Es ist eine Stunde her, seitdem sich Teresa Szmigiel an den Tisch in ihrem Wohnzimmer gesetzt hat. Schere, Stifte, Draht liegen vor ihr. Und allerlei kunterbunte Papierschnipsel sowie farbige Krepppapierbänder.
Das Krepppapier hält Teresa Szmigiel zwischen den Finger. Es folgen einige Bewegungen, bei denen das Papier hin- und hergewickelt wird und bei denen das Auge eines Laien kaum mitkommt. Keinen Augenblick später hat sie aus dem rosa Kreppband eine Blüte gewickelt. Sie sieht einer Rose zum Verwechseln ähnlich und wird zu den anderen Papierblumen in einen Karton gelegt. Später wird sie mit anderen Kunstblüten mit feinem Draht an einen Stock gebunden und ergibt ein prächtiges Gesteck.
Kurpie heißt die Region in Polen, in der in der Fastenzeit traditionell bunte Blumengestecke aus Krepppapier gebastelt und am Sonntag vor Ostern in die Kirche gebracht werden.
"Die echte kurpische Palme muss sehr bunt sein. Nicht nur irgendwie farbig, sondern grell und ins Auge stechen."
Lila Nelken, leuchtend gelbe Osterglocken, rote Mohnblumen, weiße Margeriten und rosa Tulpen. Ein wahrer "Frühlingsgarten", wenn auch nur aus Krepppapier, ist so eine kurpische Palme. Und allesamt sehen dem Original verblüffend ähnlich, sagt die 50-jährige Teresa Szmigiel.
"Je nach Blume, Lilie oder so, müssen genauso viele Blüten bestehen und der Stiel und die Blätter müssen natürlich wirken. Die Jury ist sehr streng. Wenn irgendwelche Phantasieblumen vorkommen, ist es ganz gleich. Aber, wenn als Vorlage echte Blumen genommen werden, dann müssen sie authentisch sein. Falls sie es nicht sind, dann gibt es weniger Punkte und entsprechend keinen Preis."
Denn darum geht es vielen kurpischen Frauen, wie Teresa Szmigiel: Das schönste Gesteck aus Krepppapier zu basteln und es der "Palmen-Jury" vorzustellen. Rund 200 Kreppblumen-Gestecke wetteifern Jahr für Jahr um den Titel der schönsten "kurpischen Palme". Zwischen einem halben und bis zu vier Meter lang sind die Kreationen und bestehen aus Hunderten von Papierblumen. Um die längsten Exemplare zu transportieren, braucht man sogar mehrere Träger. Aus ganz Polen kommen eine Woche vor Ostern Schaulustige in die alte Sankt-Anna-Holzkirche von Lyse, einem 2.000-Seelen-Dorf in der Kurpie, um die unechte Blumenpracht zu bestaunen.
Wieslaw Kowalkowski, ein Mann mit einem angegrauten Schnauzer, ist der Gemeindevorsteher des Örtchens. Er gehört der "Palmen-Jury" aus Ethnologen und Kunsthistoriker an.
"Palmsonntaggestecke haben ja eine weitreichende Geschichte. Früher hat man die Äste von Trauerweiden oder anderes grünes Gewächs dafür genommen. Irgendwann jedoch hat der Kurp das noch zusätzlich mit weiteren Blumen geschmückt. Vor über 40 Jahren dann hat der damalige Gemeindepfarrer – Gott hab' ihn selig – die Tradition reaktiviert, oder besser gesagt inspiriert, die kurpischen Palmen immer bunter zu machen und einen Wettbewerb dafür initiiert."
Dass gerade Krepppapier für die Palmsonntaggestecke verwendet wird, hat einen besonderen Grund, sagt Wieslaw Kowalkowski.
"Nicht alle, aber doch ein Teil der ursprünglich verwendeten Pflanzen steht mittlerweile unter Artenschutz. Daher haben wir heute ökologische Palmen. Naja, vielleicht nicht ganz, denn das Papier ist ja auch aus Holz gemacht. Jedenfalls werden keine Pflanzen dafür zerstört. Wir wären auch so dazu gekommen, die Natur zu schonen. Denn die Pracht der Kurpie sind nicht nur die kurpischen Palmen, sondern auch die Wiesen und Wälder. Der Kurp ist ein Mensch des Waldes, der einst im Wald und vom Wald lebte. Der Kurp schont also das, was ihn überleben lässt."
Bis in die frühe Neuzeit waren die Wälder in der Kurpie, an der Grenze zum ehemaligen Ostpreußen, nahezu unberührt. Und noch heute ist die Region, rund drei Autostunden von der Hauptstadt Warschau entfernt, geprägt durch dichte Forste und weitläufige Feuchtgebiete. Ihre Einwohner, die Kurpie, gelten als naturverbunden und sind zwischen Oder und Bug auch für ihre ausgeprägten Traditionen bekannt: Scherenschnitte, bunte Trachten mit aufwendigen Stickereien und die Volkstänze mit Gesang.
Das Brauchtum und Handwerk der Kurpie gilt als "typisch" polnische Folklore, die den Konformismus des real existierenden Sozialismus überlebt hat. Häufig kann man in den Souvenirländen der Großstädte handwerkliche Erzeugnisse von volkstümlichen Künstlern erwerben, darunter Scherenschnitte aber auch Schmuck aus Bernstein. Denn das "Gold des Nordens" kommt stellenweise im kurpischen Erdreich vor. Als Volksgruppe jedoch genießen die Kurpie keine Sonderrechte, wie etwa die Kaschuben, deren Ethnolekt als Regionalsprache geschützt ist.
"Wir werden oft mit den Góralen und den Kaschuben verglichen. Denn alle drei Volksgruppen hatten die gleichen Wurzeln. Böse Zungen behaupten gar, die Góralen sind diejenigen, die in den Bergen geblieben sind. Die Kaschuben haben es bis ans Meer geschafft und wir, die Kurpien, sind auf halbem Weg geblieben. Eine Analogie gibt es aber durchaus: Die Folklore der Goralen, Kaschuben und Kurpien ist recht gleich."
Etwas Weiteres haben die drei Volksgruppen gemeinsam: eine Religiosität, die sich im Brauchtum und der Folklore zugleich widerspiegelt. Zwar stellen viele kurpische Frauen die Gestecke für den Handel her oder sie lockt das Preisgeld beim Wettbewerb. Denn wird eine Palme qualifiziert, werden rund 50 Euro ausgezahlt, für die Erstplatzierten gibt es dann umgerechnet 200 Euro. Doch der Ursprung der kurpischen Palme liegt, wie so oft, im christlichen Ritus. Und eine Prozession mit den handgearbeiteten Gestecken bildet noch immer den Höhepunkt des Palmsonntags in der Kurpie.
Ein wahres Blumenmeer zieht dann durch die Straßen von der alten kunstvoll bemalten Holzkirche in ein neues, modernes Gotteshaus aus Beton. Unterwegs segnet der Bischof die Gestecke mit Weihwasser.
Doch ganz so fromm geht es nicht immer zu in der Kurpie. Denn der Kurp ist auch für etwas Weiteres bekannt: seinen Aberglauben. Teresa Szmigiel, die selbst auf einem abgelegenen Bauernhof wohnt und nach vier Stunden filigraner Handarbeit endlich mit ihrem Palmsonntaggesteck fertig ist, hat manch ungewöhnliche und profane Sitte auch schon bei ihren Nachbarn beobachtet:
"Es gibt den Aberglauben, die gesegneten Palmen, sich an den Hals zu reiben – das soll bei der Genesung helfen. Mit den Gestecken treiben aber auch kurpische Bauern ihr Vieh auf die Weide."
Das Krepppapier hält Teresa Szmigiel zwischen den Finger. Es folgen einige Bewegungen, bei denen das Papier hin- und hergewickelt wird und bei denen das Auge eines Laien kaum mitkommt. Keinen Augenblick später hat sie aus dem rosa Kreppband eine Blüte gewickelt. Sie sieht einer Rose zum Verwechseln ähnlich und wird zu den anderen Papierblumen in einen Karton gelegt. Später wird sie mit anderen Kunstblüten mit feinem Draht an einen Stock gebunden und ergibt ein prächtiges Gesteck.
Kurpie heißt die Region in Polen, in der in der Fastenzeit traditionell bunte Blumengestecke aus Krepppapier gebastelt und am Sonntag vor Ostern in die Kirche gebracht werden.
"Die echte kurpische Palme muss sehr bunt sein. Nicht nur irgendwie farbig, sondern grell und ins Auge stechen."
Lila Nelken, leuchtend gelbe Osterglocken, rote Mohnblumen, weiße Margeriten und rosa Tulpen. Ein wahrer "Frühlingsgarten", wenn auch nur aus Krepppapier, ist so eine kurpische Palme. Und allesamt sehen dem Original verblüffend ähnlich, sagt die 50-jährige Teresa Szmigiel.
"Je nach Blume, Lilie oder so, müssen genauso viele Blüten bestehen und der Stiel und die Blätter müssen natürlich wirken. Die Jury ist sehr streng. Wenn irgendwelche Phantasieblumen vorkommen, ist es ganz gleich. Aber, wenn als Vorlage echte Blumen genommen werden, dann müssen sie authentisch sein. Falls sie es nicht sind, dann gibt es weniger Punkte und entsprechend keinen Preis."
Denn darum geht es vielen kurpischen Frauen, wie Teresa Szmigiel: Das schönste Gesteck aus Krepppapier zu basteln und es der "Palmen-Jury" vorzustellen. Rund 200 Kreppblumen-Gestecke wetteifern Jahr für Jahr um den Titel der schönsten "kurpischen Palme". Zwischen einem halben und bis zu vier Meter lang sind die Kreationen und bestehen aus Hunderten von Papierblumen. Um die längsten Exemplare zu transportieren, braucht man sogar mehrere Träger. Aus ganz Polen kommen eine Woche vor Ostern Schaulustige in die alte Sankt-Anna-Holzkirche von Lyse, einem 2.000-Seelen-Dorf in der Kurpie, um die unechte Blumenpracht zu bestaunen.
Wieslaw Kowalkowski, ein Mann mit einem angegrauten Schnauzer, ist der Gemeindevorsteher des Örtchens. Er gehört der "Palmen-Jury" aus Ethnologen und Kunsthistoriker an.
"Palmsonntaggestecke haben ja eine weitreichende Geschichte. Früher hat man die Äste von Trauerweiden oder anderes grünes Gewächs dafür genommen. Irgendwann jedoch hat der Kurp das noch zusätzlich mit weiteren Blumen geschmückt. Vor über 40 Jahren dann hat der damalige Gemeindepfarrer – Gott hab' ihn selig – die Tradition reaktiviert, oder besser gesagt inspiriert, die kurpischen Palmen immer bunter zu machen und einen Wettbewerb dafür initiiert."
Dass gerade Krepppapier für die Palmsonntaggestecke verwendet wird, hat einen besonderen Grund, sagt Wieslaw Kowalkowski.
"Nicht alle, aber doch ein Teil der ursprünglich verwendeten Pflanzen steht mittlerweile unter Artenschutz. Daher haben wir heute ökologische Palmen. Naja, vielleicht nicht ganz, denn das Papier ist ja auch aus Holz gemacht. Jedenfalls werden keine Pflanzen dafür zerstört. Wir wären auch so dazu gekommen, die Natur zu schonen. Denn die Pracht der Kurpie sind nicht nur die kurpischen Palmen, sondern auch die Wiesen und Wälder. Der Kurp ist ein Mensch des Waldes, der einst im Wald und vom Wald lebte. Der Kurp schont also das, was ihn überleben lässt."
Bis in die frühe Neuzeit waren die Wälder in der Kurpie, an der Grenze zum ehemaligen Ostpreußen, nahezu unberührt. Und noch heute ist die Region, rund drei Autostunden von der Hauptstadt Warschau entfernt, geprägt durch dichte Forste und weitläufige Feuchtgebiete. Ihre Einwohner, die Kurpie, gelten als naturverbunden und sind zwischen Oder und Bug auch für ihre ausgeprägten Traditionen bekannt: Scherenschnitte, bunte Trachten mit aufwendigen Stickereien und die Volkstänze mit Gesang.
Das Brauchtum und Handwerk der Kurpie gilt als "typisch" polnische Folklore, die den Konformismus des real existierenden Sozialismus überlebt hat. Häufig kann man in den Souvenirländen der Großstädte handwerkliche Erzeugnisse von volkstümlichen Künstlern erwerben, darunter Scherenschnitte aber auch Schmuck aus Bernstein. Denn das "Gold des Nordens" kommt stellenweise im kurpischen Erdreich vor. Als Volksgruppe jedoch genießen die Kurpie keine Sonderrechte, wie etwa die Kaschuben, deren Ethnolekt als Regionalsprache geschützt ist.
"Wir werden oft mit den Góralen und den Kaschuben verglichen. Denn alle drei Volksgruppen hatten die gleichen Wurzeln. Böse Zungen behaupten gar, die Góralen sind diejenigen, die in den Bergen geblieben sind. Die Kaschuben haben es bis ans Meer geschafft und wir, die Kurpien, sind auf halbem Weg geblieben. Eine Analogie gibt es aber durchaus: Die Folklore der Goralen, Kaschuben und Kurpien ist recht gleich."
Etwas Weiteres haben die drei Volksgruppen gemeinsam: eine Religiosität, die sich im Brauchtum und der Folklore zugleich widerspiegelt. Zwar stellen viele kurpische Frauen die Gestecke für den Handel her oder sie lockt das Preisgeld beim Wettbewerb. Denn wird eine Palme qualifiziert, werden rund 50 Euro ausgezahlt, für die Erstplatzierten gibt es dann umgerechnet 200 Euro. Doch der Ursprung der kurpischen Palme liegt, wie so oft, im christlichen Ritus. Und eine Prozession mit den handgearbeiteten Gestecken bildet noch immer den Höhepunkt des Palmsonntags in der Kurpie.
Ein wahres Blumenmeer zieht dann durch die Straßen von der alten kunstvoll bemalten Holzkirche in ein neues, modernes Gotteshaus aus Beton. Unterwegs segnet der Bischof die Gestecke mit Weihwasser.
Doch ganz so fromm geht es nicht immer zu in der Kurpie. Denn der Kurp ist auch für etwas Weiteres bekannt: seinen Aberglauben. Teresa Szmigiel, die selbst auf einem abgelegenen Bauernhof wohnt und nach vier Stunden filigraner Handarbeit endlich mit ihrem Palmsonntaggesteck fertig ist, hat manch ungewöhnliche und profane Sitte auch schon bei ihren Nachbarn beobachtet:
"Es gibt den Aberglauben, die gesegneten Palmen, sich an den Hals zu reiben – das soll bei der Genesung helfen. Mit den Gestecken treiben aber auch kurpische Bauern ihr Vieh auf die Weide."