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Raues Land mit bewegter Geschichte

Die Insel Cape Breton liegt am nördlichen Zipfel der kanadischen Provinz Nova Scotia. Mitte des 18. Jahrhundert siedelten sich dort viele Schotten an, die über den Atlantik aus ihrer Heimat flüchten mussten. Die keltischen Bräuche haben sich zum Teil gehalten.

Von Franz Lerchenmüller |
    Welch ein Schock: Was für ein Wald! Gedrungene Fichten und graue, spillrige Tannenskelette haben sich ineinander verklammert zu einem undurchdringlichen Gestrüpp. Dicht und abweisend zieht es sich die Hügel hinunter bis ans Meer. In den Flusstälern ragen altehrwürdige Ahornriesen hoch, dazwischen liegen übereinander gestürzte Stämme in allen Stadien des Verfalls, von Schwämmen besetzt, von Farn überwuchert. Ranger John Francis liebt dieses wilde Land, den Cape Breton Highlands Nationalpark:

    "Es ist eine ziemlich raue Landschaft: felsige Vorgebirge, verkümmerte Bäume, durch das Eis und den Schnee, die wir im Winter haben, die Luft ist salzig von der Gischt. Pflanzen, die auf diesen Bergen direkt am Golf von St. Lorenz aufwachsen müssen, haben es wahrlich nicht leicht."

    So viel anders sah es auch im Jahre 1773 nicht aus, als die ersten schottischen Siedler mit der "Hektor" an der Küste von Nova Scotia landeten. Darunter waren auch die Vorfahren von Alice Freeman, die in Inverness eine Weberei betreibt:

    "Das war verdammt hart für sie: Sie kamen von einem Ort, an dem es keinen Baum gab, an einen anderen, wo es nichts als Bäume gab. Sie kamen im Herbst und hatten keine Chance mehr, etwas anzubauen. Aber eine andere Familie nahm sie auf. Land wurde ihnen später zugeteilt."

    Sie müssen entsetzt gewesen sein: Das war es nun also, das "Gelobte Land" - ein menschenfeindlicher, nordischer Dschungel. Dafür hatten sie ihre lichten, baumlosen Highlands verlassen, vertrieben von den englischen Grundbesitzern, die lieber Schafe darauf weiden lassen wollten. Colin MacDonald, der die Sprache seiner Ahnen, das Gälische, studiert hat, hat sich ausführlich mit ihrem Leben beschäftigt.

    "Sie nannten Cape Breton den 'Finsteren Wald'. So große Bäume kannten sie überhaupt nicht. Und dann gingen sie mit ihren stumpfen Äxten daran, diese Stämme zu fällen, um für die strengen Winter eine Hütte zu bauen. Es war eine wahnsinnige Schinderei."

    Sanft fallen die grünen Hügel zum blauen St. Lorenz-Golf ab und enden in einer gewundenen Küstenlinie. Seeadler kreisen im Aufwind, und manchmal ziehen tief unten Wale durch das Blau - vielleicht tröstete die Schönheit des Ausblicks die Pioniere ja ein wenig über die Mühen des neuen Lebens hinweg.

    Die Insel Cape Breton ist die nördlichste Region der kanadischen Provinz Nova Scotia: 6500 Quadratkilometer Wald, Wiesen, Seen und Fels, 1000 Kilometer Küste, 160.000 Einwohner. Und es ist der Platz in Nordamerika, an dem sich Lebensstil, Musik und die Sprache jener schottischen Siedler, das Gälisch, am besten erhalten haben. Randy Roach kommt als Mitarbeiter einer Telefongesellschaft viel auf der ganzen Insel herum. Die alte Sprache, meint er, erlebt gerade einen neuen Frühling:

    "Das Gälisch ist wieder stark im Kommen. Die Kinder lernen es in der Schule. Alle Straßenschilder sind in Gälisch und Englisch. Es gibt das Gälische College in St. Ann's. Und ich habe einen Kumpel. Sein Sohn ist 19 und er spricht fließend Gälisch. Also: Das Gälische war vielleicht für ein oder zwei Generationen am Verschwinden. Aber jetzt kommt es mächtig zurück."

    Es gibt eine eigene Zeitung, in den Dörfern reihen sich Tanzabende, Konzerte und historische Festivals aneinander. Und in den Souvenirläden hängen Kilts, Schals in Schottenkaro und winzige Dudelsäcke. Selbst die Antiquitätenhändlerin in Baddeck, Lisa Holt-Jones, hat allerlei schottische Preziosen in ihrem Laden:

    "Eine gälische Bibel habe ich hier, in Leder gebunden, 1902 in Schottland gedruckt, die kostet 175 Kanadische Dollar. Da ist ein Spurtle, ein typisch schottisches Küchengerät, um Haferbrei zu rühren. Noch nicht benutzt, 35 Dollar. Ein Porridgerezept gibt's umsonst dazu. - Das hier ist eine Landkarte der schottischen Highlands, mit den Tartanmustern der verschiedenen Clans, sodass man nach den Spuren seiner Vorfahren suchen kann. Die ist glaube ich, aus den 50er-Jahren."

    Cape Breton gilt als die "Insel der Fiedler". "Wenn es den Leuten an allem fehlt, muss die Musik es richten", sagte Sandy MacIntyre, einer der großen Geiger, an die das "Celtic Music Interpretive Center" in Judique erinnert. Und also gab es Lieder zur Arbeit, Lieder für Beerdigungen, Lieder zum Feiern und Lieder über die Liebe. Wandgroße Gemälde zeigen eine fröhliche Küchenparty mit der berühmten Rankin-Familie. Per Video kriegt man im Acht-Minuten-Blitzkurs die ersten Geigentöne beigebracht, oder ein paar Grundschritte des Stepptanzes.

    Im Gastraum lassen Mike Hall und Alan Dorr die Fiedel schluchzen und das Piano erklingen - aber so richtig außer Rand und Band gerät die Besuchergruppe aus New York nicht: Eine richtige Küchenparty geht ja wohl anders.

    Ein neues, aber geradezu klassisches Stück Schottland wuchs Cape Breton 1990 zu. In diesem Jahr gründete Bruce Jardin in Glenville die Glenora Whisky Destillerie. Die Kunst des Brennens hatten schon die ersten Einwanderer nach Kanada mitgebracht: 1842 gab es allein in Ontario 150 Destillerien. Ihr Schnaps schmeckte freilich gewöhnungsbedürftig, weiß Donnie Campbell, der "Whisky-Botschafter" der Firma:

    "Man sagt, dass die ersten Whiskys in Kanada nach einem Cocktail aus angefrorenen Tomaten, Schierling, Kürbis und verschimmeltem Roggen schmeckten. Was wir hier heute brennen, hat damit natürlich nichts mehr zu tun. Zum einen verwenden wir nur Gerste, keinen Roggen oder Mais."

    Und das zweite entscheidende Element ist beim Whiskybrennen immer das Wasser:

    "Unser Wasser kommt aus natürlichen Quellen. Es fließt die Hügel herunter durch Ahornwälder und Apfelwiesen, und nimmt dabei natürlich auch deren Aromen auf. Es plätschert über Granit und Marmor und bekommt so einen ganz eigenen Charakter."

    In Inverness schlendern Touristen mit tief gebeugtem Kopf über den Strand. Sie suchen im Sand nach "Mermaid Tears", den Tränen der Nixen, rundgeschliffenen milchigen Glasstückchen. Virginia McCoy ist Künstlerin und macht Schmuck daraus. Die bunten Scherben repräsentieren ein wichtiges Stück der Geschichte Cape Bretons: Die Epoche des Kohlebergbaus, Anfang des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts:

    "Die Schiffe, die hier Kohle aus den Minen abholten, kamen von den Staaten Neu Englands hoch - sie mussten also nicht allzu weit auf die See hinaus. Trotzdem brauchten sie Ballast, und der stammte meist aus den Hinterhöfen von Kneipen und Restaurants - das kaputte Geschirr und die zerbrochenen Flaschen nämlich. Das nahmen sie an Bord, bevor sie in See stachen, und wenn sie sich der Küste näherten, kippten sie es einfach ins Meer."

    Weiße und grüne Stücke findet man zuhauf. Für andere Farben braucht man Glück. Jeder Fund ist ein Stück Historie. Virginia McCoy ist immer wieder erstaunt, wie wichtig den Menschen von Cape Breton ihre Geschichte ist:

    "Das Wissen, woher man kam, wer die Vorfahren waren, wie man früher gelebt hat - das ist hier noch ganz, ganz stark erhalten. Außerdem feierte man jeden, der ein gälischer Dichter war, jeden, der Geschichten aus der Vergangenheit erzählen konnte - sie haben hier so viele Elemente ihrer Kultur erhalten, dass sie sie heute nach Schottland zurückbringen können."

    Das Städtchen Inverness ist eines der Zentren gälischer Kultur. Alice Freeman, die Weberin, hat Dutzende traditioneller Lieder von ihrem Vater gelernt:

    "Er singt von seinem Zuhause und dass er da jetzt gern wäre. Kein Schloss muss es sein, ein einfaches Heim, wo vielleicht gerade eine Mutter ihr Kind in den Schlaf singt - um so etwas geht es da."

    Doch jetzt mal ganz provokativ gefragt: Ist dieses angeblich frischbelebte gälische Erbe vielleicht doch nichts anderes als künstlich beatmete Folklore im Dienst des Fremdenverkehrs? Temperamentvoll schießt Alice von ihrem Webstuhl hoch:

    "Himmel nein, das ist echt, das ist nicht für Touristen gemacht. Das, was man für Touristen aufführt, das nenne ich Plastik. Gehen Sie nur mal zum Squaredance - da treffen sie Achtjährige genauso wie Achtzigjährige."

    Lange behielten die Siedler ihre gälische Sprache bei, sagt Colin MacDonald in genau diesem Gälisch:

    "Es gab viele Schotten und sie sprachen untereinander zuerst nur Gälisch. Aber später wurde es schwieriger: Wenn man einen Job wollte, musste man Englisch sprechen. Also ließ man die Kinder Englisch lernen und sprach Gälisch nur noch zuhause."

    Wer Gälisch sprach, blieb Hinterwäldler. Als die Insel nach dem Zweiten Weltkrieg keine Jobs mehr bot, gingen die Jungen weg. Die Zukunft lag in Ottawa, im Rock'n Roll und in flüssigem Englisch.

    Die Schotten waren freilich nicht die ersten, die das Land besiedelten. Die Micmac-Indianer lebten seit mindestens 4000 Jahren hier, und auch die Franzosen, Akadier genannt, hatten sich schon früher festgesetzt. 1755 ließen die Engländer Letztere deportieren - ein lange währendes Trauma in der Beziehung zwischen beiden Völkern. Die Vorfahren von Kapitän Jean Come Chiasson aus Cheticamp waren darunter:

    "1755 wurden sie deportiert und sieben von ihnen flüchteten von Port Royal hierher. Sie lebten flussaufwärts, und jede Nacht versenkten sie ihr Boot, damit die Engländer es nicht entdeckten. Am Morgen nahmen sie die Steine wieder heraus und fuhren zum Fischen. Sie lebten mit einer Familie von Micmac-Indianern zusammen, und es dauerte 25, 30 Jahre, bevor sie es wagten, wieder feste Häuser hier an der Küste zu bauen."

    Seinen indianischen Zügen ist anzusehen, dass der gemeinsame Überlebenskampf auch zu engeren Bindungen mit den First Nations führte. Aber das ist Geschichte. Längst haben französische und englische Dörfer keine Probleme mehr miteinander:

    "Man kam miteinander zurecht. Man half sich gegenseitig. Wenn die großen Stürme über die Insel fegten und Cheticamp, Pleasant Bay oder Margaree so richtig erwischten, dann kamen die Fischer aus den anderen Dörfern und halfen, die Boote und die Ausrüstung wieder in Ordnung zu bringen. Es war ein sehr enges Miteinander. Ich sage immer: Arme Leute waren immer füreinander da. Die Spaltung begann erst, als einige Leute reich wurden."

    Die zierliche Jaqueline Burton, die im Museum von Cheticamp die alte Kunst des Teppichknüpfens per Nadel vorführt, ist ein lebendes Beispiel für die friedliche Koexistenz von heute:

    "So ab 1900 sah man englische Namen in unserem Dorf. Ab dann kam es auch zu Ehen zwischen Engländern und Akadiern, das kann man in den Kirchenbüchern sehen. Ich selbst war eine La Raa. Aber ich habe einen Engländer geheiratet und jetzt heiße ich Burton. Ob Engländer oder Akadier war mir egal - Hauptsache, er war ein netter Kerl."

    Die großen Probleme betrafen sowieso immer alle miteinander: Die Kohleminen schlossen in den 1960er-Jahren, das Kabeljau-Fangverbot 1992 bedeutete das Ende für viele Fischer. Kapitän Jean Come Chiasson:

    "Viele Leute zogen weg, nach Westen, vor allem die Jüngeren. Die Fischer, die schon älter waren, gingen in Rente, weil sie keinen Kabeljau mehr fangen durften. Und eine Lizenz für Königkrabben und der Umbau der Schiffe wäre viel zu teuer geworden. In Cheticamp haben einst 14 Boote Kabeljau gefischt. Davon sind gerade mal zwei übriggeblieben. In den Fischfabriken waren 350 Leute angestellt. Heute sind es nur noch hundert."

    Es gibt keine Jobs - das ist das größte Problem auf Cape Breton. Und deshalb, findet Randy Roach, ist die eigentliche Gemeinsamkeit aller Cape Bretoner auch eher eine tragische: Sie sind Wanderer geworden:

    "Wir wachsen hier auf und ziehen weg. In den 70ern gingen alle in die USA, weil es dort Arbeit gab. In den 80ern war es Ontario, weil Ontario boomte. Und jetzt zieht es die Leute nach Fort MacMurry, wegen des Ölsands. Wo immer man hinkommt, trifft man jemand von hier. Und wenn sie in Rente gehen, kommen sie hierher zurück."

    Ähnlich wie die gälische, hat sich auch die akadische Kultur in den Dörfern erhalten. Samstagabend erklingt im "Le Gabriel" in Cheticamp immer noch das alte Französisch. Und überwiegend ältere Leute sinnen ihrer Vergangenheit hinterher.

    Auf der Ostseite von Cape Breton ändert sich das Landschaftsbild. Auf zerklüftetem Stein trocknen sich Kormorane, Möwen segeln über Felsspalten, an deren Grund der Ozean sich gischtend bricht, palastgroße Landhotels schälen sich aus dem Nebel. Hier schlägt das Herz der gälischen Kultur. Ein schottischer Priester hat schon 1938 das Gälische College St. Ann's gegründet.

    "Keiäsmiliafoltscha" heißt "Herzlich Willkommen" auf Gälisch. Eine Ausstellung erinnert an die Vertreibung von den Highlands. Gleich daneben ist von schottischen Regimentern und Divisionen die Rede, von Schlachtengetümmel, Waffengeklirr und Soldatenmut. Ein kurzer Spielfilm erzählt in Gälisch die erst tragische, dann lustige Geschichte vom Hinscheiden und Wiedererstehen des Calum McLeod.

    Dann lädt Colin MacDonald an den langen Tisch zum Wollefilzen wie früher. Zunächst freilich heißt es, das Lied zu lernen, das damals die Arbeit immer begleitete. Dann wird das Wolltuch im Rhythmus des Liedes über den geriffelten Tisch gewalkt. Der 22-jährige Colin, sehr rothaarig, sehr blauäugig, sehr blasshäutig, hat Gälisch studiert. Die Beschäftigung mit der traditionellen Kultur, findet er, sei auch eine Reverenz an die ältere Generation:

    "Ich bin mit Musik aufgewachsen, mit Fiedel, Squaredance und Stepptanz. Meine Familie hat noch vor zwei Generationen Gälisch gesprochen. Ich wollte es lernen, um die Worte der Lieder zu verstehen. Und außerdem ist es etwas ganz Besonderes, sich mit den Alten in Gälisch zu unterhalten. Es macht ihnen Riesenfreude, wenn sie sehen, dass junge Leute sich um ihre Tradition kümmern."

    Auch Alexander Graham Bell haben die Schotten von Cape Breton für sich reklamiert. In Baddeck hatte der Erfinder 1893 sein Ferienhaus bezogen und verbrachte dort alle Sommer bis zu seinem Tod 1922. Bekanntlich war Bell der erste, der ein Patent auf das Telefon anmeldete. Am 10. März 1876 sprach er als erster Mensch über einen Draht. Im schönen neuen Bell-Museum aber lässt die Führerin keinen Zweifel daran, dass er noch viel mehr draufhatte und ein wahres Mulitalent war:

    "Fliegerei war ein großes Thema. Ihm gehörte das erste Flugzeug, das von kanadischem Boden aufstieg. Er experimentierte mit Schafzucht und stellte mit seinem Tragflügelboot einen Geschwindigkeitsrekord auf, hier in Baddeck, 1919. Sein ganzes Leben lang beschäftigte er sich damit, Taubstummen zum Reden zu verhelfen. Und er hatte ein frühes Aufnahmegerät entwickelt, und ein erstes Mobiltelefon, das Töne über Sonnenlicht transportierte."

    Ganz offensichtlich war Alexander Graham Bell ein enorm produktiver Geist, ein früher Ökologe, ein Familienmensch und Humanist. Aus gälischer Sicht freilich zählt etwas anderes viel mehr: Alexander Graham Bell wurde im "Alten Land" geboren. Er war ein waschechter Schotte - na bitte!