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Regeln des Miteinander

In einer japanischen Familie auf Kyushu, rund tausend Kilometer südlich von Tokio gelten bestimmte Regeln für das Miteinander. Sie bieten Halt und garantieren Gemeinschaftlichkeit – im Alltag und auch darüber hinaus. Christiane Zwick durfte das erleben.

Von Christiane Zwick |
    "Als ich jung war, mochte ich die vielen Regeln nicht. Freiheit war für mich der beste Weg, glücklich zu sein. Aber ist frei wirklich frei - jetzt frage ich mich das."

    Freiheit oder klare Regeln für fast alles - was ist besser? Yuriko hat sich entschieden. Die 53-Jährige lebt auf Kyushu, der großen Insel im Süden Japans. Als sie hörte, dass bei der Freundin ihrer Tochter eine Deutsche zu Gast ist, hat sie mich zum Abendessen eingeladen. Über den vielen aufgetischten Schälchen und Schüsselchen stürzen wir uns in den Kulturvergleich. Yuriko hat zeitweise in Amerika gelebt, doch was sie jetzt erklären will, kann sie besser auf Japanisch ausdrücken.

    "Japan und Amerika sind sich sehr ähnlich. Die Menschen wollen es bequem. Sie stellen Maschinen her, um sich das Leben zu erleichtern. Ich fühle aber, dass das scheinbar leichtere Leben die Dinge eher verkompliziert."

    Nicht, dass sie Technik ablehnt, ihre Küche ist bestens ausgestattet und das Polstersofa ist auf einen Plasmafernseher hin ausgerichtet. Es geht um die Haltung. Yuriko sucht ein Foto heraus, das sie im beigen Kimono ihrer Mutter zeigt. Der weite Stoff passt sich seit Generationen jeder Figur an. Der breite Gürtel allerdings ist eng gewickelt. Ein so schönes wie strenges Kleidungsstück. Sie trägt es einmal in der Woche, beim Unterricht in Teezeremonie.

    "Als ich 40 geworden war, habe ich angefangen, mich für die Teezeremonie zu interessieren. Die Teezeremonie hat viele Regeln. Nur um eine Tasse Tee zuzubereiten, braucht es viel Zeit und Energie. Aber trotz der vielen Regeln und trotz der Anstrengung wird mein Herz klar, und ich werde ruhig. Das ist schön. Und so verschwindet der Stress nach einem geschäftigen Tag. Die Zeit vergeht langsamer."

    Das klingt gut. In puncto Regeln fühle ich mich allerdings unsicher. Wirke ich so höflich, wie ich hoffe zu sein? Dass ich an Yurikos Esstisch sitze, verdanke ich Chisato, meiner japanischen Gastgeberin, die mich für eine Woche als Familienmitglied auf Zeit aufgenommen hat. Vermittelt wurden wir über EIL oder Experiment e.V., wie der gemeinnützige Verein in Deutschland heißt.

    "Wenn du nur Sightseeing machst und rumreist, kommst du nicht in Kontakt mit den Menschen in Japan. Du siehst Burgen und Tempel oder Schreine, bekommst aber keinen Kontakt zu Japanern. Beim Gastaufenthalt ist das anders, du bekommst mit, was eine Familie bewegt und triffst viele Leute."

    Und genau das hat mich angesprochen. Mit meinen 20 Worten und fünf Sätzen käme ich sonst wahrscheinlich über keine private Türschwelle. Chisato ist mit Anthony, einem Kanadier verheiratet. Ihre gemeinsame Tochter heißt Olivia. Die drei haben in der Kleinstadt Moji gerade ein eigenes Haus bezogen. Wenige Straßen weiter betreibt Chisatos Familie eine Mochi-Manufaktur. Wir fahren im Jeep rüber.

    Mochi sind etwa golfballgroße, mit süßer Bohnenpaste gefüllte Klebreiskugeln. In der Ecke des dunklen Holzhauses walkt die Knetmaschine den Teig. Chisatos Mutter Katsuyo und Tante Mioko tragen Kopftuch und Schürze, sie rollen auf dem großen Holztisch dutzendweise weiße und rosa Bällchen. Die nächste Partie soll grün werden.

    Katsuyo gibt mir Yomogi zu kosten, damit färbt und aromatisiert sie den Teig. Das Kraut schmeckt nach Spinat, ist aber Beifuß. Der benachbarte Shinto-Schrein hat die Mochi bestellt, sie sollen Glück bringen. Den eigenen Altar bestückt die muntere zierliche Frau mit Salz und Lorbeerblättern. Das sei gut fürs Geschäft, erklärt sie mit verschmitztem Lächeln. Katsuyo ist mir auf Anhieb sympathisch. Im Haus nebenan wird Sojasoße produziert. Auch diese Werkstatt ist nicht größer als ein Wohnzimmer. Ich hatte mir Japan durchindustrialisierter vorgestellt. An der Küste reiht sich tatsächlich Fabrik an Fabrik, Strände und kleine Fischerorte fehlen. Vor den Bergen aber wogt ein kleinteiliges Häusermeer. Die Bebauung hat städtische Dichte, die Atmosphäre ist ländlich.

    Immer wieder bemerke ich: Was vergleichbar mit Deutschland scheint, hat einen ganz anderen Hintergrund. Das gilt sogar für die Musik. Dies ist nicht etwa "Hänschen klein", sondern das Lied vom Schmetterling, der sich auf der Rapsblüte langweilt und zur Kirschblüte weiterfliegt.

    Ob ich klassische Musik hören wolle, hat mich Chisato heute Morgen gefragt, gleich bei der örtlichen Volkshochschule angerufen und schon sitze ich in der Übungsstunde der Zitherspielerinnen. Die "Taisho Koto" hat Saiten und Tasten, gespielt wird nach Zahlen. Keine der freundlichen Damen spricht Englisch. Also: Lächeln und Peinlichkeiten vermeiden. Die Liste der möglichen Fettnäpfchen wiederholt jedes Japanbuch: An der Tür Schuhe aus! Nicht öffentlich die Nase putzen! Mit Meinungen zurückhalten! An Gastgeschenke denken! Ich habe noch ungefähr 15 im Koffer. Jetzt habe ich keins mit. Verflixt.

    Welchen Musikgeschmack Chisato hat, weiß nicht. Sie hat in den vielen Mails, die wir uns geschrieben haben, nur selten "ich" gesagt. Die 26-Jährige ist eine passionierte Gastgeberin.

    "Ich mag es, Leuten aus Übersee Japan zu zeigen, weil Japan ein schönes Land ist, das ganz anders als andere Länder ist. Ich mag es, Kultur zu vermitteln, Sightseeing zu machen."

    20 Kinderaugen schauen immer wieder zu mir rüber. Chisato und Anthony haben eine eigene Sprachenschule gegründet, direkt am Bahnhof von Moji. Nachher werde ich den erwachsenen Schülern eine Diaschau über Hamburg zeigen und selbst gebackenen Apfelkuchen servieren. Als Gast wird auch etwas von mir erwartet. Aber jetzt ist Vokabel-Stunde. Die Zehnjährigen trainieren Englisch, ich probiere Japanisch.

    Anthony ist vor sechs Jahren nach Japan gekommen, durch das staatliche Sprachlehrerprogramm. Er hätte sich schnell eingelebt, sagt er. Aufmerksamkeit erregt der Basketballertyp allerdings immer noch. Auch mit Kleinigkeiten.

    "Als Kanadier finde ich nicht, dass es etwas Besonderes ist, die Windeln meines Babys zu wechseln, Väter wechseln Windeln. Hier in Japan wird man als der beste Ehemann der Welt und großartiger Vater behandelt."

    Zuhause hängt in der Küchenzeile sogar eine Urkunde für den "besten Ehemann der Welt". Wir essen, buchstäblich unter einer Decke steckend, am Kotatsu, einem beheizten niedrigen Tisch, auf Stühlen ohne Stuhlbeine. Das graue Sofa ist westlich, der Rest des Hauses auch. Nur das Gästezimmer hat Reispapierschiebewände. Rücksichtsvoll hat Chisato für mich zwei Futons aufeinander gelegt. Nachts hole ich mir heimlich, um niemanden zu beschämen, einen dritten aus dem Schrank. Japanische Wohnräume sind multifunktional. Das einzige ständige Möbel darin sind die Reisstrohmatten.

    "Tatamimatten haben früher in japanischen Häusern die Böden aller Räume bedeckt, das Wohnzimmer eingeschlossen. Aber die Zeiten ändern sich. Der Lebensstil hat sich verwestlicht, er folgt jetzt europäischen oder amerikanischen Vorbildern. Die Jungen sitzen heute auf Stühlen. Aber uns Japanern bedeuten Tatamis etwas. Wenn wir uns hinlegen und den Geruch von Reisstroh einatmen, das Stroh berühren, dann wissen wir uns zuhause, in einem japanischen Haus."

    Yoshiki ist Rentner und hat früher in der Baubehörde gearbeitet. Er erzählt mir, dass der Norden von Kyushu durch die Stahlindustrie reich geworden ist. Die Küstengewässer waren so verschmutzt, dass kein Leben mehr darin war. Das kehrt nun zurück. Dank neuer Technik und staatlicher Auflagen. In Japan werden Probleme, auch ökologische, von oben nach unten geregelt. Bürger-Proteste gibt es selten. Sich beschweren ist unhöflich, Harmonie oberstes Gebot. Auch in Gesprächen gilt es abzuwägen, wie offen man sein will. Und darf.

    "Es gibt Honne und Tatemae. Tatemae ist der diplomatische Ausdruck und Honne ist der wahre Gedanke. Im Gespräch benutzen wir beides, jeder macht das. Ich zögere, den diplomatischen Ausdruck zu benutzen. Es sei denn, es ist besser, diplomatisch zu sein statt den ehrlichen Gedanken auszusprechen, etwa um einen Freund nicht zu verletzen. Dann bevorzuge ich Tatemae. Tatemae ist sicherer als Honne."

    Seit meiner Ankunft in Japan übe ich anscheinend intuitiv Zurückhaltung, denke ich gerade. Und schaue dabei auf meine Füße. Warnfarbe blitzt mir entgegen: Grelles Pink. Ich bin mit den Toilettenschuhen ins Wohnzimmer getappt. Und in ein tiefes Fettnäpfchen. Yoshiki muss das gesehen haben, aber er hat den Fauxpas nicht angesprochen und mich nicht in Verlegenheit gebracht. Er hat meine Gefühle mitberücksichtigt, das gehört sich so. Zum Abschied soll ich mir ein Aquarell aussuchen. Nicht nur Gäste bringen etwas mit, auch Gastgeber lassen ihre Gäste nicht ohne Geschenk aus der Tür. Ich fühle, was es heißt, sich durch Geschenke verpflichtet zu fühlen. "Giri" heißt das auf Japanisch.

    Am nationalen "Feiertag der Kultur" geht es nach Fukuoka. Radio RKBO will die Gelegenheit nutzen, eine Ausländerin zu interviewen. Meine Gastfamilie und ich werden in das gläserne Studio im sendereigenen Wolkenkratzer geführt und den Moderatoren vorgestellt. Und schon bin ich "On Air". Welche japanischen Autoren wir in Deutschland kennen, fragt Mrs. Fukuyama.

    So viel höfliche Begeisterung begeistert. Auch hier Gastgeschenke: rosa Plüschfische für alle und Poster einer Samurai-Serie. Wir verschnaufen am kurzen sauberen Strand der Acht-Millionen-Metropole. Die Palmen sehen sehr gesund aus. Ein Hochzeitspaar in Satin und Tüll, umgeben von hellblau gefärbten Hündchen strebt der Imitation einer italienischen Renaissance-Kirche zu. Chisato, Olivia und ich schlecken Eis mit Grüntee-Geschmack. In der Dämmerung zieht es meine Gastfamilie an den Kanal, wo sich eine Garküche an die andere reiht. Fukuoka ist berühmt für seine Ramensuppe.

    "Vielleicht denken die Leute aus Übersee wir essen nur Sushi. Sushi ist zwar eine populäre japanische Spezialität. Aber wir haben noch viele andere leckere Gerichte, wie zum Beispiel Yakitori oder Okonomiyaki, Ramen oder Udon und noch viel mehr. Nach 9 Uhr abends kommen viele Leute hierher, nach einem Abendessen in einer Izakaya essen sie hier Nudelsuppe. Das ist in Fukuoka so Tradition für die Leute."

    Essen ist definitiv ein wichtiges Thema. Kulinarische Neuentdeckungen werden gefeiert, jedes Dorf hat eigene Spezialitäten, an jedem Bahnhof gibt es essbare Souvenirs in hübschen Packungen. Aber auch jede Mahlzeit ist eine Augenweide. Braune Soße über hellbraunem Braten und dazu blasse Kartoffeln? Indiskutabel.

    "Ich liebe die Dekoration, den farbigen Stil. Es gibt auch nicht nur eine große Sache, sondern viele verschiedene Geschmäcker. Das mag ich. Ich versuche, eine hübsche Schale auszusuchen und die Dinge nett darauf anzurichten, dass rot, gelb, grün und weiß zusammenkommen. Die Farben von Gemüse und Fisch, es gibt viele Farben, die ich benutzen kann."

    In dieser Disziplin ist Kiyoichi Meister. Und nicht nur in dieser. Der Besitzer von Chisatos Stammlokal lädt mich zum Sushi-Praktikum ein. In der Mitte seiner Küche steht ein Regal mit hunderten verschiedener handgetöpferter Platten und Schälchen. Momoko, die jüngste Tochter, scheidet gerade aus Pappe eine Bento-Box im Puppenformat, die Schnipsel darin sollen Nigiri sein. Die Schwiegermutter wäscht ab, ich knacke Gingkonüsse. Die werden leicht zu Mus. Ich arbeite an meinem Fingerspitzengefühl. Kiyoichi führt sein Werkzeug mit Eleganz. Das Messer gleitet scheinbar mühelos durch den Fisch.

    "Der Seeaal wird zuerst in drei Stücke aufgeschnitten. Dann schneide ich mit dem Küchenmesser ein Zentimeter große Scheiben, etwa fünfzehn grätenfreie Häppchen entstehen so. Dann gebe ich die Stücke kurz in heißes Wasser. Der Seeaal wird dann als Tempura frittiert serviert. "

    Kiyoichi hat eine Fugu-Lizenz, er darf den potenziell tödlichen Kugelfisch zubereiten. Fugu ist goldig. Sein rundes Gesicht lächelt einem auf vielen Restaurantvorhängen entgegen. Diesem hier wird das Lächeln gleich vergehen. Ein Hammerschlag, vier Schnitte, der Fugu ist entleibt. Die Gräten landen im Mülleimer. Wo der Kopf noch nach Luft schnappt. Das Filet, das mir Kiyoichi hinhält, pulsiert noch. Ich vermute, dass ein Nein gerade ausgeschlossen ist. Das Fleisch ist fest, muskulös und mild. Mein Herz klopft.

    In Shimonoseki nimmt mich Akiyo in Empfang. Wir laufen über Pflasterwege an Tempeln vorbei und auf Socken durch Samuraihäuser, ein Raum geht in den anderen über, jeder hat eine Nische, die Tokonoma. Das Bild darin und das Blumengesteck werden der Jahreszeit angepasst. Nichts davon, nicht einmal der künstliche Wasserfall im Garten, ist makellos schön. Auch der Bruch und die Spuren der Vergänglichkeit sind schön, sind "wabi sabi", erklärt die 65-Jährige.

    "Wabisabi ist ein sehr japanischer Begriff, er bezeichnet für mich einen Lebenstil, der elegant ist, ruhig und einfach und bescheiden. Absichtslos. Wie das Geräusch des Wasserfalls."

    Am Abschiedsabend faltet Katsuyo für mich eine Papierschlange, wie sie vor ihrem Geschäft hängen. Sie soll das Böse fernhalten. Anthony bringt immer neue Leckereien vom Grill herein, Chisato richtet Salate an. Ein paar Freunde sind gekommen. Das Gespräch dreht sich darum, wie schwer Familienleben und Arbeit in Japan zu vereinbaren sind.

    "Das erste, was ich in der Firma gesehen habe: Niemand hat ein eigenes Büro oder eine Arbeitsnische, alle sitzen an Tischreihen. Und am Tischende sitzt der Manager oder der Chef der Firma. Ich habe nirgendwo so viele Respektsbezeugungen und Verbeugungen vor dem Manager oder dem Boss gesehen wie hier. Ich habe nirgendwo die Leute so klar den Job vor der Familie einordnen sehen wie hier."

    "Ich denke, wer in Japan in einer kleinen Firma arbeitet, bei dem kommt die Firma zuerst und dann erst die Familie. Sie hätten es gerne anders, haben aber keine Wahl."

    "Wenn der Boss sagt: Bleib länger, kann man nicht sagen: Ich muss nach Hause zu meinen Kindern, wie in Kanada, meine Frau wartet auf mich. Da gibt es keine Diskussion. Wenn dein Chef sagt: Du musst am Samstag arbeiten, verbeugst du dich und sagst, dass du da sein wirst."

    Mit einer tiefen Verbeugung verabschiedet sich auch Chisatos Mutter am späten Abend von den Gästen, dann schaut sie noch einmal herein, macht einen Scherz, geht auf die Knie und verneigt sich noch einmal, die Stirn den Boden berührend. Wie reagiert man auf so viel Ehrerbietung? Am Morgen, bevor Chisato mich zum Bahnhof bringt, kommt Katsuyo noch einmal mit einem Geschenk. Ich finde zum Glück auch noch eines für sie in meinem Koffer.