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Reduziert auf die Grundstruktur

Formale Strenge, gleichzeitig großes Pathos und ein radikales Zusammenstreichen der Stücke auf ihren eigentlichen Kern. Das ist das Erfolgsrezept des Regisseurs Michael Thalheimer. Auch Henrik Ibsens Klassiker "Die Wildente" wird am Deutschen Theater Berlin auf seine Essenz abgeklopft.

Von Hartmut Krug |
    Henrik Ibsens "Die Wildente" ist eine bürgerliche Tragikomödie, die meist als psychologisch-realistisches Redestück und als fast kriminalistisches Aufdeckungsstück von existentiellen Lebenslügen inszeniert wird. Die Geschichte von Gregers Werle, dem Sohn eines reichen Großhändlers, der vom, wie es einmal heißt, "akuten Gerechtigkeitsfieber" befallen ist und seinen Jugendfreund Hjalmar darüber aufklärt, dass nicht dieser der Vater seiner über alles geliebten Tochter ist, sondern der Großhändler, bei dem Hjalmars Frau Hausmädchen war, und dass dieser alte Werle auch noch Hjalmars fotografisches Berufsleben finanziert, führt nicht zur moralischen Läuterung, sondern zum Zusammenbruch der Lebenswelt von Hjalmar.

    "Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, so nehmen Sie ihm zur gleichen Zeit das Glück" sagt der Arzt Relling, Gegenspieler von Gregers. "Was hier gepredigt wird, ist echt und wahr", jubelte Theodor Fontane bei der deutschen Erstaufführung des Stückes 1888 in Berlin und meinte, "das Leben als solches feiert seinen künstlerischen Triumph." Doch bei Michael Thalheimer wird keinen Moment gepredigt, es wird auch nicht auf die Sprache gesetzt, sondern es wird von der ersten Szene an gezeigt, dass nichts echt und wahr ist und dass die Menschen damit leben und leben müssen.

    Die Figuren in dieser Inszenierung sind von einer aufdeckend verdeutlichenden, fast panisch übersteigerten Körpersprache bestimmt. Der Regisseur reduziert Ibsens Erklärstück auf dessen klare Grundstruktur. So kommt seine Inszenierung statt der meist üblichen drei Stunden mit exakt der Hälfte dieser Zeit aus.

    Gleich die erste Szene ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie Thalheimer für die Haltungen der Figuren wie für das Thema und die Metaphern des Stückes sinnliche und überzeugende Bilder findet. Wo sich bei Ibsen viele Personen zu einem Abendempfang beim alten Werle versammeln, stehen hier drei Menschen isoliert im Nebel an der Rampe und suchen sich zu orientieren: die Blindheit, die tatsächliche körperliche wie die im übertragenen Sinne gemeinte, wenn man etwas nicht sehen kann oder will, wird ebenso deutlich, wie es die Haltungen von Gregers, dessen Vater und von Hjalmar werden, wenn diese ihre Sätze fast herunterrattern und dabei gestisch-mimisch überdeutlich ausdrücken, was sie fühlen. Wenn sich dann die drei Männer aus dem Nebel ins Lebensspiel begeben, dreht sich mit der Bühne eine riesige, nach vorn abfallende, runde leere Holzscheibe herein. Auf ihr zeigt der Regisseur nicht etwa Ibsens sozial genau gezeichnete oder gar aktualisierte Figuren, sondern Menschen auf der Kippe und vor dem Abgrund. Hier lebt man im freien Raum vor dem freien Fall und sucht sich in seiner Katastrophe einzurichten.

    Wie die einzelnen Personen oft vereinzelt und voneinander entfernt stehen, wenn sie Kontakt aufnehmen, wie sie sich zu Beziehungsarrangements zusammenfinden oder wie Hjalmar mit seiner Tochter und seiner Frau sich erst zur festen Dreiergruppe zusammenkuschelt, um dann gemeinsam die Schräge hinunter zu rutschen, das erklärt im szenischen Bild stets sofort das das Verhältnis von oben und unten und der Figuren zu sich und den anderen. Der Dachboden mit der Wildente muss gar nicht gezeigt werden, sondern wird als Einbildung vorgeführt: die Menschen stehen einfach beieinander und stoßen Vogellaute aus.

    Es ist dies ein konzeptioneller Abend und ein Abend der Schauspieler. Gespielt wird mit übergroßer, zuweilen expressiv übersteigerter Gestik, aber auch mit viel Lautstärke. Sven Lehmann ist als Gregers Werle nicht der schwärmerisch hoffende Weltverbesserer, sondern ein niedergedrückter, verbissener Mann, der mit gesenktem Kopf dasteht und seine schweißnassen Hände an den Rockschößen abwischt.

    Und Ingo Hülsmann "entlarvt" die Hohlheit seines Hjalmar mit großen wedelnden Gesten, er pumpt sich auf und fällt in sich zusammen, und wenn er seine Frau nach der Wahrheit fragt, presst der stets aufgeblasene Mann seine Worte mit langen Pausen einzeln heraus.

    Das Ereignis der Aufführung aber ist die 21jährige Henrike Jörissen als Hedwig. Die Schauspielstudentin im 2. Studienjahr, die ihre Figur in eine wunderbar austarierte Spannung zwischen Angst und Verzweiflung versetzt und dabei Hedwigs hoffende Unsicherheit mit wunderbar offenem gestisch-mimischem Spiel versinnlicht, kann als einzige eine Figur im Zwiespalt mit sich und den anderen zeigen.

    Sonst aber scheitert Thalheimers Inszenierung letzlich an ihrer allzu großen Eindeutigkeit. Alle Figuren sind von der ersten Szene an erklärt und festgelegt, sie entwickeln sich nicht und variieren ihr expressives Erklärspiel nur wenig. Dabei wirken sie auch gelegentlich eher unfreiwillig komisch. So interessieren uns eigentlich sehr schnell nicht mehr Ibsens Figuren als Menschen mit Problemen, sondern nur mehr deren Darsteller und ihre großen schauspieltechnischen Fähigkeiten.