Johannes Rau: Nein, ich hatte mir immer nur eine Amtszeit vorgenommen. Natürlich gibt es zwischendurch mal die Anfechtung – das Amt macht so viel Freude, da könnte man noch zwei Jahre dran hängen. Aber das sieht unsere Verfassung nicht vor, und der Bundespräsident ist auch ein Hüter der Verfassung gegenüber sich selber.
Burchardt: Gibt es irgendetwas, wo Sie sagen würden: Das überlasse ich jetzt meinem Nachfolger, das habe ich nicht mehr auf die Reihe bekommen? Oder scheiden Sie mit dem Gefühl: Ich habe genau das gemacht, was ich in dieser Zeit vollbringen konnte?
Rau: Ich habe das getan, was in dieser Zeit getan werden konnte. Aber es gibt natürlich Dinge – Entscheidungen, Gnadenentscheidungen, Stellungnahmen zu Rechtsfragen –, bei denen man denkt, wenn sie noch in meiner Zeit gelegen hätten, dann hätte ich es gern wahrgenommen. Aber das nimmt man hin, denn der Kalender regiert, und er regiert ja zum Glück auch die dann folgende freiere Zeit, um von Freizeit nicht zu reden.
Burchardt: Herr Präsident, in Ihre Amtszeit fällt ja das, was kluge Leute den 'gesellschaftlichen Paradigmenwechsel' in diesem unseren Lande nennen. Das heißt, die soziale Lage hat sich verschärft, die wirtschaftliche ohnehin. Man spricht auch – Sie haben's auch gemacht in Ihrer letzten Berliner Rede – von einer Vertrauenskrise in die Politik. Sind Sie da nicht auch etwas frustriert, nicht mehr dagegen gemacht zu haben oder auch zu können?
Rau: Das, was ich tun konnte, habe ich getan. Aber natürlich fragt man sich, müsste man nicht manches noch schärfer formulieren, noch häufiger sagen, damit es durchdringt, denn vieles von dem, was man sagt, findet ja nur verstreute Verbreitung.
Und bis sich das dann mal bündelt, wie in dem starken Echo auf die letzte Berliner Rede, das dauert einige Zeit. Trotzdem glaube ich, dass wir allen Grund haben zur Zuversicht und dass wir nicht ein Lebensgefühl bei uns aufkommen lassen dürfen, als lebten wir kurz hinter Bulgarien oder Rumänien.
Burchardt: Aber ist es nicht schon Tatbestand – Deutschland war früher der große wirtschaftliche Riese, der politische Zwerg. Möglicherweise ist es jetzt umgekehrt?
Rau: Wir sind immer noch die größte Exportnation der Welt, wir haben immer noch eine positive Patentbilanz. Wir stellen fest, dass bei den Großforschungsanlagen und den großen Instituten über 40 Prozent ausländische Wissenschaftler sind. Die Zahl der Rückkehrer aus Amerika im Wissenschaftsbereich ist größer als die Zahl derer, die zum Glück für einige Jahre in die Vereinigten Staaten oder nach Australien gehen. Also ich finde, wir haben keinen Grund zur Unzufriedenheit. Wir haben Grund, uns zu überlegen, ob nicht das, was Sie den Paradigmenwechsel nennen, zu wenig erläutert, zu wenig vorbereitet, zu wenig nachgearbeitet worden ist. Und darüber bin ich im Gespräch mit den politischen Parteien gewesen, da hat es dann auch manche Differenz in der Einschätzung gegeben …
Burchardt: … aber hinter verschlossenen Türen …
Rau: … das hinter verschlossenen Türen. Ich glaube überhaupt, dass neben dem Mikrophon der runde Tisch im Amtszimmer des Bundespräsidenten das wichtigste Utensil ist, denn da konnte sich jeder darauf verlassen, was hier gesprochen wird, wird nicht instrumentalisiert, wird nicht taktisch genutzt, und bis auf einen einzigen Fall ist die Vertraulichkeit immer gewahrt geblieben.
Burchardt: Welcher Fall war das?
Rau: Das war ein Fall, in dem eine Partei aus einem Gespräch berichtet hat, das ausdrücklich unter vertraulich anberaumt und besprochen worden ist.
Burchardt: Haben Sie denn nach diesen Gesprächen das Gefühl gehabt, dass das, was Sie gesagt haben, erstens ernst genommen wurde und zweitens auch umgesetzt?
Rau: Ja, das Gefühl habe ich gehabt. Ich habe allerdings gleichzeitig die Erfahrung gemacht, dass die Ressortierung des politischen Denkens sehr weit geht, dass es Ihnen passieren kann – egal ob auf der Bundes- oder auf der Landesebene –, dass Sie einen verantwortlichen Politiker auf ein Thema hinweisen, die Dringlichkeit anmahnen, und er dann sagt: 'Das ist aber nicht mein Ressort'. Und das habe ich als ein Defizit empfunden, weil meine 28-jährige Kabinettserfahrung mir deutlich gemacht hat: Ein Minister ist nicht nur Ressortchef, sondern er ist immer auch Kabinettmitglied, das heißt, er ist in einem Kollektivgremium einbezogen, in dem er nicht nur seine eigenen Zahlen sehen darf. Und da ist sicher in manchen Ländern und auch im Bund noch ein Nachholbedarf an Steuerung.
Burchardt: Sie haben auch in Ihrer Berliner Rede gesagt, die Politik muss die Menschen mitnehmen mit dem, was sie macht, haben aber gleichzeitig beklagt, dass auch in der Vergangenheit sehr oft in kleinsten Runden entschieden worden ist. Ich denke auch, die Agenda 2010 fällt darunter, das ist unter der Idee des Bundeskanzlers ja doch nur mit wenigen Leuten besprochen worden. Ist denn nicht tatsächlich dann das Vermittlungsproblem auch darauf zurückzuführen, dass hier kein entscheidender und auch entschiedener Dialog vorher stattgefunden hat?
Rau: Es ist festzustellen, dass die Dialogformen sich geändert haben und die Dialogprämien. Und hier meine ich, sei Zeit zu einer Besinnung, zu einer Rückbesinnung. Es kann nicht sein, dass die Themen der Woche entschieden werden in einer Fernsehdiskussion. Es kann nicht sein, dass die entscheidenden Statements abgegeben werden vor Hörfunk- oder Fernsehmikrophonen statt im Kabinett oder im Parlament. Das sind die Stätten der Auseinandersetzung. Aber das gilt natürlich nicht nur für den Bund, das gilt auch für die Länder, und ich könnte mir denken, dass es auch in der Kommunalpolitik eine Neigung gibt, über publizistische Bande zu spielen, um den direkten Wettbewerb der Argumente nicht erdulden oder durchstehen zu müssen.
Burchardt: Zum Thema Publizistik. Sie haben vor gut einer Woche dem 'Netzwerk Recherche' – eine Versammlung von Journalisten – die Leviten gelesen und die Medien allgemein mit zehn Geboten – wenn ich das mal so nennen darf – auf ihre Pflichten hingewiesen auf das, was wünschenswert wäre. Es gab politische Kampagnen – stärker als je zuvor in diesem Land in den Medien. Haben die Medien ihre Rolle überzogen als eigentliche akzeptierte vierte Gewalt in diesem Land?
Rau: Nicht 'die' Medien, aber manche Medien. Und dabei meine ich nicht nur eines: Sie haben doch oft vergessen, dass Wähler und Gewählte Kontrollmöglichkeiten haben der zeitlich begrenzten Machtausübung, dass Medien das nicht haben. Sie haben es nur in der Auflage oder im Anzeigenteil. Und da, glaube ich, ist eine stärkere Selbstbesinnung innerhalb der Medien nötig.
Burchardt: Ein neuer Medienkodex?
Rau: Ich glaube ja, jedenfalls ein aktuellerer oder ein durchgreifenderer. Denn bis eine Sache im Presserat auf ihre Qualität hin geprüft worden ist, ist die Meldung vergessen. Und wenn dann die Richtigstellung erst nach Monaten und an anderer Stelle erfolgt, dann scheint mir, dass die Medien ihre Rolle falsch einschätzen. Übrigens auch manche Politiker. Es gibt Politiker, denen werden Interviews, die gemacht worden sind, nachträglich gestrichen mit dem Argument – da gibt es keine Vorabmeldungsmöglichkeit. Also, wenn man nicht etwas vorher hat abdrucken können, wenn nicht das Sensationelle im Interview war, ist das ganze Interview nichts wert. Das verändert nach meiner Meinung die Gesprächssituation
Burchardt: Verändert auch Sie, dass auch die Demokratie, das hat Wolfgang Thierse, der Bundestagspräsident, kürzlich auch vor Journalisten in Mainz gesagt, es gefährde die Demokratie, wenn die Ökonomisierung der Nachrichten – dadurch, dass der Konkurrenzdruck so groß geworden ist – weiter in diesem Maß zunimmt?
Rau: Da würde ich ihm zustimmen, aber ich würde gleichzeitig sagen: Das Parlament muss die Dinge an sich ziehen. Und dazu gehört die freie Rede, dazu gehört auch die Bereitschaft zu Unkontrolliertem, das heißt, nicht unkontrolliertem Reden, aber zu einem Reden, das nicht vorformuliert ist im Kopf. Ich habe kürzlich mal eine Rede – eine politische Rede – gehört, die vorgelesen wurde und deren Hauptbestandteil die Aussage war, dass man Reden im Parlament nicht vorlesen sollte. Da wird das dann deutlich. Natürlich ist die freie Rede besser als die gelesene, aber ich habe auch manche Rede lesen müssen, weil ihr Charakter das vorgab. Nur dass wir da betriebsblind werden, habe ich etwas Sorge.
Burchardt: Wie beurteilen Sie denn, ich will mal platt formulieren, die Machtkonstellation – hier die Politik, dort die Medien. Sie haben eben ja beklagt, dass in Fernsehtalkshows Politik gemacht wird. Ist die Rolle der Medien inzwischen stärker als die des Parlaments?
Rau: Nein, stärker – das kann man nicht sagen. Aber das Parlament muss natürlich darauf achten, dass es selber debattiert und entscheidet und nicht Kommissionsberichte absegnet oder gar abnickt. Auch das kann es geben. Auch die Art der Kommissionen muss überdacht werden. Eine Kommission, die ein hervorragendes Ergebnis hat, in deren Arbeitsverlauf aber 39 bis 75 Interviews oder Berichte von Kommissionsmitgliedern öffentlich so gestreut worden sind, dass man hernach den Kommissionsbericht und seinem Ergebnis nicht mehr zur Kenntnis nimmt, sondern sich die 75 Interviews so zusammenbauen muss, dass ein Puzzle entsteht – das ist nicht in Ordnung.
Burchardt: Muss man in dem Zusammenhang möglicherweise auch das Parlament verkleinern, weil ja gerade bei Durchstechereien in der Vergangenheit immer wieder sichtbar wurde, dass gerade Hinterbänkler sehr oft sehr gern etwa einen Referentenentwurf an irgendein bestimmtes Medium gegeben hat, und schon war dieser Referentenentwurf Regierungspolitik?
Rau: Das ist so alt, wie es Referenten gibt und älter als die Referenten selber. Ich habe Sorge bei der Verkleinerung der Parlamente, weil sie ja einhergehen muss mit der Vergrößerung der Wahlkreise. Und das wird uns bei der Europawahl ganz deutlich: Wenn es nicht den Kontakt des zu Wählenden mit den Wählern geben kann, weil er zuständig ist für 3,5 Millionen Menschen in einem Regierungsbezirk, dann wird die Wahl so abstrakt, dass man nicht mehr die Person in das Mandat wählt, sondern dass man eine Richtungsempfehlung gibt, und die ziemlich ungenau. Das halte ich auch für gefährlich.
Burchardt: Vielleicht ein Wort zurück zur ökonomischen Krise, die ja immer noch nicht in den Griff genommen ist. Man muss sich auch fragen, ob sie national überhaupt zu bewältigen ist. Wie sehen Sie das?
Rau: Immer weniger. Der Begriff 'Nationalökonomie', den wir alle noch gelernt haben, existiert in der Sache nicht mehr, seit Entscheidungen in Konzernzentralen getroffen werden oder wenn sie in nationalen Geschäftsleitungen getroffen werden abhängig sind von dem, was die EZB oder der amerikanische Markt mit seinen Instrumenten an Vorbedingungen stellt. Ich glaube, dass wir uns der Chancen und der Gefährdung der Globalisierung klarer annehmen müssen, dass wir aber aufpassen müssen, dass die Globalisierung nicht zu einem Vorwand wird. Denn mein Friseur hat nichts mit dem Kampf der Globalisierung zu tun, und unser Elektriker auch nicht – wohl seine Lieferanten, wohl die, mit denen er wiederum in geschäftlichen Beziehungen steht. Aber man darf nicht alles auf die Globalisierung schieben, was in Wirklichkeit die Frage nach Leistung und Wettbewerb bei uns ist.
Burchardt: Leistung und Wettbewerb – in dem Zusammenhang haben wir in der letzten Zeit ja starke Diskussionen über die Vorstandsgehälter gehabt und insbesondere auch über die Abfindungen. Jetzt durch den Vodafone-Skandal, wo ja 50 Milliarden plötzlich vom Fiskus zurückgefordert werden können …
Rau: … nein, nur die Hälfte, 50 Milliarden ist das Volumen, und die Hälfte davon soll über den Verlustvortrag eingebracht werden …
Burchardt: … gut. Man macht sich dort eine möglicherweise Steuerlücke zu Nutze. Ist das obszön eigentlich, was dort geschieht? Wie beurteilen Sie das als Staatsoberhaupt?
Rau: Ich würde es jedenfalls für obszön halten, wenn die Strategie des gesamten Übernahmeprozesses bestimmt worden wäre nicht vom Kurs der Aktie, sondern von den Möglichkeiten des Verlustvortrages. Das wäre in der Tat obszön. Es gibt dies Instrument des Verlustvortrages seit vielen Jahren, und es hat Sinn. Aber es hat keinen Sinn mehr seit vielen Jahren, wenn es nur dazu dient, dem eigenen Unternehmen den Wettbewerbsvorteil zu bringen, den es in Konkurrenz um die Ware nicht mehr hat, sondern den es nur haben kann, wenn die Internationalisierung dazu führt, dass sich die in Großbritannien erzielten Verluste – schon der Begriff 'erzielte Verluste' ist ja an sich ein Unbegriff – in Deutschland abschreiben kann. Und da sind Änderungen ganz gewiss nötig. Vor allem ist mal eine Röntgenaufnahme nötig: Was ist da eigentlich in Europa los?
Burchardt: Wir haben ja eingehakt bei Ihren beiden Begriffen 'Wettbewerb' und 'Leistung'. Gibt es eine Leistung, die es rechtfertigt, dass jemand –zig Millionen als Abfindung mit nach Hause nimmt?
Rau: Nach meiner Überzeugung nicht. Wir müssen uns klar darüber sein, dass die führenden Manager Zeitverträge haben und dass sie die so aushandeln, dass für die Zeit des Ausscheidens eine Sicherung da ist, die sie nicht zwingt, unmittelbar zur Konkurrenz zu gehen. Wenn das aber Größenordnungen erreicht, mit denen Lebensarbeit unnötig wird, dann scheint mir, ist da vieles reformbedürftig – übrigens nicht erst jetzt, sondern schon seit einer ganzen Reihe von Jahren.
Burchardt: Was – würden Sie sagen – sollte reformiert werden an erster Stelle?
Rau: Man muss über Wirtschaftsethik überhaupt nachdenken, man muss darüber nachdenken, was der Satz "die Wirtschaft ist für den Menschen da und nicht der Mensch für die Wirtschaft" - was der bedeutet im Vollzug des Wirtschaftens. Und man muss darüber nachdenken, wie sich die Verpflichtung des Unternehmers, Gewinne zu machen, zu der verhält, Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern. Und wenn man das neu justieren will, muss die Politik aufhören so zu tun, als könne sie selber Arbeitsplätze schaffen. Das kann sie nicht – bis auf den schmalen Bereich des
öffentlichen Dienstes. Sie kann Rahmenbedingungen für Arbeitsplätze schaffen, sie kann eine Wirtschaftspolitik betreiben, die das erleichtert oder erschwert, je nach dem. Aber sie darf nicht entweder Allmachtsgesten oder Ohnmachtgefühle vermitteln, sondern sie muss deutlich machen was sie kann und was sie nicht kann – so wie der Politiker sagen muss, was er tut und tun, was er sagt. Wenn man zu so einfachen Antworten kommt, die schwer zu finden sind, dann entsteht neue Glaubwürdigkeit.
Burchardt: In dem Zusammenhang ist ja immer wieder ein politisches oder auch ein wirtschaftspolitisches Totschlagsargument die Standortfrage. Wir haben jetzt gesehen, dass auf Grund des Gefälles zwischen Westdeutschland und den östlichen neuen Bundesländern, das ja stärker zunimmt, dass hier auch so etwas wie eine gesellschaftliche Spaltung entstehen kann. Ist das gefährlich für Deutschland, auch in diesem osterweiterten Europa, denn viele Unternehmen gehen ja gerade mit dieser Standortargumentation in Länder wie Tschechien und Polen, wo es einfach billigere Löhne gibt?
Rau: Ich war kürzlich in Ungarn, wo die Löhne auch wesentlich niedriger sind. Und ich habe mich vorher an den Zahlen und in den Gesprächen versichert: Die Tatsache, dass die deutsche Automobilindustrie in Ungarn produziert, sichert auch in Deutschland Arbeitsplätze. Das heißt, man muss das als einen Gesamtzusammenhang sehen. Und deshalb ist die Entscheidung darüber, ob man geht oder wiederkommt, nicht nur eine unternehmerische, sie ist auch eine nationale. Wir müssen jetzt darauf achten, dass nicht die großen Zahler in die EU den kleineren Nehmenden über Subventionen die Möglichkeit erhalten, ihre eigenen Steuern niedrig zu halten. Wir dürfen andererseits jetzt nicht zu dem Argument kommen: Jetzt müsst Ihr alle unsere Steuersätze übernehmen – obwohl die deutschen Steuersätze im Mittelfeld liegen, die liegen nicht an der Spitze. Aber daher gilt es jetzt, europäischer zu denken, als wir das bisher tun
Burchardt: Aber auch das ist ein Jahrzehnte-Thema eigentlich. Seit es die EU gibt, seit den Römischen Verträgen 1957 wird ja immer wieder von der 'Steuerharmonisierung' gesprochen, nur es passiert faktisch nicht. Ist durch eine Erweiterung das nicht eher noch schwieriger?
Rau: Es ist einiges passiert, nur Europa war bisher so gestaltlos, dass man das Geschehene nicht wahrnehmen konnte. Bei der Frage der Standortsicherung und bei der Frage der Steuergesetzgebung sind eine Fülle von Schritten gegangen worden, für die ich dankbar bin. Aber es ist noch nicht genug, und wir brauchen Bestandsaufnahme, gerade jetzt im Jahr der Erweiterung der Europäischen Union, die uns vielleicht dann auch deutlicher macht, dass das Klagen über zu hohe Steuern kein Politikersatz werden darf. Denn bei den Steuern muss man immer fragen, wer sie zahlt und wer die Möglichkeit hat, ihnen auszuweichen. Es gibt ja nicht nur den Begriff der Steuerhinterziehung, sondern inzwischen ist Gang und Gäbe der Begriff der Steuervermeidung. Und dass es das gibt – aber nicht für den Arbeitnehmer, nicht für den Rentner, nicht für den abhängig Beschäftigten –, das ist doch ein Hinweis darauf, dass wir im Bereich der Steuergesetzgebung eine ganz, ganz hohe Sensibilität brauchen, die wir nach meiner Überzeugung noch nicht haben.
Burchardt: Herr Bundespräsident, neben dem Thema der wirtschaftlichen Globalisierung – und der G-8-Gipfel hat es ja jetzt gerade gezeigt in dieser Woche – gibt es auch so etwas wie sehr problematische globalisierte Themen im Bereich der Sicherheitspolitik. Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Rolle Deutschlands oder auch Europas gegenüber Amerika? Hat es da jetzt eine Kräfteverschiebung gegeben, denn gerade jetzt haben ja Schröder und Chirac wieder gesagt: Die NATO in den Irak sehen wir so nicht, jedenfalls nicht Soldaten.
Rau: Ich bin überzeugt davon, dass der Terrorismus eine Anfechtung ist, die weltweit geschieht. Das ist auch nicht mehr anders denkbar in einer Zeit, in der ein solcher Terrorismus auch politisch-religiöse Hintergründe haben kann. Nur muss man sich dann klar darüber sein: Die Antwort auf diesen Terrorismus kann im Notfall auch militärisch gegeben werden. Aber es ist nicht die militärische Antwort, die die erste oder notwendigste oder wichtigste ist, sondern wir müssen reden über Privatisierung von Gewalt, wir müssen reden über die Teile der Welt, in der es praktisch gar keine Staatlichkeit mehr gibt, sondern Warlords. Und wir müssen nach zivilisatorischen Antworten suchen auf die Herausforderung gegenüber unserer Zivilisation. Da habe ich den Eindruck, dass Deutschland auf einem guten Weg ist, weil wir in den Parteien und in den gesellschaftlichen Gruppen sensibel sind für Gefährdungen, aber nicht hysterisch im Blick auf Ereignisse.
Burchardt: Kann Europa – und da will ich jetzt auch Russland bis zum Ural mit einbeziehen –, kann Europa sich stärker loslösen aus dem transatlantischen Bündnis und vielleicht das, was man ja auch gerade in der Vergangenheit immer wieder eine stärkere Selbstbehauptung genannt hat, wirklich verwirklichen?
Rau: Ich bin nicht für ein Herausziehen und Heraushalten. Ich bin für klare europäische Positionen, damit der transatlantische Partner weiß, dass er auf gleicher Augenhöhe mit anderen redet, die ihre eigenen Positionen einbringen, die auch bereit sind, diese Positionen zur Disposition zu stellen. Das heißt, wir wollen uns nicht überheben. Aber dass Deutschland und Europa mit einer klaren Politik auch ein verlässlicher Partner sein kann, das darf man sagen, ohne damit zu sagen, wir wollen gar nicht Partner sein, sondern unseren eigenen Weg gehen. Ich habe von Isolationismus nie etwas gehalten, weder von amerikanischem noch von europäischem.
Burchardt: Wir befinden uns am Wochenende der Direktwahlen zum Europäischen Parlament. Man muss davon ausgehen, dass die Wahlbeteiligung, wie immer, sehr niedrig sein wird. Was kann man da eigentlich in Sachen Vermittelbarkeit für die Bürger tun, um Europa attraktiver erscheinen zu lassen?
Rau: Schritt für Schritt dem Europäischen Parlament mehr Aufgaben zuweisen und deutlicher machen, dass das Europäische Parlament Mitwirkungsrechte hat, die unser Leben betreffen, und nicht nur das Leben der Abgeordneten – und darauf verzichten, am Abend dann die Schlüsse aus der Europawahl für die heimische Situation zu ziehen, also die Frage zu stellen: Was bringt das der CDU, der SPD, der FDP, den Grünen im Nationalen, im Regionalen. Wenn das bis in die Rathäuser geht, dass man aus der Europawahl Schlüsse zieht über die Popularität des eigenen Bürgermeisters, dann sieht man, auf welche Abwege man da geraten kann.
Burchardt: Beschließen wir mit Europa dieses Interview, Herr Bundespräsident. Es beginnt jetzt auch die Europameisterschaft im Fußball. Ich weiß, dass Sie gern mal Fußball schauen. Ich will Sie nicht zu einer weisen Prognose verleiten, aber doch mal um eine Einschätzung fragen, wie Sie glauben, die deutsche Mannschaft abschneiden kann.
Rau: Ich glaube, dass die deutsche Mannschaft viel besser spielen kann, als sie es am Sonntag in Kaiserslautern gegen Ungarn getan hat. Und ich bitte die Mannschaft darum, das auch zu tun in den Spielen am Dienstag gegen Holland und was dann so kommt. Dann sehe ich eine gute Chance. Aber da ist noch viel Konzentration und Energie nötig.
Burchardt: Was machen Sie, wenn die Mannschaft Ihrer Bitte nicht nachkommt?
Rau: Dann bin ich sauer und gehe nicht zum Bahnhof.
Burchardt: Vielen Dank für das Gespräch.
Burchardt: Gibt es irgendetwas, wo Sie sagen würden: Das überlasse ich jetzt meinem Nachfolger, das habe ich nicht mehr auf die Reihe bekommen? Oder scheiden Sie mit dem Gefühl: Ich habe genau das gemacht, was ich in dieser Zeit vollbringen konnte?
Rau: Ich habe das getan, was in dieser Zeit getan werden konnte. Aber es gibt natürlich Dinge – Entscheidungen, Gnadenentscheidungen, Stellungnahmen zu Rechtsfragen –, bei denen man denkt, wenn sie noch in meiner Zeit gelegen hätten, dann hätte ich es gern wahrgenommen. Aber das nimmt man hin, denn der Kalender regiert, und er regiert ja zum Glück auch die dann folgende freiere Zeit, um von Freizeit nicht zu reden.
Burchardt: Herr Präsident, in Ihre Amtszeit fällt ja das, was kluge Leute den 'gesellschaftlichen Paradigmenwechsel' in diesem unseren Lande nennen. Das heißt, die soziale Lage hat sich verschärft, die wirtschaftliche ohnehin. Man spricht auch – Sie haben's auch gemacht in Ihrer letzten Berliner Rede – von einer Vertrauenskrise in die Politik. Sind Sie da nicht auch etwas frustriert, nicht mehr dagegen gemacht zu haben oder auch zu können?
Rau: Das, was ich tun konnte, habe ich getan. Aber natürlich fragt man sich, müsste man nicht manches noch schärfer formulieren, noch häufiger sagen, damit es durchdringt, denn vieles von dem, was man sagt, findet ja nur verstreute Verbreitung.
Und bis sich das dann mal bündelt, wie in dem starken Echo auf die letzte Berliner Rede, das dauert einige Zeit. Trotzdem glaube ich, dass wir allen Grund haben zur Zuversicht und dass wir nicht ein Lebensgefühl bei uns aufkommen lassen dürfen, als lebten wir kurz hinter Bulgarien oder Rumänien.
Burchardt: Aber ist es nicht schon Tatbestand – Deutschland war früher der große wirtschaftliche Riese, der politische Zwerg. Möglicherweise ist es jetzt umgekehrt?
Rau: Wir sind immer noch die größte Exportnation der Welt, wir haben immer noch eine positive Patentbilanz. Wir stellen fest, dass bei den Großforschungsanlagen und den großen Instituten über 40 Prozent ausländische Wissenschaftler sind. Die Zahl der Rückkehrer aus Amerika im Wissenschaftsbereich ist größer als die Zahl derer, die zum Glück für einige Jahre in die Vereinigten Staaten oder nach Australien gehen. Also ich finde, wir haben keinen Grund zur Unzufriedenheit. Wir haben Grund, uns zu überlegen, ob nicht das, was Sie den Paradigmenwechsel nennen, zu wenig erläutert, zu wenig vorbereitet, zu wenig nachgearbeitet worden ist. Und darüber bin ich im Gespräch mit den politischen Parteien gewesen, da hat es dann auch manche Differenz in der Einschätzung gegeben …
Burchardt: … aber hinter verschlossenen Türen …
Rau: … das hinter verschlossenen Türen. Ich glaube überhaupt, dass neben dem Mikrophon der runde Tisch im Amtszimmer des Bundespräsidenten das wichtigste Utensil ist, denn da konnte sich jeder darauf verlassen, was hier gesprochen wird, wird nicht instrumentalisiert, wird nicht taktisch genutzt, und bis auf einen einzigen Fall ist die Vertraulichkeit immer gewahrt geblieben.
Burchardt: Welcher Fall war das?
Rau: Das war ein Fall, in dem eine Partei aus einem Gespräch berichtet hat, das ausdrücklich unter vertraulich anberaumt und besprochen worden ist.
Burchardt: Haben Sie denn nach diesen Gesprächen das Gefühl gehabt, dass das, was Sie gesagt haben, erstens ernst genommen wurde und zweitens auch umgesetzt?
Rau: Ja, das Gefühl habe ich gehabt. Ich habe allerdings gleichzeitig die Erfahrung gemacht, dass die Ressortierung des politischen Denkens sehr weit geht, dass es Ihnen passieren kann – egal ob auf der Bundes- oder auf der Landesebene –, dass Sie einen verantwortlichen Politiker auf ein Thema hinweisen, die Dringlichkeit anmahnen, und er dann sagt: 'Das ist aber nicht mein Ressort'. Und das habe ich als ein Defizit empfunden, weil meine 28-jährige Kabinettserfahrung mir deutlich gemacht hat: Ein Minister ist nicht nur Ressortchef, sondern er ist immer auch Kabinettmitglied, das heißt, er ist in einem Kollektivgremium einbezogen, in dem er nicht nur seine eigenen Zahlen sehen darf. Und da ist sicher in manchen Ländern und auch im Bund noch ein Nachholbedarf an Steuerung.
Burchardt: Sie haben auch in Ihrer Berliner Rede gesagt, die Politik muss die Menschen mitnehmen mit dem, was sie macht, haben aber gleichzeitig beklagt, dass auch in der Vergangenheit sehr oft in kleinsten Runden entschieden worden ist. Ich denke auch, die Agenda 2010 fällt darunter, das ist unter der Idee des Bundeskanzlers ja doch nur mit wenigen Leuten besprochen worden. Ist denn nicht tatsächlich dann das Vermittlungsproblem auch darauf zurückzuführen, dass hier kein entscheidender und auch entschiedener Dialog vorher stattgefunden hat?
Rau: Es ist festzustellen, dass die Dialogformen sich geändert haben und die Dialogprämien. Und hier meine ich, sei Zeit zu einer Besinnung, zu einer Rückbesinnung. Es kann nicht sein, dass die Themen der Woche entschieden werden in einer Fernsehdiskussion. Es kann nicht sein, dass die entscheidenden Statements abgegeben werden vor Hörfunk- oder Fernsehmikrophonen statt im Kabinett oder im Parlament. Das sind die Stätten der Auseinandersetzung. Aber das gilt natürlich nicht nur für den Bund, das gilt auch für die Länder, und ich könnte mir denken, dass es auch in der Kommunalpolitik eine Neigung gibt, über publizistische Bande zu spielen, um den direkten Wettbewerb der Argumente nicht erdulden oder durchstehen zu müssen.
Burchardt: Zum Thema Publizistik. Sie haben vor gut einer Woche dem 'Netzwerk Recherche' – eine Versammlung von Journalisten – die Leviten gelesen und die Medien allgemein mit zehn Geboten – wenn ich das mal so nennen darf – auf ihre Pflichten hingewiesen auf das, was wünschenswert wäre. Es gab politische Kampagnen – stärker als je zuvor in diesem Land in den Medien. Haben die Medien ihre Rolle überzogen als eigentliche akzeptierte vierte Gewalt in diesem Land?
Rau: Nicht 'die' Medien, aber manche Medien. Und dabei meine ich nicht nur eines: Sie haben doch oft vergessen, dass Wähler und Gewählte Kontrollmöglichkeiten haben der zeitlich begrenzten Machtausübung, dass Medien das nicht haben. Sie haben es nur in der Auflage oder im Anzeigenteil. Und da, glaube ich, ist eine stärkere Selbstbesinnung innerhalb der Medien nötig.
Burchardt: Ein neuer Medienkodex?
Rau: Ich glaube ja, jedenfalls ein aktuellerer oder ein durchgreifenderer. Denn bis eine Sache im Presserat auf ihre Qualität hin geprüft worden ist, ist die Meldung vergessen. Und wenn dann die Richtigstellung erst nach Monaten und an anderer Stelle erfolgt, dann scheint mir, dass die Medien ihre Rolle falsch einschätzen. Übrigens auch manche Politiker. Es gibt Politiker, denen werden Interviews, die gemacht worden sind, nachträglich gestrichen mit dem Argument – da gibt es keine Vorabmeldungsmöglichkeit. Also, wenn man nicht etwas vorher hat abdrucken können, wenn nicht das Sensationelle im Interview war, ist das ganze Interview nichts wert. Das verändert nach meiner Meinung die Gesprächssituation
Burchardt: Verändert auch Sie, dass auch die Demokratie, das hat Wolfgang Thierse, der Bundestagspräsident, kürzlich auch vor Journalisten in Mainz gesagt, es gefährde die Demokratie, wenn die Ökonomisierung der Nachrichten – dadurch, dass der Konkurrenzdruck so groß geworden ist – weiter in diesem Maß zunimmt?
Rau: Da würde ich ihm zustimmen, aber ich würde gleichzeitig sagen: Das Parlament muss die Dinge an sich ziehen. Und dazu gehört die freie Rede, dazu gehört auch die Bereitschaft zu Unkontrolliertem, das heißt, nicht unkontrolliertem Reden, aber zu einem Reden, das nicht vorformuliert ist im Kopf. Ich habe kürzlich mal eine Rede – eine politische Rede – gehört, die vorgelesen wurde und deren Hauptbestandteil die Aussage war, dass man Reden im Parlament nicht vorlesen sollte. Da wird das dann deutlich. Natürlich ist die freie Rede besser als die gelesene, aber ich habe auch manche Rede lesen müssen, weil ihr Charakter das vorgab. Nur dass wir da betriebsblind werden, habe ich etwas Sorge.
Burchardt: Wie beurteilen Sie denn, ich will mal platt formulieren, die Machtkonstellation – hier die Politik, dort die Medien. Sie haben eben ja beklagt, dass in Fernsehtalkshows Politik gemacht wird. Ist die Rolle der Medien inzwischen stärker als die des Parlaments?
Rau: Nein, stärker – das kann man nicht sagen. Aber das Parlament muss natürlich darauf achten, dass es selber debattiert und entscheidet und nicht Kommissionsberichte absegnet oder gar abnickt. Auch das kann es geben. Auch die Art der Kommissionen muss überdacht werden. Eine Kommission, die ein hervorragendes Ergebnis hat, in deren Arbeitsverlauf aber 39 bis 75 Interviews oder Berichte von Kommissionsmitgliedern öffentlich so gestreut worden sind, dass man hernach den Kommissionsbericht und seinem Ergebnis nicht mehr zur Kenntnis nimmt, sondern sich die 75 Interviews so zusammenbauen muss, dass ein Puzzle entsteht – das ist nicht in Ordnung.
Burchardt: Muss man in dem Zusammenhang möglicherweise auch das Parlament verkleinern, weil ja gerade bei Durchstechereien in der Vergangenheit immer wieder sichtbar wurde, dass gerade Hinterbänkler sehr oft sehr gern etwa einen Referentenentwurf an irgendein bestimmtes Medium gegeben hat, und schon war dieser Referentenentwurf Regierungspolitik?
Rau: Das ist so alt, wie es Referenten gibt und älter als die Referenten selber. Ich habe Sorge bei der Verkleinerung der Parlamente, weil sie ja einhergehen muss mit der Vergrößerung der Wahlkreise. Und das wird uns bei der Europawahl ganz deutlich: Wenn es nicht den Kontakt des zu Wählenden mit den Wählern geben kann, weil er zuständig ist für 3,5 Millionen Menschen in einem Regierungsbezirk, dann wird die Wahl so abstrakt, dass man nicht mehr die Person in das Mandat wählt, sondern dass man eine Richtungsempfehlung gibt, und die ziemlich ungenau. Das halte ich auch für gefährlich.
Burchardt: Vielleicht ein Wort zurück zur ökonomischen Krise, die ja immer noch nicht in den Griff genommen ist. Man muss sich auch fragen, ob sie national überhaupt zu bewältigen ist. Wie sehen Sie das?
Rau: Immer weniger. Der Begriff 'Nationalökonomie', den wir alle noch gelernt haben, existiert in der Sache nicht mehr, seit Entscheidungen in Konzernzentralen getroffen werden oder wenn sie in nationalen Geschäftsleitungen getroffen werden abhängig sind von dem, was die EZB oder der amerikanische Markt mit seinen Instrumenten an Vorbedingungen stellt. Ich glaube, dass wir uns der Chancen und der Gefährdung der Globalisierung klarer annehmen müssen, dass wir aber aufpassen müssen, dass die Globalisierung nicht zu einem Vorwand wird. Denn mein Friseur hat nichts mit dem Kampf der Globalisierung zu tun, und unser Elektriker auch nicht – wohl seine Lieferanten, wohl die, mit denen er wiederum in geschäftlichen Beziehungen steht. Aber man darf nicht alles auf die Globalisierung schieben, was in Wirklichkeit die Frage nach Leistung und Wettbewerb bei uns ist.
Burchardt: Leistung und Wettbewerb – in dem Zusammenhang haben wir in der letzten Zeit ja starke Diskussionen über die Vorstandsgehälter gehabt und insbesondere auch über die Abfindungen. Jetzt durch den Vodafone-Skandal, wo ja 50 Milliarden plötzlich vom Fiskus zurückgefordert werden können …
Rau: … nein, nur die Hälfte, 50 Milliarden ist das Volumen, und die Hälfte davon soll über den Verlustvortrag eingebracht werden …
Burchardt: … gut. Man macht sich dort eine möglicherweise Steuerlücke zu Nutze. Ist das obszön eigentlich, was dort geschieht? Wie beurteilen Sie das als Staatsoberhaupt?
Rau: Ich würde es jedenfalls für obszön halten, wenn die Strategie des gesamten Übernahmeprozesses bestimmt worden wäre nicht vom Kurs der Aktie, sondern von den Möglichkeiten des Verlustvortrages. Das wäre in der Tat obszön. Es gibt dies Instrument des Verlustvortrages seit vielen Jahren, und es hat Sinn. Aber es hat keinen Sinn mehr seit vielen Jahren, wenn es nur dazu dient, dem eigenen Unternehmen den Wettbewerbsvorteil zu bringen, den es in Konkurrenz um die Ware nicht mehr hat, sondern den es nur haben kann, wenn die Internationalisierung dazu führt, dass sich die in Großbritannien erzielten Verluste – schon der Begriff 'erzielte Verluste' ist ja an sich ein Unbegriff – in Deutschland abschreiben kann. Und da sind Änderungen ganz gewiss nötig. Vor allem ist mal eine Röntgenaufnahme nötig: Was ist da eigentlich in Europa los?
Burchardt: Wir haben ja eingehakt bei Ihren beiden Begriffen 'Wettbewerb' und 'Leistung'. Gibt es eine Leistung, die es rechtfertigt, dass jemand –zig Millionen als Abfindung mit nach Hause nimmt?
Rau: Nach meiner Überzeugung nicht. Wir müssen uns klar darüber sein, dass die führenden Manager Zeitverträge haben und dass sie die so aushandeln, dass für die Zeit des Ausscheidens eine Sicherung da ist, die sie nicht zwingt, unmittelbar zur Konkurrenz zu gehen. Wenn das aber Größenordnungen erreicht, mit denen Lebensarbeit unnötig wird, dann scheint mir, ist da vieles reformbedürftig – übrigens nicht erst jetzt, sondern schon seit einer ganzen Reihe von Jahren.
Burchardt: Was – würden Sie sagen – sollte reformiert werden an erster Stelle?
Rau: Man muss über Wirtschaftsethik überhaupt nachdenken, man muss darüber nachdenken, was der Satz "die Wirtschaft ist für den Menschen da und nicht der Mensch für die Wirtschaft" - was der bedeutet im Vollzug des Wirtschaftens. Und man muss darüber nachdenken, wie sich die Verpflichtung des Unternehmers, Gewinne zu machen, zu der verhält, Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern. Und wenn man das neu justieren will, muss die Politik aufhören so zu tun, als könne sie selber Arbeitsplätze schaffen. Das kann sie nicht – bis auf den schmalen Bereich des
öffentlichen Dienstes. Sie kann Rahmenbedingungen für Arbeitsplätze schaffen, sie kann eine Wirtschaftspolitik betreiben, die das erleichtert oder erschwert, je nach dem. Aber sie darf nicht entweder Allmachtsgesten oder Ohnmachtgefühle vermitteln, sondern sie muss deutlich machen was sie kann und was sie nicht kann – so wie der Politiker sagen muss, was er tut und tun, was er sagt. Wenn man zu so einfachen Antworten kommt, die schwer zu finden sind, dann entsteht neue Glaubwürdigkeit.
Burchardt: In dem Zusammenhang ist ja immer wieder ein politisches oder auch ein wirtschaftspolitisches Totschlagsargument die Standortfrage. Wir haben jetzt gesehen, dass auf Grund des Gefälles zwischen Westdeutschland und den östlichen neuen Bundesländern, das ja stärker zunimmt, dass hier auch so etwas wie eine gesellschaftliche Spaltung entstehen kann. Ist das gefährlich für Deutschland, auch in diesem osterweiterten Europa, denn viele Unternehmen gehen ja gerade mit dieser Standortargumentation in Länder wie Tschechien und Polen, wo es einfach billigere Löhne gibt?
Rau: Ich war kürzlich in Ungarn, wo die Löhne auch wesentlich niedriger sind. Und ich habe mich vorher an den Zahlen und in den Gesprächen versichert: Die Tatsache, dass die deutsche Automobilindustrie in Ungarn produziert, sichert auch in Deutschland Arbeitsplätze. Das heißt, man muss das als einen Gesamtzusammenhang sehen. Und deshalb ist die Entscheidung darüber, ob man geht oder wiederkommt, nicht nur eine unternehmerische, sie ist auch eine nationale. Wir müssen jetzt darauf achten, dass nicht die großen Zahler in die EU den kleineren Nehmenden über Subventionen die Möglichkeit erhalten, ihre eigenen Steuern niedrig zu halten. Wir dürfen andererseits jetzt nicht zu dem Argument kommen: Jetzt müsst Ihr alle unsere Steuersätze übernehmen – obwohl die deutschen Steuersätze im Mittelfeld liegen, die liegen nicht an der Spitze. Aber daher gilt es jetzt, europäischer zu denken, als wir das bisher tun
Burchardt: Aber auch das ist ein Jahrzehnte-Thema eigentlich. Seit es die EU gibt, seit den Römischen Verträgen 1957 wird ja immer wieder von der 'Steuerharmonisierung' gesprochen, nur es passiert faktisch nicht. Ist durch eine Erweiterung das nicht eher noch schwieriger?
Rau: Es ist einiges passiert, nur Europa war bisher so gestaltlos, dass man das Geschehene nicht wahrnehmen konnte. Bei der Frage der Standortsicherung und bei der Frage der Steuergesetzgebung sind eine Fülle von Schritten gegangen worden, für die ich dankbar bin. Aber es ist noch nicht genug, und wir brauchen Bestandsaufnahme, gerade jetzt im Jahr der Erweiterung der Europäischen Union, die uns vielleicht dann auch deutlicher macht, dass das Klagen über zu hohe Steuern kein Politikersatz werden darf. Denn bei den Steuern muss man immer fragen, wer sie zahlt und wer die Möglichkeit hat, ihnen auszuweichen. Es gibt ja nicht nur den Begriff der Steuerhinterziehung, sondern inzwischen ist Gang und Gäbe der Begriff der Steuervermeidung. Und dass es das gibt – aber nicht für den Arbeitnehmer, nicht für den Rentner, nicht für den abhängig Beschäftigten –, das ist doch ein Hinweis darauf, dass wir im Bereich der Steuergesetzgebung eine ganz, ganz hohe Sensibilität brauchen, die wir nach meiner Überzeugung noch nicht haben.
Burchardt: Herr Bundespräsident, neben dem Thema der wirtschaftlichen Globalisierung – und der G-8-Gipfel hat es ja jetzt gerade gezeigt in dieser Woche – gibt es auch so etwas wie sehr problematische globalisierte Themen im Bereich der Sicherheitspolitik. Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Rolle Deutschlands oder auch Europas gegenüber Amerika? Hat es da jetzt eine Kräfteverschiebung gegeben, denn gerade jetzt haben ja Schröder und Chirac wieder gesagt: Die NATO in den Irak sehen wir so nicht, jedenfalls nicht Soldaten.
Rau: Ich bin überzeugt davon, dass der Terrorismus eine Anfechtung ist, die weltweit geschieht. Das ist auch nicht mehr anders denkbar in einer Zeit, in der ein solcher Terrorismus auch politisch-religiöse Hintergründe haben kann. Nur muss man sich dann klar darüber sein: Die Antwort auf diesen Terrorismus kann im Notfall auch militärisch gegeben werden. Aber es ist nicht die militärische Antwort, die die erste oder notwendigste oder wichtigste ist, sondern wir müssen reden über Privatisierung von Gewalt, wir müssen reden über die Teile der Welt, in der es praktisch gar keine Staatlichkeit mehr gibt, sondern Warlords. Und wir müssen nach zivilisatorischen Antworten suchen auf die Herausforderung gegenüber unserer Zivilisation. Da habe ich den Eindruck, dass Deutschland auf einem guten Weg ist, weil wir in den Parteien und in den gesellschaftlichen Gruppen sensibel sind für Gefährdungen, aber nicht hysterisch im Blick auf Ereignisse.
Burchardt: Kann Europa – und da will ich jetzt auch Russland bis zum Ural mit einbeziehen –, kann Europa sich stärker loslösen aus dem transatlantischen Bündnis und vielleicht das, was man ja auch gerade in der Vergangenheit immer wieder eine stärkere Selbstbehauptung genannt hat, wirklich verwirklichen?
Rau: Ich bin nicht für ein Herausziehen und Heraushalten. Ich bin für klare europäische Positionen, damit der transatlantische Partner weiß, dass er auf gleicher Augenhöhe mit anderen redet, die ihre eigenen Positionen einbringen, die auch bereit sind, diese Positionen zur Disposition zu stellen. Das heißt, wir wollen uns nicht überheben. Aber dass Deutschland und Europa mit einer klaren Politik auch ein verlässlicher Partner sein kann, das darf man sagen, ohne damit zu sagen, wir wollen gar nicht Partner sein, sondern unseren eigenen Weg gehen. Ich habe von Isolationismus nie etwas gehalten, weder von amerikanischem noch von europäischem.
Burchardt: Wir befinden uns am Wochenende der Direktwahlen zum Europäischen Parlament. Man muss davon ausgehen, dass die Wahlbeteiligung, wie immer, sehr niedrig sein wird. Was kann man da eigentlich in Sachen Vermittelbarkeit für die Bürger tun, um Europa attraktiver erscheinen zu lassen?
Rau: Schritt für Schritt dem Europäischen Parlament mehr Aufgaben zuweisen und deutlicher machen, dass das Europäische Parlament Mitwirkungsrechte hat, die unser Leben betreffen, und nicht nur das Leben der Abgeordneten – und darauf verzichten, am Abend dann die Schlüsse aus der Europawahl für die heimische Situation zu ziehen, also die Frage zu stellen: Was bringt das der CDU, der SPD, der FDP, den Grünen im Nationalen, im Regionalen. Wenn das bis in die Rathäuser geht, dass man aus der Europawahl Schlüsse zieht über die Popularität des eigenen Bürgermeisters, dann sieht man, auf welche Abwege man da geraten kann.
Burchardt: Beschließen wir mit Europa dieses Interview, Herr Bundespräsident. Es beginnt jetzt auch die Europameisterschaft im Fußball. Ich weiß, dass Sie gern mal Fußball schauen. Ich will Sie nicht zu einer weisen Prognose verleiten, aber doch mal um eine Einschätzung fragen, wie Sie glauben, die deutsche Mannschaft abschneiden kann.
Rau: Ich glaube, dass die deutsche Mannschaft viel besser spielen kann, als sie es am Sonntag in Kaiserslautern gegen Ungarn getan hat. Und ich bitte die Mannschaft darum, das auch zu tun in den Spielen am Dienstag gegen Holland und was dann so kommt. Dann sehe ich eine gute Chance. Aber da ist noch viel Konzentration und Energie nötig.
Burchardt: Was machen Sie, wenn die Mannschaft Ihrer Bitte nicht nachkommt?
Rau: Dann bin ich sauer und gehe nicht zum Bahnhof.
Burchardt: Vielen Dank für das Gespräch.