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Rechtsgrundlage für den Holocaust

Auf dem 6. NSDAP-Reichsparteitag 1935 in Nürnberg wurden die Repressalien gegen die Juden in Gesetzen manifestiert. Beispielsweise wurde im "Blutschutzgesetz" die Eheschließung zwischen Juden und Ariern verboten und ihnen gesetzlich weitere bürgerlichen Rechte entzogen.

Von Bernd Ulrich | 15.09.2010
    Noch im April 1945 geiferte Adolf Hitler in seinem Testament gegen die Juden. Unmittelbar vor seinem Selbstmord verpflichtete er die von ihm bestimmte künftige Führung der Nation und das deutsche Volk:

    "Zur peinlichen Einhaltung der Rassegesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum."

    Damit hatte sich in gewisser Weise der Kreis nationalsozialistischen Rassenwahns geschlossen. Denn mit den "Rassegesetzen" waren die zehn Jahre zuvor verkündeten, namentlich von Hitler und seinem damaligen Stellvertreter Rudolf Heß initiierten Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935 gemeint. Es handelte sich - neben einem neuen Flaggengesetz - um das "Reichsbürgergesetz" und das "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre".

    Beide Gesetze stehen für eine Weltwahrnehmung, in der Juden praktisch für alles verantwortlich sind, was den Deutschen vermeintlich angetan worden war oder durch was sie angeblich bedroht wurden - ein im Kern alter, weltweit präsenter Topos des Antisemitismus. Der Literaturwissenschaftler und Sozialforscher Jan Philipp Reemtsma hat ihn prägnant so zusammen gefasst:

    "Man unterstellt den Juden, eben das im Schilde zu führen, was man ihnen antut oder angetan hat. Auf das Erschlagen jüdischer Kinder folgt die Legende vom Ritualmord. Auf die weltweite Verfolgung folgt die Unterstellung der jüdischen Weltverschwörung und so weiter."

    Und, so könnte im Hinblick auf die Nürnberger Gesetze ergänzt werden, auf die Unterstellung, dass die deutschen Juden dem deutschen Volk die Loyalität aufgekündigt hatten, erfolgte das "Reichsbürgergesetz", das sie aller politischen und bürgerlichen Rechte beraubte. Das "Blutschutzgesetz" verbot nicht allein Eheschließungen zwischen Juden und den so genannten Ariern, sondern auch jeden "außerehelichen" Verkehr zwischen ihnen. Der Historiker Michael Wildt schreibt:

    "Damit war erstmals in Deutschland die rassistische Obsession, sexuellen Kontakt mit jüdischen Menschen zu verbieten, staatliches Gesetz geworden. Das Verbot 'außerehelichen Verkehrs’ konnte nur durch Denunziation durchgesetzt werden und wurde schnell als Aufforderung zur volksgemeinschaftlichen Schnüffelei verstanden."

    Die Verkündung der Gesetze erfolgte am letzten Tag des in Nürnberg stattfindenden 7. "Reichsparteitages" der NSDAP, auf einer Sitzung des eiligst nach Nürnberg einberufenen Reichstages, der mittlerweile zu einer reinen Ansammlung von NS-Claqueuren geworden war. Doch bevor der unter anderem als Reichstagspräsident amtierende Hermann Göring die Gesetze am 15. September zur Abstimmung verlas, sprach Adolf Hitler über die mit ihnen angeblich verfolgten Absichten:

    "Die deutsche Reichsregierung ist dabei beherrscht von dem Gedanken, durch eine einmalige, säkulare Lösung vielleicht doch eine Ebene schaffen zu können, auf der es dem deutschen Volke möglich wird, ein erträgliches Verhältnis zum jüdischen Volk finden zu können."

    Dass es sich um reine Heuchelei handelte, verdeutlichte einen Tag später Joseph Goebbels in einer perfiden Rede vor Mitarbeitern des Ministeriums für Propaganda:

    "Ja, man muss das immer offen lassen. Wie zum Beispiel gestern in meisterhafter Weise der Führer das in seiner Rede getan hat. Zu hoffen, dass mit diesen Judengesetzen nun die Möglichkeit bestehe, ein erträgliches Verhältnis zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk herbeizuführen. Das nenne ich geschickt, das ist gekonnt. Wenn man aber gleich dahinter gesagt hätte: So, das sind die heutige Judengesetze, ihr sollt nur nicht glauben, dass das alles ist, nächsten Monat – und daran ist gar nichts mehr zu ändern – nächsten Monat kommen die nächsten und zwar so, bis ihr bettelarm wieder im Ghetto sitzt. Ja, dann dürfen sie sich nicht wundern, wenn die Juden die ganze Welt gegen uns mobil machen."

    In Dresden kommentierte wiederum einen Tag später der bereits am 1. Mai 1935 entlassene Professor für Romanistik, Victor Klemperer:

    "Während ich gestern schrieb, hatte der 'Reichstag’ in Nürnberg schon die Gesetze für das deutsche Blut und die deutsche Ehre angenommen: Zuchthaus auf Ehe und außerehelichen Verkehr zwischen Juden und 'Deutschen’. Und mit welcher Begründung und welchen Drohungen! Der Ekel macht einen krank."

    Es sollte sich in den kommenden Jahren zeigen, dass auch das von Goebbels angedrohte Ghetto nicht die letzte Station war auf dem Leidensweg der deutschen und europäischen Juden.