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Raufende Zwerge

Klauen, Prügeln, Saufen – der Lebenswandel von Terry Pratchetts kleinen, freien Männern ist schnell beschrieben. Fünfzehn Zentimeter sind sie groß, haben rote Haare und blaue Haut, tragen verschlissene Kilts und die meisten von ihnen haben eine mehrfach gebrochene Nase.

von Eva Mesken |
    So bemerkenswert wie ihr Aussehen, so aussagekräftig sind auch ihre Namen: ‚Doofer Wullie’ zum Beispiel’, ‚Rob Irgendwer’ oder Nicht-so-groß-wie-der-mittelgroße-Jock-aber-größer-als-der-kleine-Jock-Jock.’ Die Kobolde begleiten die neunjährige Tiffany, die auch ohne Begleitschutz einen ziemlich unerschrockenen Eindruck macht: Bewaffnet mit einer Bratpfanne und einem Buch über Schafkrankheiten zieht sie los, um ihren Bruder zu retten, der von einer kinderlosen Königin ins Märchenland entführt wurde. Ein Märchenland allerdings, das mit dem Zauber tschechischer Kinderfilme nicht viel gemein hat:

    "Dies ist eine erfundene Welt, dachte Tiffany. Fast wie eine Geschichte. Die Bäume müssen nicht sehr detailliert sein, denn wer achtet in einer Geschichte schon auf einen Baum? Auf einer kleinen Lichtung hielt sie an und richtete den Blick auf einen Baum. Er schien zu wissen, dass man ihn beobachtete. Er gewann mehr Realität. Die Rinde wurde rauer, und richtige Zweige wuchsen an den Enden der Äste. "

    Das Märchenland der Elfenkönigin ist eine schwammige Welt voller Schnee, Schatten und unklarer Konturen. Eine Welt, die sich ständig verändert. Das erschwert die Suche nach dem kleinen Bruder erheblich, genau wie die sogenannten "Trome" der Königin – wabernde Teigwesen, die Träume aufspannen, um darin Menschen zu fangen. Tiffany versucht wie Alice im Wunderland die Regeln dieser sonderbaren Welt zu begreifen, tappt aber trotzdem gleich mehrmals in die Traumfallen. Da nützt ihr auch die Bratpfanne nichts, mit der sie anfangs noch erfolgreich ein Sumpfmonster verdrischt. Denn die Traumfallen sind komplizierter: Ob ein Traum wirklich zu Ende ist oder nur in einen weiteren mündet, ob Tiffany tatsächlich aufwacht oder das Erwachen nur träumt, lässt sich immer schwieriger unterscheiden. Das ist beklemmend, wird aber durch die liebenswerten Schrullen der Kobolde wieder entschärft:

    ""In einem Leuchtturm solltet ihr eigentlich keine Getränke gefunden haben," sagte Tiffany. Sie lachte. "Es sei denn, ihr habt das Lampenöl getrunken, und niemand käme auf solch eine Idee!" Die Kobolde schwiegen plötzlich. "Was meinst Du mit Lampenöl?" fragte der Doofe Wullie langsam und vorsichtig. "Vielleicht das Zeug in ’ner großen Flasche?" "Mit zwei gekreuzten Knochen unter einem Totenkopf?" fügte Rob Irgendwer hinzu. "Ja, wahrscheinlich, und es ist grässliches Zeug," sagte Tiffany. "Man wird schrecklich krank, wenn man es trinkt." "Tatsächlich?", erwiderte Rob Irgendwer nachdenklich. "Das is’ sehr... interessant. Mit welcher Art von Krankheit müsste man, äh, rechnen?" [...] Der Doofe Wullie rülpste laut. Plötzlich roch es stark nach Paraffin. "

    Kobolde trinken, Feen sind bissig, Hexen schlau und eine verzauberte Kröte entpuppt sich am Ende nicht als verwunschener Prinz, sondern als Rechtsanwalt. Es ist unbestreitbar: In vielen Punkten unterscheidet sich Terry Pratchetts Märchenwelt deutlich vom Volksgut der Gebrüder Grimm. Aber das hat bei Pratchett ohnehin einen schweren Stand – seine Protagonistin Tiffany, die gerne eine richtige Hexe wäre, zweifelt am pädagogischen Wert von Volksmärchen. Und auch der Vorwurf mäßig durchdachter Geschichten klingt aus ihrem Mund ganz plausibel:

    "Niemand hat einen Backofen, groß genug für eine ganze Person, und was dachten sich die Kinder überhaupt dabei, einfach so die Häuser anderer Leute zu essen? [...] Und ein Mädchen, das einen Wolf nicht von seiner Großmutter unterscheiden kann, muss entweder total dumm sein oder aus einer extrem hässlichen Familie stammen. "

    Trotzdem will Terry Pratchett sein Buch als Märchen verstanden wissen – als solches wird es auch im Untertitel bezeichnet. Die ungeliebte Königin in ihrer Welt voller Schnee erinnert an Andersens Schneekönigin und auch die Handlung um ein Mädchen, das einen Jungen befreit, ist ähnlich angelegt. Zwar entsprechen die prügelfreudigen Kobolde nicht ganz dem Klischee archetypischer Hilfsfiguren, unterstützen aber die Heldin in ihrer Entwicklung von der Unreife zur Reife. Sogar eine ‚Moral von der Geschicht’ wird am Ende präsentiert: Der Weg aus einem Albtraum liegt darin, nicht zu träumen, sondern zu erwachen:

    "Ich werde mich nie wieder so groß wie der Himmel, so alt wie die Hügel und so stark wie das Meer fühlen. Ich habe etwas bekommen, für eine Weile, und der Preis besteht darin, es wieder zurückzugeben. Und auch der Lohn besteht darin, es wieder zurückzugeben. Kein Mensch könnte auf diese Weise leben. Man kann einen Tag damit verbringen, eine Blume zu betrachten und ihre Schönheit zu bewundern, aber davon werden die Kühe nicht gemolken. Kein Wunder, dass wir uns durch unsere Leben träumen. Wach zu sein und alles so zu sehen, wie es wirklich ist... Niemand könnte das lange aushalten. "

    Man kann auch sonst eine Menge lernen aus diesem Buch – dass kranke Schafe am besten mit Terpentin behandelt werden zum Beispiel, dass bissige Feen bei schlechter Poesie die Flucht ergreifen und dass Hexen gerne zwei paar dicke Wollunterhosen tragen. "Kleine freie Männer" ist vieles zugleich: Fantasy-Abenteuer, Märchen und Entwicklungsroman, albtraumhaft, komisch und phantastisch. ‚Phantastisch’ im doppelten Wortsinn.

    Terry Pratchett: "Kleine freie Männer", Manhattan Verlag.