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Radikale Bildfindungen

Als die Berliner Nationalgalerie vor sechs Jahren 200 Meisterwerke aus dem New Yorker Museum of Modern Arts (MoMA) zeigte, standen Besucher mitunter länger in der Schlange, als ein Flug in den big Apple selbst dauern würde. Jetzt zeigt das MoMA Henri Matisse - also eine neue Chance für Kunstfreunde aus Deutschland.

Von Sacha Verna |
    Es begann als Entwurf für eine dekorative Bildtafel im Treppenhaus eines russischen Geschäftsmannes und wurde zu "Badende am Fluss”, jenem monumentalen Gemälde, das als eines der wichtigsten Kunstwerke des 20. Jahrhunderts überhaupt gilt. Wieder und wieder nahm sich Henri Matisse zwischen 1909 und 1917 diese Leinwand vor. Dabei verwandelte er die ursprüngliche pastorale Szene, die fünf nackte um einen Wasserfall gruppierte Frauen zeigte, in die Darstellung, die wir heute kennen: vier säulenartige Figuren vor jeweils andersfarbenem Hintergrund, eine schwarze Fläche statt des Wasserfalls und darauf eine stilisierte weiße Schlange.

    Dieses Bild steht im Mittelpunkt der beeindruckenden Matisse-Ausstellung im Museum of Modern Art. Es geht in dieser Schau um die für Henri Matisse so entscheidende Schaffensperiode zwischen 1913 und 1917. "Badende am Fluss” trägt die Spuren all dessen, was während dieser fünf Jahre geschah:

    "Wir sehen Matisse damit hadern, was es heißt, ein moderner Künstler zu sein. Ein Künstler, der sich der avantgardistischen Stile der Zeit bewusst ist und besonders in den Kubismus involviert ist, ein Künstler, der seinen eigenen Ruf hinterfragt und den Ersten Weltkrieg erlebt",

    sagt die Kuratorin Stephanie d'Alessandro.

    "Wir sehen nicht nur innovative und ehrgeizige Veränderungen von Stil und Oberfläche, sondern auch die Entwicklung einer experimentellen Arbeitsmethode. Matisse wendet additive und reduktive Techniken aus der Drucktechnik und der Bildhauerei an, so dass Kunst entsteht, die nicht nur anders aussieht, sondern auch anders gemacht worden ist. Die Spuren der Entstehung bleiben auf der Oberfläche erkennbar und werden zu einem Teil des Werkes an sich. Diese Ernsthaftigkeit und Unmittelbarkeit machen diese Kunst so modern und wichtig für jene Zeit."

    Die Ausstellung umfasst über 100 Exponate. Neben Skulpturen und Arbeiten auf Papier sind so berühmte Werke zu sehen wie "Intérieur mit Goldfisch” und "Porträt von Yvonne Landsberg” von 1914 sowie "Die Marokkaner” und "Klavierstunde” von 1916. Doch dies ist weit mehr als ein "Best of” für Postkarten und T-Shirts. Deutlich wird in dieser sorgfältig komponierten Ausstellung nämlich, wie kompliziert viele von Matisses Bildern sind.

    So ist "Das Fenster”, entstanden im Frühjahr 1916 in Matisses Atelier in Issy-les-Moulineaux, nicht nur eines der vielen offenen Fenster, die der Künstler im Lauf seiner langen Karriere gemalt hat. Es ist vielmehr das Ergebnis von Abkratzen und Übermalen, von Reduzieren und Fragmentieren, von Ergänzen und von fast schon reliefartigem Auftragen neuer Farbe auf alte. Gleiches gilt für manche der Stillleben und besonders für das zweite in einer Reihe von Porträts von Auguste Pellerin, das zunächst nur aus klaren Formen, Licht und Schatten zu bestehen scheint.

    "Das Bild auf der Oberfläche ist immer noch das Wichtigste. Der Prozess, mit dem Matisse zu diesem Bild gelangte, nahm jedoch viel Zeit in Anspruch und bereitete Matisse Sorgen. Wie der Philosoph Henri Bergson, der Matisse sehr inspirierte, betrachtete Matisse den Vorgang des Werdens und Entstehens als zentral. Das ist eine Eigenschaft seines Werkes, die wir bisher vielleicht noch nicht angemessen gewürdigt haben."

    "Henri Matisse: Radical Invention: 1913-1917” zeigt einen vollendeten Künstler, dessen Werke auf wunderbare Weise nie fertig sind.

    "Henri Matisse: Radical Invention: 1913-1917” ist im Museum of Modern Art, New York, bis 11. Oktober zu sehen. Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog erschienen. Er kostet 65 Dollar.