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Rainer Hering: "Konstruierte Nation - Der Alldeutsche Verband 1890 - 1939"

Auf Initiative von Alfred Hugenberg versammelte sich am 11. Oktober 1931 in Bad Harzburg die "Nationale Opposition" gegen die Republik von Weimar. An diesem Geburtsakt der "Harzburger Front" waren neben Hugenbergs Deutschnationaler Volkspartei und Hitlers NSDAP auch der Stahlhelm und der Alldeutsche Verband beteiligt. Die Harzburger ließen ihre paramilitärischen Verbände paradieren, und prominente Gäste, wie der Kaisersohn August Wilhelm, der ehemalige Reichsbankchef Hjalmar Schacht oder General a.D. von Seeckt applaudierten. Zwar wollte dieses Bündnis Geschlossenheit demonstrieren, doch Hitler machte klar, dass er seinen Führungsanspruch nicht zur Disposition stellen werde. Seine Partner hatten ihre wesentlichen Beiträge zur Durchsetzung des Nationalsozialismus bereits geleistet, und es war absehbar, dass sie bald nicht mehr gebraucht würden. Um den Beitrag, den der Alldeutsche Verband bei der Vorbereitung des nationalsozialistischen Projekts geleistet hat, geht es in einer Monographie, die der Historiker Rainer Hering im Hamburger Hans Christians Verlag vorgelegt hat. Klaus Kreimeier:

Von Klaus Kreimeier |
    Die Bilder, die wir uns von der Welt machen, sind keine mechanischen Abbilder einer objektiven Realität, sondern Konstruktionen, die wir benötigen, um uns in der Welt zu orientieren und über unsere Erfahrungen zu kommunizieren. Dies gilt mit Nachdruck auch für unser Geschichtsbild und für die Vorstellungen vom Gemeinwesen, in dem wir leben. So ist der moderne Nationalstaat, wie er sich im 18. und 19. Jahrhundert herausbildete, nicht das Ergebnis eines linearen, naturgesetzlich verlaufenen historischen Prozesses, der sich mit dem Nationalismus seinen ideologischen Überbau geschaffen hat. Vielmehr trieb die Übereinkunft, dass es ethnisch und kulturell begründete soziale Einheiten gebe, den Nationalismus hervor und forcierte in der westlichen Welt die Entwicklung zum Nationalstaat. In der neueren Geschichtswissenschaft hat sich dieser "konstruktivistische" Denkansatz - der natürlich seinerseits eine Konstruktion darstellt - durchgesetzt. Eric Hobsbawm beispielsweise formuliert nachgerade kategorisch: "Nicht die Nationen sind es, die Staaten und Nationalismen hervorbringen, sondern umgekehrt." Fast gleichlautend Hans-Ulrich Wehler, der die schöpferische Energie des Nationalismus darin sieht, dass "er sich seine Nation schafft": Die Nation - oder das, was wir bis heute darunter verstehen - figuriert somit als historisches Produkt einer gedanklichen, über einen längeren Zeitraum für gesellschaftliche Mehrheiten verbindlichen Konstruktion.

    Im Titel des hier anzuzeigenden Buches wird dieser Denkansatz zum Programm: Rainer Hering nennt seine breit angelegte Geschichte des Alldeutschen Verbandes Konstruierte Nation. Und bereits in der Einleitung lässt er keinen Zweifel daran, dass wir es bei dieser Organisation, die von 1890 bis 1939 fast ein halbes Jahrhundert lang einen gravierenden Einfluss auf die politischen Entwicklungen in Deutschland ausgeübt hat, mit Selbst- und Fremdbildern, mit Programmen und Ideenkonstrukten zu tun haben. Der Alldeutsche Verband, so Hering, "stilisierte sich zum Wächter der von äußeren und inneren Feinden bedrohten nationalen Werte." Mit Thomas Nipperdey beschreibt er den Verband als eine "Art Holding im Geflecht der vielen radikal-nationalistischen neuen Organisationen", die im Kaiserreich, nach dem Ende der Bismarck-Ära, aufbrachen, um Deutschland "einen Platz an der Sonne" zu verschaffen.

    Rainer Hering - Jahrgang 1961, Archivar am Staatsarchiv Hamburg und Privatdozent - gehört einer jüngeren Historikergeneration an, aber er handhabt das traditionelle Rüstzeug seiner Wissenschaft - Quellenstudium sowie Wertung und Gewichtung des überlieferten Materials - mit nachgerade altmodischer Gewissenhaftigkeit. Zugleich sind ihm sozial- und kulturwissenschaftliche Methoden vertraut, die den Interpretationsrahmen erweitern und über das bloße Referieren geschichtlicher Abläufe hinausgehen. Hering zitiert den Kulturtheoretiker Wolfgang Schivelbusch, um sich der psychoanalytischen Deutung der Niederlage von 1918 als eines Vatermords zu nähern, oder den Schriftsteller Elias Canetti, wenn es um die nationale Symbolkraft des Heeres im Werte-Repertoire der Deutschen in der ersten Jahrhunderthälfte geht. Im Anschluss an den Soziologen Norbert Elias sieht er den Nationalismus als ein Phänomen, das sich Bahn bricht, wenn eine Gesellschaft unter "Modernisierungsdruck" gerät: Er sei eine Ideologie, so Elias, "die Zerfall und Zerstörung der überlieferten Ordnung legitimiert und an deren Stelle etwas Neues setzen will". Diente so der Nationalismus "der Legitimation neuzeitlicher politischer Herrschaft" unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Umbaus im Zeitalter der kapitalistischen Industrialisierung, so wird in solcher differenzierten Betrachtungsweise auch deutlich, dass nationale Fixierungen gerade als Abwehr gegen seelisch unverarbeitete Modernisierung und die durch sie ausgelösten Ängste tauglich waren. In dieser facettenreichen, durchaus widersprüchlichen Gemengelage staatspolitischer Programmatik und ideologischer Präferenzen positioniert Rainer Hering den Alldeutschen Verband mit seiner Entwicklungsgeschichte zwischen Gründerzeit und Nationalsozialismus.

    Der Verband war, um 1890, eine Gründung aus dem Geist des deutschen Kolonialismus und der wilhelminischen Schwerindustrie; der Deutsche Kolonialverein und die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft gehörten zu seinen Vorläufern, erzkonservative Stützen der Gesellschaft wie Carl Peters und der spätere Krupp-Direktor Alfred Hugenberg hoben ihn aus der Taufe. Hering teilt die Geschichte der Organisation in acht Abschnitte ein, die von zunehmender Radikalisierung geprägt sind. Mit dem Verbandstag in Plauen 1903 und der Wahl des Rechtsanwalts Heinrich Claß zum Vorsitzenden 1908 begann die regelmäßige finanzielle Förderung durch die Rheinisch-Westfälische Schwerindustrie, vertreten durch Emil Kirdorf und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach; gleichzeitig setzten sich in der Programmatik der Alldeutschen massive antisemitische Tendenzen durch und verfestigten sich zu jener "völkisch" fundierten Rassenideologie, die der späteren Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten Vorschub leistete.

    Sah sich der Verband bereits vor 1914 und besonders während des Ersten Weltkriegs als Teil einer "nationalen Opposition" gegen die nach seiner Auffassung inkonsequente Kriegszielpolitik der Reichsregierung, vor allem des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg, so verschärfte sich seine Oppositionshaltung nach der Niederlage von 1918 vehement. "Zentrale Zäsur in der Verbandsgeschichte", schreibt dazu Rainer Hering, "ist das Ende des Kaiserreichs mit dem Übergang zur Weimarer Demokratie 1918/19, der zu einer massiven Radikalisierung der Verbandsziele, zu einer 'Brutalisierung’ seiner Aktivitäten führte. Zugleich wurde sein Wirken in der Öffentlichkeit geringer, vielmehr arbeitete er stärker im Hintergrund." Gestützt auf umfangreiches Archivmaterial legt Hering dar, wie sich der Alldeutsche Verband aus einem Agitationszentrum, das bis 1918 mit seinen Schriften und programmatischen Erklärungen das radikalnationalistische Milieu in Deutschland zu stärken suchte, in einen politischen Verein verwandelt, der mit Hilfe seiner Kontakte und personellen Vernetzungen Einfluss auf die konservativen Politiker der Weimarer Republik auszuüben trachtet und dabei nichts anderes als den Sturz der verhassten Demokratie im Auge hat. Nach 1933 ist der Verband den Nationalsozialisten eher im Wege; der Mohr hat seine Schuldigkeit getan und wird 1939 durch Verbot fast lautlos entsorgt.

    Hering bettet die Chronologie des Alldeutschen Verbandes in ebenso umfangreiche wie erhellende Diskurse ein, in denen er wesentliche Aspekte des politischen und gesellschaftlichen Systems im deutschen Kaiserreich und in der Ära der Weimarer Republik erörtert. Entschieden wendet er sich gegen die These, der Verband habe mit anderen, ähnlich radikal orientierten Organisationen schon im Kaiserreich zu einer Art Debattenkultur, mithin zur Parlamentarisierung, gar zu einer Demokratisierung des Denkens, beigetragen. Ausführlich befasst er sich mit dem "langen Weg zur Durchsetzung des Antisemitismus", den die Alldeutschen schon vor 1914 unter ihrer Leitlinie "Gedenke, dass du ein Deutscher bist" einschlugen. Auf diesem Weg haben sie zur Verankerung eines völkisch-mystisch begründeten Rassengedankens beigetragen, der Jahrzehnte später in einem erheblichen Teil der deutschen Bevölkerung so verfestigt war, dass der Plan der Nationalsozialisten zur Vernichtung der europäischen Juden eine große Zahl williger Helfer und Vollstrecker fand und schließlich in den Holocaust mündete. "Antisemitismus", schreibt Hering, "wurde zum 'kulturellen Code’, zum Kennzeichen einer ganzen Subkultur im Wilhelminischen Deutschland. Juden wurden zum Symbol der modernen Welt; der Antisemitismus verband sich mit vielen modernitätsfeindlichen Einstellungen und der Sehnsucht nach der vorindustriellen Zeit."

    Der Alldeutsche Verband war zweifellos nur ein Kettenglied, in seiner Blütezeit freilich das publizistisch-organisatorische Zentrum einer Vielzahl radikal-nationalistischer, demokratiefeindlicher Strömungen und Bestrebungen, die in ihrer Gesamtheit ein für den weiteren Gang der Dinge in Deutschland prägendes Milieu gebildet haben. Rainer Herings Monographie arbeitet diese historischen Zusammenhänge eindrucksvoll heraus und lässt für den aufmerksamen Leser keinen Zweifel daran, dass das Jahr 1933 keineswegs ein Betriebsunfall war, sondern eine unheilvolle Vorgeschichte hatte.

    Klaus Kreimeier über Rainer Hering, "Konstruierte Nation - Der Alldeutsche Verband 1890 - 1939." Die Monographie ist erschienen im Hamburger Hans Christians Verlag, umfasst 600 Seiten und kostet 34 Euro 80.