem auf der Bergpredigt basierenden christlichen Anarchismus bedeutete für das zaristische Russland und deren offizielle orthodoxe Kirche eine extreme Provokation. Darüber hinaus aber stellt sie die gesamte Zivilisation der Industriegesellschaft der Moderne infrage. Tolstoj galt deshalb zu damaliger Zeit den einen als hoch geachtete, wie ein Gott verehrte moralische Autorität, den anderen jedoch als idealistischer Spinner.

    Und natürlich stellt sich auch dem heutigen Leser die Frage nach der Bedeutung dieser Lehre für unsere Zeit.

    Zwei kürzlich erschienene Bücher demonstrieren diese Seite des Tolstojschen Werks. Das ist die gerade im Inselverlag wieder zugänglich gemachte autobiografische Schrift "Meine Beichte", die am Anfang von Tolstojs Weg als kämpferischer Moralist und "Lehrer des Lebens" steht, sowie sein Spätwerk "Für alle Tage", eine Anthologie moralisch nützlicher Texte aus allen Zeiten und Religionen. Der Beck-Verlag stellt sie erstmals dem deutschen Leser in einer wunderschön gestalteten Ausgabe vor.

    "Meine Beichte" von 1882 ist das erste Zeugnis von Tolstojs "neuer geistiger Geburt", wie er es selbst nennt. Mit dieser Schrift setzte der mit seinen Romanen "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina" zu Weltruhm gelangte Autor nach einer tiefen Lebenskrise ein radikales Zeichen. Er brach darin mit allen gängigen Werten und Überzeugungen und warf sein gesamtes Dasein als wohlhabender Gutsbesitzer, Haupt einer großen geliebten Familie und erfolgreicher Schriftsteller über den Haufen.
    In einer rücksichtslosen Selbstbefragung, in der er sich bezichtigt, in seinem bisherigen Leben alle möglichen Verbrechen "Lüge, Raub, Wollust, Trunksucht, Gewalt, Mord" begangen zu haben, legt er Schritt für Schritt seinen noch unabgeschlossenen Läuterungsprozess dar. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach dem "Wozu" und "Was dann" angesichts des unvermeidlichen Todes, diese Frage, die ihn jahrelang an den Rand des Selbstmords getrieben hatte, sei auch von den größten Denkern der Menschheitsgeschichte nicht beantwortet worden. Dabei sei jedoch offensichtlich, so Tolstoj, dass Milliarden schwer arbeitender Menschen in Vergangenheit und Gegenwart sich diese Frage überhaupt nicht stellten und in ruhiger Selbstverständlichkeit den Tod annehmen könnten. Diese Einsicht führt ihn zu dem Schluss, das wahre Leben sei allein das des einfachen, arbeitenden Volkes, wobei er eigentlich nur den Bauern meint, der mit eigener Hände Arbeit den Boden bestellt.

    Tolstoj sagt sich also vom Leben seiner Adelsschicht los, wendet sich dem Volk zu und versucht, ein mönchisch-asketisches Lebensideal auf der Grundlage eines von allen Ritualen und Sakramenten gereinigten Christentums zu verwirklichen. Seine, auch von russischen Sekten beeinflusste Lehre, die er von nun an in allen Schriften predigt, ist ein Leben der ständigen sittlichen Selbstvervollkommnung in körperlicher Arbeit, uneigennütziger Nächstenliebe und Brüderlichkeit, sexueller Enthaltsamkeit, extremer Einfachheit und Bedürfnislosigkeit. Er trägt den Bauernkittel, arbeitet mit den Landarbeitern auf dem Feld, schustert seine Stiefel selbst, verzichtet auf jegliche Bedienung und ernährt sich karg und vegetarisch.

    Die Negierung jeglichen Privateigentums und die Ablehnung jeder Form von Gewalt bis hin zu der zentralen Idee, dass man dem Bösen nicht mit Gewalt widerstehen dürfe, implizieren eine grundlegende Systemkritik von Staat und Gesellschaft, sind aber auch eine Absage an jede revolutionäre Bewegung.
    Tolstojs extrem rückwärtsgewandte Lebenslehre hat eindeutig bildungs- und intellektuellenfeindliche Züge. "Wie oft habe ich die Bauern darum beneidet, dass sie des Lesens und Schreibens unkundig sind und keine Bildung besitzen", heißt es in der "Beichte".
    Und schon in diesem Konfessionstext beginnt seine Verdammung jedes künstlerisch-ästhetischen Zugangs zur Welt. Alle Handlungen des Lebens seiner Kreise - auch die Wissenschaft und die Künste - seien "nichts als Spielerei". Seine eigenen großen Romane, die er allein "aus Eitelkeit, Eigennutz und Hochmut" geschrieben habe, hält er für nichtig und bezeichnet das Schreiben von Büchern als "nutzloses Geschäft". Nur dem einfachen Menschen verständliche literarische Gattungen wie Legenden, Märchen, Sprichwörter und die Gleichnisse der Bibel lässt er gelten, ein Ansatz, den er später in der theoretischen Schrift "Was ist Kunst?", in der die größten Kunstwerke der Menschheit als bloßer "Genuss, Spaß oder Zeitvertreib" denunziert werden, ausführlich dargelegt hat.

    Es geht Tolstoj allein um das Ethische, dem sich das Ästhetische absolut unterzuordnen habe. Auch wenn er selbst diese kunstfeindliche Theorie glücklicherweise häufig durchbrochen und der große Schriftsteller in ihm immer wieder den belehrenden Moralisten besiegt hat, ist es deshalb nur konsequent, dass er in der Spätphase seines Schaffens kaum noch selbst schreibt, sondern die Weltliteratur sichtet auf der Suche nach Texten, die seiner Lebenslehre Nahrung geben könnten. Er verwandelt sich vom Autor immer mehr zum Herausgeber und stellt Lesefibeln, Volksausgaben und Spruchkalender zusammen, die "die schlichten, unverdorbenen Arbeitsmenschen aus dem Volk" lesen sollen.

    Die wichtigste Tätigkeit Tolstojs in seinen letzten Lebensjahren war die Arbeit an einer umfangreichen Anthologie, mit der er sein Projekt einer Synthese aller Lebenslehren und Religionen in "leicht fasslicher Lektüre" untermauern wollte. Darin sind isolierte und aus dem Zusammenhang gerissene "Gedanken weiser Menschen" aus allen Zeiten und Religionen – aus dem Talmud, von Konfuzius, buddhistische Spruchweisheiten, Lehrsätze bedeutender Philosophen usw. – gesammelt sowie Prosastücke von ihm selbst und vielen anderen Autoren.

    Die Ausgabe letzter Hand dieser gewaltigen, beeindruckenden Textsammlung, samt genauem Lektüreplan für jeden Tag des Jahres, mit längeren Erzähltexten als Wochen- und Monatslektüre hat der C. H. Beck Verlag nun - mit einem informativen Nachwort des Slawisten Ulrich Schmid, mit Editionsgeschichte sowie Themen- und Autorenregister - erstmals auf Deutsch vorgelegt. Entstanden ist ein grafisch wunderschön gestalteter Prachtband mit dem Titel "Für alle Tage. Ein Lebensbuch".

    Und so verdienstvoll es ist, Tolstojs Werk möglichst vollständig dem deutschen Leser zugänglich zu machen, so demonstriert doch gerade ein derartiger Band den Anachronismus seines volkspädagogischen Ansatzes. Gedacht waren diese Textsammlungen – wie es sein Verlag "Posrednik/Der Vermittler anstrebte - als billige, leicht zugängliche, broschierte Ausgaben in handlichem Format für den gerade alphabetisierten Bauern oder Arbeiter. Hundert Jahre später liegt nun ein aufwendig gemachter, kiloschwerer musealer Luxusband vor uns, ein prunkendes Erbauungsbuch aus dem Reichtum der Weltliteratur, das sich vor allem als schönes, teures Geschenk für gebildete Russlandliebhaber eignet.

    Tolstoj hat die ausgewählten Texte - getreu seiner rein moralisch inhaltlichen Absicht – häufig einfach seiner eigenen Weltsicht angepasst.
    Ein symptomatisches Beispiel ist sein Umgang mit Tschechows Erzählung "Duschenka/Seelchen". Von dieser ironischen Geschichte über eine dümmliche, aber durchaus liebenswerte Frau, die völlig ohne eigene Meinung immer nur die Ansichten ihrer Männer reproduziert, war Tolstoj ehrlich begeistert. Er hat jedoch bei der Aufnahme dieser Erzählung in sein "Lebensbuch" kurzerhand die ironische Haltung des Schriftstellers getilgt. In einem eigens dazu geschriebenen Nachwort, in dem die "sogenannte Frauenfrage" lächerlich gemacht wird, rechtfertigt er ein solches Vorgehen und unterstellt Tschechow, dieser habe "unbewusst" das Loblied einer zu echter Hingabe fähigen Frau gesungen.

    Nein, nicht der eifernde Pädagoge und Moralapostel Tolstoj mit seiner lustfeindlichen und weltfremden Lehre bleibt, sondern der große geniale Schreiber, dessen gesamter künstlerischer Prosa die Frage nach dem richtigen Leben eingeschrieben ist. Tschechow hat das nach der Lektüre von Tolstojs ideologisch verstiegenem Nachwort zur "Kreutzersonate" und in Anspielung auf dessen großartige Erzählung "Leinwandmesser", in der die Welt aus der Sicht eines Pferde betrachtet wird, so ausgedrückt: "Die ganze Philosophie, mit all ihren idiotischen Nachworten ( ... ) ist nicht eine Stute aus dem 'Leinwandmesser' wert."

    Lew Tolstoj: "Meine Beichte". insel taschenbuch 3485, Insel Verlag Berlin 2010, 110 Seiten, 10,00 Euro.

    Lew Tolstoi: "Für alle Tage. Ein Lebensbuch". Mit einem Geleitwort von Volker Schlöndorff und einem Nachwort von Ulrich Schmid. Auf Grundlage der Ausgabe letzter Hand von Christian Körner revidierte und ergänzte Übersetzung von E. Schmitt und A. Skarvan, C. H. Beck Verlag, München 2010, 760 Seiten, 49,95 Euro.