Ein langer Metallhebel und ein armdickes Rohr - das ist der neue Brunnen der Familie Kondubaev. Drei Tage hat Aziz, der jüngste Sohn, gegraben - jetzt, endlich, schießt ein Strahl kaltes, klares Grundwasser heraus: ein Stück Unabhängigkeit von der städtischen Wasserversorgung.
"Als es diesen Brunnen noch nicht gab, da gab es im Haus jeden Tag nur für zwei Stunden fließendes Wasser. Ich wollte aber, dass das Wasser nur so geschossen kommt, mit Hochdruck. Darum habe ich tiefer gegraben und einen kleinem Motor eingebaut. Irgendetwas muss ich jetzt für unser Zuhause tun, bevor das Semester wieder anfängt."
Wasser, Strom und Heizung. An diesen elementaren Dingen zeigt sich das Versagen des kirgisischen Staates am deutlichsten - wenn die Wohnungen in den eisigen Wintern kalt blieben, und wenn die Kirgisen ihre abendlichen Arbeiten bei Öllampenlicht erledigen mussten, weil wieder einmal das Stromnetz zusammengebrochen war.
Kein Zufall, dass ausgerechnet eine Erhöhung der Strom- und Gaspreise das gewaltsame Ende der Präsidentschaft von Kurmanbek Bakijew einläutete. Die Quittung für eine Politik, die jeden Reformwillen und Unternehmergeist in Vetternwirtschaft und Korruption erstickt hat.
Dabei galt der kleine Bergstaat noch in den 90er-Jahren als die Schweiz Zentralasiens: demokratisch, halbwegs stabil und mit einigem Wachstumspotenzial. Heute aber müssen meisten Kirgisen ohne Geld auskommen.
Auch Familie Kondubaev ernährt sich hauptsächlich von den Eiern ihrer Hühner und dem Gemüse aus dem Garten. In Petrovka - einem Vorort der kirgisischen Hauptstadt Bischkek - leben sie zu viert in zwei Zimmern: der Student Aziz, sein älterer Bruder, der ein Imam ist und darum kein Geld verdient, und eine kleine Nichte. Aziz' Mutter ist die Einzige mit regelmäßigem Einkommen.
"Als Rentnerin bekomme ich 1600 kirgische Som im Monat, das sind 25 Euro. Das reicht einfach nicht. Dafür kriegt man gerade mal einen Sack Mehl. Aber wir brauchen doch auch Zucker und Butter, und wir müssen für Wasser und Strom zahlen. Da bleibt zum Leben einfach nichts übrig."
Neun Kinder hat Maria Kondubaeva. Doch der zermürbende Kampf ums Geld hat die Familie zerrissen: Erst wurde sie von ihrem Ehemann verlassen, dann gingen ihre Kinder - sie verdingten sich als Tagelöhner oder sie gingen ins Ausland. Die meisten nach Moskau.
"Sarina, meine Älteste, war die erste, die als Gastarbeiterin nach Moskau gegangen ist. Ihre Tochter Karina hat sie bei mir gelassen. Ich fand das gut, ich wollte, dass sie Geld verdient, dann kann sie uns finanziell unterstützen. Jetzt hat sie uns 12000 Rubel geschickt, fast 300 Euro. Viel ist das nicht. Aber Kleidung und Schulkosten für die Kleine kann ich davon bezahlen. Na, ich klage nicht. Es reicht."
Karina ist neun. Ein Jahr ist es her, seit sie ihre Mutter das letzte Mal gesehen hat - wann das nächste Mal sein wird, das steht in den Sternen. Dass Karina traurig ist, das sieht man ihr an. Sie möchte ein Kindergedicht aufsagen, das sie im Russischunterricht in der Schule gelernt hat.
"Alles tue ich für Mama. Für sie gehe ich zum Arzt, für sie lerne ich Mathematik, für sie wasche ich meine Hände und esse sogar Möhren. Aber Mama ist auf Dienstreise, schon den fünften Tag. Darüber bin ich traurig. Und Papa hält die Zeitung in der Hand, aber mit seinen Gedanken ist er in den Wolken."
Kinderreichtum und Arbeitsplatzmangel - eine explosive Mischung. Heute ist jeder zweite Kirgise unter 24 Jahre alt. Die Jugend ist Kirgistans Hoffnung auf eine neue Generation von Politikern und Unternehmern. Doch im Moment steht sie vor dem Nichts: Für Bildung hat die Regierung Bakijew kaum Geld ausgegeben, viele Schulen und Kindergärten wurden geschlossen. Schulpflicht besteht nur auf dem Papier - gerade in den dünn besiedelten Bergregionen, und die machen fast 90 Prozent der Landesfläche aus.
Sechs Autostunden von Bischkek entfernt liegt das Bergdorf Aktala. Der Weg ist eine Schotterpiste, die sich in Serpentinen durch grüne Schluchten und über karge Bergrücken fädelt, durch meterbreite Schlaglöcher, Flussläufe und Schafherden. Die Dorfschule von Aktala besteht aus zwei steinernen Häusern, die sich durch ihre solide Bauweise deutlich von den ärmlichen Lehmhütten abheben. Dass die Wände frisch gestrichen sind und im Schlafsaal nagelneue Etagenbetten aus Holz stehen, das hat das Dorf einer internationalen Hilfsorganisation zu verdanken. Und auch die Eltern tun, was sie können, erzählt Direktorin Tschinára Tabaldíeva.
"Die Dorfbewohner haben das Gebäude weitgehend selbst renoviert. Unser Staat gibt für so etwas jetzt kein Geld mehr aus, und eine professionelle Sanierung können die Eltern nicht bezahlen. Dabei gibt es noch nicht einmal eine Heizung. Wir müssen den Kindergarten im Winter schließen. Spielgeräte haben wir auch nicht. Wir könnten sie selber bauen, aber uns fehlt das Geld für Holz. Für die Kinder gibt es nicht einmal Toiletten. Um die zu bauen, bräuchten wir eine behördliche Genehmigung. Auch das ist nicht so einfach."
Die Lehrerinnen und Erzieherinnen betreuen die Dorfkinder quasi ehrenamtlich. Ihren Lohn haben die meisten seit Monaten nicht ausbezahlt bekommen. Den Schulalltag irgendwie aufrechtzuerhalten, das ist ein täglicher Kampf gegen die Lethargie der Eltern. Denn in Aktala, wo es weder Privatautos noch öffentliche Verkehrsmittel gibt, sind viele schlicht zu arm, ihre Kinder in die Schule zu schicken. So wie der arbeitslose Taschtanbek. Festes Schuhwerk für die schnell wachsenden Füße seiner Söhne kann er nicht bezahlen. Gerade in den strengen Bergwintern wird so der kilometerlange Schulweg zur unüberwindlichen Hürde.
"Im Winter ist es kalt bei uns, bis zu minus 30 Grad. Und vom Staat bekommen wir überhaupt kein Geld mehr. Früher, als ich noch als Traktorfahrer gearbeitet habe, da hat das Geld für die ganze Familie gereicht. Aber was ich heute verdiene, das reicht nicht für Winterschuhe. Und darum gehen meine Söhne im Winter nicht zur Schule´- oder soll ich sie barfuß losschicken?"
Andere Dorfbewohner haben einen anderen Ausweg gefunden. Sie sind zum halbnomadischen Leben ihrer Ahnen zurückgekehrt. Jetzt im Frühjahr packen sie Hab und Gut auf ihre Pferde und treiben die Schafe und Kühe des Dorfes ins Gebirge. Dort, in der urwüchsigen Bergwelt, wo es nichts gibt als saftig-grüne Täler und die schneebedeckten Kuppen der Sechstausender, schlagen sie ihre Jurten auf. Fleisch und Milchprodukte von Kühen und Pferden tauschen sie gegen Zahnpasta, Gemüse oder Ketchup. Erst im Herbst werden sie nach Aktala zurückkehren.
Nazíra Kimélovna, eine zierliche, junge Frau mit Daunenweste und Kopftuch, hockt vor einer Stute, vom Fohlen misstrauisch beäugt. Das Melken ist anstrengend, das macht das Sprechen mühsam.
"Wir haben sieben Stuten, die werden alle zwei Stunden gemolken - fünf Mal am Tag. Das gibt jedes Mal einen halben Liter. Die Kühe werden zweimal am Tag gemolken, morgens und abends."
Viele Kirgisen sind inzwischen zu diesem archaischen Leben zurückgekehrt. Mit einer Suche nach den kulturellen Wurzeln hat das nur wenig zu tun. Die meisten treibt die blanke Not. Und auch Nazira, die noch nie in einer Großstadt gewesen ist, wünscht sich insgeheim ein anderes Leben. Sie wünscht sich einen Staat, der ihr das Gefühl gibt, Teil der modernen Welt zu sein. Und eine Regierung, die ihren Kinder nicht das Leben von Schafhirten aufzwingt, sondern ihnen Bildung und Berufschancen bietet. Bislang ist es ein Tagtraum, den Nazira beim Stutenmelken träumt. Doch wer weiß schon, was die Zukunft bringt? Vielleicht ist es ja eine bessere Regierung.
"Als es diesen Brunnen noch nicht gab, da gab es im Haus jeden Tag nur für zwei Stunden fließendes Wasser. Ich wollte aber, dass das Wasser nur so geschossen kommt, mit Hochdruck. Darum habe ich tiefer gegraben und einen kleinem Motor eingebaut. Irgendetwas muss ich jetzt für unser Zuhause tun, bevor das Semester wieder anfängt."
Wasser, Strom und Heizung. An diesen elementaren Dingen zeigt sich das Versagen des kirgisischen Staates am deutlichsten - wenn die Wohnungen in den eisigen Wintern kalt blieben, und wenn die Kirgisen ihre abendlichen Arbeiten bei Öllampenlicht erledigen mussten, weil wieder einmal das Stromnetz zusammengebrochen war.
Kein Zufall, dass ausgerechnet eine Erhöhung der Strom- und Gaspreise das gewaltsame Ende der Präsidentschaft von Kurmanbek Bakijew einläutete. Die Quittung für eine Politik, die jeden Reformwillen und Unternehmergeist in Vetternwirtschaft und Korruption erstickt hat.
Dabei galt der kleine Bergstaat noch in den 90er-Jahren als die Schweiz Zentralasiens: demokratisch, halbwegs stabil und mit einigem Wachstumspotenzial. Heute aber müssen meisten Kirgisen ohne Geld auskommen.
Auch Familie Kondubaev ernährt sich hauptsächlich von den Eiern ihrer Hühner und dem Gemüse aus dem Garten. In Petrovka - einem Vorort der kirgisischen Hauptstadt Bischkek - leben sie zu viert in zwei Zimmern: der Student Aziz, sein älterer Bruder, der ein Imam ist und darum kein Geld verdient, und eine kleine Nichte. Aziz' Mutter ist die Einzige mit regelmäßigem Einkommen.
"Als Rentnerin bekomme ich 1600 kirgische Som im Monat, das sind 25 Euro. Das reicht einfach nicht. Dafür kriegt man gerade mal einen Sack Mehl. Aber wir brauchen doch auch Zucker und Butter, und wir müssen für Wasser und Strom zahlen. Da bleibt zum Leben einfach nichts übrig."
Neun Kinder hat Maria Kondubaeva. Doch der zermürbende Kampf ums Geld hat die Familie zerrissen: Erst wurde sie von ihrem Ehemann verlassen, dann gingen ihre Kinder - sie verdingten sich als Tagelöhner oder sie gingen ins Ausland. Die meisten nach Moskau.
"Sarina, meine Älteste, war die erste, die als Gastarbeiterin nach Moskau gegangen ist. Ihre Tochter Karina hat sie bei mir gelassen. Ich fand das gut, ich wollte, dass sie Geld verdient, dann kann sie uns finanziell unterstützen. Jetzt hat sie uns 12000 Rubel geschickt, fast 300 Euro. Viel ist das nicht. Aber Kleidung und Schulkosten für die Kleine kann ich davon bezahlen. Na, ich klage nicht. Es reicht."
Karina ist neun. Ein Jahr ist es her, seit sie ihre Mutter das letzte Mal gesehen hat - wann das nächste Mal sein wird, das steht in den Sternen. Dass Karina traurig ist, das sieht man ihr an. Sie möchte ein Kindergedicht aufsagen, das sie im Russischunterricht in der Schule gelernt hat.
"Alles tue ich für Mama. Für sie gehe ich zum Arzt, für sie lerne ich Mathematik, für sie wasche ich meine Hände und esse sogar Möhren. Aber Mama ist auf Dienstreise, schon den fünften Tag. Darüber bin ich traurig. Und Papa hält die Zeitung in der Hand, aber mit seinen Gedanken ist er in den Wolken."
Kinderreichtum und Arbeitsplatzmangel - eine explosive Mischung. Heute ist jeder zweite Kirgise unter 24 Jahre alt. Die Jugend ist Kirgistans Hoffnung auf eine neue Generation von Politikern und Unternehmern. Doch im Moment steht sie vor dem Nichts: Für Bildung hat die Regierung Bakijew kaum Geld ausgegeben, viele Schulen und Kindergärten wurden geschlossen. Schulpflicht besteht nur auf dem Papier - gerade in den dünn besiedelten Bergregionen, und die machen fast 90 Prozent der Landesfläche aus.
Sechs Autostunden von Bischkek entfernt liegt das Bergdorf Aktala. Der Weg ist eine Schotterpiste, die sich in Serpentinen durch grüne Schluchten und über karge Bergrücken fädelt, durch meterbreite Schlaglöcher, Flussläufe und Schafherden. Die Dorfschule von Aktala besteht aus zwei steinernen Häusern, die sich durch ihre solide Bauweise deutlich von den ärmlichen Lehmhütten abheben. Dass die Wände frisch gestrichen sind und im Schlafsaal nagelneue Etagenbetten aus Holz stehen, das hat das Dorf einer internationalen Hilfsorganisation zu verdanken. Und auch die Eltern tun, was sie können, erzählt Direktorin Tschinára Tabaldíeva.
"Die Dorfbewohner haben das Gebäude weitgehend selbst renoviert. Unser Staat gibt für so etwas jetzt kein Geld mehr aus, und eine professionelle Sanierung können die Eltern nicht bezahlen. Dabei gibt es noch nicht einmal eine Heizung. Wir müssen den Kindergarten im Winter schließen. Spielgeräte haben wir auch nicht. Wir könnten sie selber bauen, aber uns fehlt das Geld für Holz. Für die Kinder gibt es nicht einmal Toiletten. Um die zu bauen, bräuchten wir eine behördliche Genehmigung. Auch das ist nicht so einfach."
Die Lehrerinnen und Erzieherinnen betreuen die Dorfkinder quasi ehrenamtlich. Ihren Lohn haben die meisten seit Monaten nicht ausbezahlt bekommen. Den Schulalltag irgendwie aufrechtzuerhalten, das ist ein täglicher Kampf gegen die Lethargie der Eltern. Denn in Aktala, wo es weder Privatautos noch öffentliche Verkehrsmittel gibt, sind viele schlicht zu arm, ihre Kinder in die Schule zu schicken. So wie der arbeitslose Taschtanbek. Festes Schuhwerk für die schnell wachsenden Füße seiner Söhne kann er nicht bezahlen. Gerade in den strengen Bergwintern wird so der kilometerlange Schulweg zur unüberwindlichen Hürde.
"Im Winter ist es kalt bei uns, bis zu minus 30 Grad. Und vom Staat bekommen wir überhaupt kein Geld mehr. Früher, als ich noch als Traktorfahrer gearbeitet habe, da hat das Geld für die ganze Familie gereicht. Aber was ich heute verdiene, das reicht nicht für Winterschuhe. Und darum gehen meine Söhne im Winter nicht zur Schule´- oder soll ich sie barfuß losschicken?"
Andere Dorfbewohner haben einen anderen Ausweg gefunden. Sie sind zum halbnomadischen Leben ihrer Ahnen zurückgekehrt. Jetzt im Frühjahr packen sie Hab und Gut auf ihre Pferde und treiben die Schafe und Kühe des Dorfes ins Gebirge. Dort, in der urwüchsigen Bergwelt, wo es nichts gibt als saftig-grüne Täler und die schneebedeckten Kuppen der Sechstausender, schlagen sie ihre Jurten auf. Fleisch und Milchprodukte von Kühen und Pferden tauschen sie gegen Zahnpasta, Gemüse oder Ketchup. Erst im Herbst werden sie nach Aktala zurückkehren.
Nazíra Kimélovna, eine zierliche, junge Frau mit Daunenweste und Kopftuch, hockt vor einer Stute, vom Fohlen misstrauisch beäugt. Das Melken ist anstrengend, das macht das Sprechen mühsam.
"Wir haben sieben Stuten, die werden alle zwei Stunden gemolken - fünf Mal am Tag. Das gibt jedes Mal einen halben Liter. Die Kühe werden zweimal am Tag gemolken, morgens und abends."
Viele Kirgisen sind inzwischen zu diesem archaischen Leben zurückgekehrt. Mit einer Suche nach den kulturellen Wurzeln hat das nur wenig zu tun. Die meisten treibt die blanke Not. Und auch Nazira, die noch nie in einer Großstadt gewesen ist, wünscht sich insgeheim ein anderes Leben. Sie wünscht sich einen Staat, der ihr das Gefühl gibt, Teil der modernen Welt zu sein. Und eine Regierung, die ihren Kinder nicht das Leben von Schafhirten aufzwingt, sondern ihnen Bildung und Berufschancen bietet. Bislang ist es ein Tagtraum, den Nazira beim Stutenmelken träumt. Doch wer weiß schon, was die Zukunft bringt? Vielleicht ist es ja eine bessere Regierung.