Montag, 13. Mai 2024

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Rave

"Deshalb schreitet die Musik da schneller fort, weil es in Literatur, Kunst und Philosophie keine B-Seiten gibt."

Thomas Palzer | 29.06.1998
    Wo da? In welchem Nirvana? "Love Parade" in Berlin. Inzwischen eine Gigaveranstaltung. Sind es schon Millionen, die da hinpilgern? Jedenfalls sind es ein paar Hunderttausend. Ausdruck einer von Musik bewegten Jugendbewegung. Zu der Oberpfälzer Fußwallfahrt nach Altötting kommen nur so um die Tausend. Auch eine Bewegung, die allerdings schon im 313. Jahr existiert. Da ist man leicht etwas ausgeblutet. Die "Love Parade" dagegen, die dieses Jahr zum zehnten Mal stattfinden wird, steht voll im Saft. Deshalb geschehen dort vermutlich auch die größeren Wunder. Nicht nur wir Sterbliche suchen ja immer nach den schönsten und noch schöneren Orten, auch Gott vollbringt seine Wunder gern an den Plätzen, wo es gerade am schönsten ist. Das Schönste an Berlin ist die "Love Parade". Altötting hat noch nichts so Schönes.

    "Love Parade": Ein Sieg der Demokratie, wie ihr Chronist Rainald Goetz behauptet - ein, wie wir vorsichtiger sagen, zunächst einmal kreischend bunter Lindwurm aus jungen, elastischen Körpern, der sich jedes Jahr im Hochsommer drei Tage lang durch die Berliner Straßen wälzt, tanzend und fuchtelnd, mit gekonnt vorgeführter Ekstase, im Rhythmus eines ewigwährenden Beats. Der kommt von mitgeführten Wagen, den sogenannten "Love Mobiles", auf denen die Boxen und die Plattenspielerpulte der DJ's thronen - der Hohepriester der Mixes, Cuts und Scratches.

    Mixen, schneiden, (zusammen-)kratzen. Das ist die die Methode der Zukunft, weil sie erlaubt, aus dem, was vorliegt, etwas zu machen, was nicht der Herkunft und dem Prestige des Anfangs unterworfen ist. Eine Methode, die die Antwort auf die Frage vorwegnimmt, die die internationale Kulturzeitschrift "Lettre" zur Jahrtausendwende gestellt hat: Die Zukunft von der Vergangenheit, die Vergangenheit von der Zukunft befreien. "Mix, Cuts & Scratches" ist ein kleines Büchlein betitelt, das letztes Jahr im Berliner Merve-Verlag erschien. Die Autoren: Westbam und Rainald Goetz. Ein DJ und ein bekanntlich auf das Ganz-vorne-sein heiß versessener Autor. Ein Interview, ein abgedrucktes Gespräch zu Themen wie Kunst, Arbeit, die Ordnung der Ekstase, die Praxis des Lebens, Musik natürlich, dazu Gedanken, Gefundenes und Anekdoten. Ausgesprochen von Westbam alias Maximillian Lenz, aufgezeichnet, strukturiert und uns mitgeteilt von Goetz. Und nun "Rave". Darin meldet sich Goetz wieder selbst zu Wort, sein Ich, sein wider alle Verständnisseligkeit gerichtetes, biographisches und performatives Schreiben. Dem als "Erzählung" klassifizierten Text steht voran, daß es sich im folgenden um "Buch 5" handelt, die Erzählung selbst um 5. 1.

    "Buch 5" von was? Blättert man weiter, erfährt man aus dem Kleingedruckten, daß das für "Mix, Cuts & Scratches" von Goetz verfaßte Vorwort als "bereits erschienen" aufgeführt wird - neben anderen von ihm verfaßten und an unterschiedlichen Orten publizierten Texten, die allesamt irgendwie um die Rave-olution kreisen. Sie alle müssen zur Zählung gerechnet werden und zu irgendeinem "Buch" davor, zu einem akribisch durchnumerierten Großprojekt, das wiederum unter dem Titel "Heute Morgen" summiert wird: "Heute morgen, um 4 Uhr 11, als ich von den Wiesen zurückkam, wo ich den Tau aufgelesen habe". "Rave" steht also in einem viel weiter gefaßten Zusammenhang. Eine Reihe von Texten soll noch folgen. Schon hat der Suhrkamp Verlag "Celebration" angekündigt. Auch für Großprojekte und die Quasi-Mystik von Numerologien hat der Autor bekanntermaßen ein Faible. Vielleicht ist "Mix, Cuts & Scratches" die A-Seite zur B-Seite "Rave", die Reflexion von etwas, was auf der B-Seite noch einmal reflektiert wird, aber natürlich ganz anders.

    Vielleicht auch umgekehrt. "Rave" also ist der neue Hammer von Rainald Goetz - und dies eben ist es, was zunächst und zuerst über die Erzählung zu sagen ist: das Hammerhafte als goetztypischer Überbietungsgestus, wie es bei allen vorausgegangenen Publikationen dieses Autors immer das Hammerhafte war, das Überbieten, was sogleich ins Auge und Gehör sprang. "Rave" ist wie der Merve-Band gleichfalls eine Mitschrift, ein Protokoll, freilich ein völlig anders geratenes. Protokolliert "Mix, Cuts & Scratches" die freundliche Sympathie, mit der Goetz seine an der Arbeit des DJs hochinteressierten Interviews geführt hat, protokolliert "Rave" die zur Arbeit des DJs kontextuell dazugehörende Nacht - nicht irgendeine und auch nicht eine bestimmte, sondern die Nacht schlechthin, das Nachtleben, das "Innere der Nacht".

    "Wir schauten rum und lachten. Sehr geile Musik jetzt. ‘So! Schau!’ Ich hatte das Picken der Sechzehntel superhell in meinen Fingerspitzen, weit ausgebreitete Arme. Sie auch, klitzeklein glitzernd vorne, oben, unten, toll. Silbrig schimmerte das leuchtende Geschmeide."

    Der Text ist hymnisch und mit der Autorität eines kanonischen Textes verfaßt. Um zu verstehen, was ich damit meine, folgendes: Die in einem kanonischen Text geoffenbarte Wahrheit ist sakrosankt und verbietet jede Fortschreibung und Variation. Deshalb wohnt ihm ein Wiederholungszwang inne, eine ritengestützte Zirkulation, die in sich selbst zurückläuft. Nur durch fortwährende Zirkulation und Repetition bleibt der Sinn des Textes lebendig.

    Das ist auch die Textstrategie, mit der Goetz in "Rave" verfährt. "Rave" betreibt die Zirkulation an sich selbst. Das "Innere der Nacht" wird immer wieder aufs Neue rastlos vorgebetet. Die Parties und die Drogen kennen ja keine Fortschreibung, kein Weiter; sie sind selbst das "Weiter" und betreiben darum nur das fortgesetzte Ritual ihrer eigenen Wiederholung. Auf jede genommene Droge folgt eine neue Droge. Die Feier muß gefeiert werden. Das findet seine Darstellung in einer extrem rhythmisierten und darin, im Rhythmus, ritualisierten Sprache. Man müsse seinen Text, heißt es in "Rave", "nicht nur rein vom Sinn her nehmen, sondern müßte sich das anders denken, nämlich betend." Das Körpergefühl soll in die Schrift diffundieren, in ihr aufgehoben sein. Es soll von ihr vermittelt werden. Wieder einmal probiert Goetz "authentisches Schreiben", und das heißt bei ihm: im Sturm alle Kommunikationsspiele torpedieren und die Schrift durch die Schrift abschaffen.

    "Wir stolperten hoch und taumelten raus. Verdammt hell hier, oder habe ich was im Auge? Was geht denn ab? Was gehtn! Ist das was? Zufällig, irgendwas, vielleicht? Was? Was! Wie? Die Augen sind geblendet, die Wimpern schlagen zu. Grellweiß: die Sonne. Mein Gott, ist das hell hier."

    Was in "Rave" passiert, ist schnell erzählt: Man feiert, man tanzt ab, man trinkt Averna und nimmt Drogen. Man spricht. Man trifft Leute. Die natürgemäß auch immerzu Drogen nehmen. Man geht aufs Klo und nimmt Drogen. Manchmal geht man auch einfach so aufs Klo, zum Pinkeln gewissermaßen. Ein andermal passiert es, daß ein Mädchen mitgeht und Sex will. Man feiert auf Ibiza oder trifft sich in Berlin oder sieht sich in München. Man sitzt in Hotelzimmern und wartet auf den Anruf des Dealers. Dazu nimmt man, das ist jetzt klar: Drogen. Man steht am nächsten Morgen vor den dunklen Löchern, in denen man die Nacht durchgetanzt hat, und fragt sich stundenlang, wo man jetzt noch hingehen könnte. Dabei nimmt man auch manchmal nochmal Drogen. Dazwischen, eingeblendet, hineingemixt und zusammengekratzt: Begegnungen mit Medienvertretern, Zeitungsschreibern, Redakteuren, Fotografen, Sze-nelegenden. Das ganze Buch hindurch eine von Haß und Verachtung geprägte Auseinandersetzung mit denen, die ebenfalls Wirklichkeit konstruieren - in Konkurrenz zur Literatur, in Konkurrenz zu Goetz. Sie werden als "Pack" diffamiert, mit zwei Sätzen oder auch nur einem einzigen inquisitorischen "ä" oder "ö" erledigt.

    Warum gleich wieder? Wirklichkeit ist für Goetz nur dort, wo die Voraussetzungen der Verständigung den Bezug des Subjekts zur Realität - zur "realbrutalen Echtrealität" - nicht schon präfigurieren. Die Medien, die mit dem Anspruch antreten, Realität abzubilden, stellen eine her, die sich selbst verschleiert, weil der mediale Konsens darauf beruht, immer schon vorauszusetzen, was eigentlich die Frage wäre: Wie wirkt, was Wirklichkeit heißt? Daher favorisiert Goetz ein radikal fragmentiertes Schreiben: Ansetzen, Stocken, neu ansetzen, abbrechen.

    Zudem täuschen die Medien vorsätzlich darüber hinweg, daß die Gesetze, denen ihre Arbeit unterworfen ist - die Gesetze der Ökonomie, der Effektivität, der Aufmerksamkeit und der Sensation -, daß diese Gesetze nicht die Kriterien sind, nach denen sich Wirklichkeit bildet. Die Unerreichbarkeit des Fremden und Anderen, Antrieb für alle Kommunikation, wird in der Praxis der "Kom-munikationsgesellschaft" - der heiligsten aller heiligen Kühe - mißbraucht, die unüberbrückbare Kluft mit den Floskeln der Verständigung und der Rhetorik der Kritik zugeschüttet. Goetz reagiert darauf in "Rave" mit der von ihm schon in "1989" erprobten Technik der Authentizitätsfiktion. Namen werden durcheinandergewirbelt und mit Situationen gesamplet, die so nie stattgefunden haben, die aber so denkbar wären, vorstellbar, die so hätten wirklich stattfinden können.

    "Ihr Produzent nannte sich Bernd. So hieß auch seine Firma. Sie machten neuerdings eine Serie mit Drogenfilmen über Drogen in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, bei Ärzten, Rockern, homosexuellen Pfarrern. Es gäbe da eine Riesendunkelziffer, da wäre Bernd jetzt dran. Debatte im Bundestag. Anfrage im Ältestenrat, Konferenz der G7-Staaten wegen des galoppierenden Kokain-Preisverfalls weltweit, und so weiter. Stefan Aust: ‘Das können wir nicht machen.’ Jens von Bernd: ‘Gut, dann gehe ich eben zu Pro Sieben.’ Hans Helmut Kirch: ‘Gekauft.’ Till von Bernd: ‘Gebongt.’"

    Goetz geht es um Aufschwung, Erregung, Ekstase - um das, was Existenz heißt - hinausstehen. Darin ist er sich auf eine sehr eigene Weise mit Casanova einig. Ich meine, niemand kommt auf die Idee, Goetz mit Casanova zu vergleichen, und das natürlich auch zu Recht. Dennoch lassen sich beide Autoren gut zusammendenken: Da die Lust, die der Existenz das Ek-sistieren garantiert, dort der Schmerz, der Wahn, der "fettgütige Basswummbeat". Und beiden liegt an der Verschmelzung von literarischem und realem Ich, an der wechselseitigen Aufhebung, an der ultimativen Zerstörung der Distanz durch die Distanzierung in hochartifiziellen Formphantasien. Beide treibt die Sehnsucht nach dem Körperlichen um, nach dem Leibhaften, um nicht zu sagen: Leibhaftigen. Die Monotonie der erotischen Avancen, die Casanova nicht müde wird, zu beschreiben, immer und immer wieder, ähnelt der Monotonie, in der Goetz hingerissen auf das Hinreißende zeigt, gebetsmühlenartig, sakrosankt. "Rave" - die Bewegung wie das Buch - sind der jüngste, neueste und neuerliche Versuch, des ewig sich entziehenden Lebens habhaft zu werden. Das Nirvana liegt hier, in diesem Leben, doch ist es so unglaublich schwer, zu erreichen, von dem wir alle glauben, daß es immer schon erreicht wäre: das Leben.

    "Rave" zu besprechen, ist mir nicht leicht gefallen. Was damit zu tun hat, daß der Text den Rezipienten oder Rezensenten aggressiv dazu treibt, aus der Anonymität der Schrift herauszutreten und "sich" zu zeigen. Der Logifizierung durch Kritik und ihrer Verstehenswut verweigert sich "Rave"; sie gleiten an ihm ab wie Wasser an der Teflon-Pfanne. Das empfindet man zunächst als Zumutung. Ich hätte natürlich auch einfach sagen können, daß mir der Text gefällt. Was ich ja jetzt hiermit auch gemacht habe. Was mir nicht so gefällt, ist das Mustergültige, das Musterschülerhafte, was an Goetz haftet, was seinem Ton was Schrilles, Hysterisches, doppelter Doktor-Dr.Dr.-mäßiges verleiht. Alles ist entweder Luhmann oder geil proll. Entweder grelle Luzidität oder gütige Droge, Vergessen. Auch kultiviert Goetz unangenehm den Ton des zornigen Vaters, des herumwütenden Gottes. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Typ gern herumstreßt. Nirgends im Text findet sich was Normales, Schlappes, Halbgares. Vielleicht sage ich es so: Goetz ist kein Hippie. Naturgemäß wird aber auch diese Feststellung reichlich überboten.