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"Reifes Mädchenkino à la Sofia Coppola"

Der Goldene Leopard des 64. Filmfestivals von Locarno ist an "Abrir puertas y ventanas" von Milagros Mumenthaler gegangen. In ihrem Film erzählt die argentinische Regisseurin von drei Schwestern, die gelangweilt in einem Haus in Buenos Aires leben. In ihren Gesprächen taucht immer wieder die Vergangenheit der argentinischen Diktatur auf.

Rüdiger Suchsland im Gespräch mit Katja Lückert |
    Katja Lückert: Gestern ist das 64. Filmfestival von Locarno zu Ende gegangen - der künstlerische Leiter Olivier Père könne zufrieden sein, es sei ihm gelungen das Filmfestival am Lago Maggiore weiter und wieder aufzuwerten, so liest man – Rüdiger Suchsland, in wiefern aufzuwerten, steht Locarno nun gleichberechtigt neben den drei wichtigsten europäischen Filmfestivals in Berlin, Cannes und Venedig?

    Rüdiger Suchsland: Ja, es ist einfach so gewesen, dass in den Jahren vor Olivier Pères Antritt vergangenes Jahr Locarno so ein bisschen heruntergekommen war. Locarno ist ja ein sogenanntes A-Festival, das heißt, die haben einen internationalen Wettbewerb mit vielen Filmen, die allesamt Weltpremieren feiern, und da erwartet man einfach ein bestimmtes Niveau; das war in den letzten Jahren nicht mehr so gewährleistet, und insgesamt waren zu viele Filme, alles ein bisschen zu diffus und man wusste nicht so genau, warum man eigentlich nach Locarno fahren sollte. Jetzt ist Olivier Père ein Mann, der extrem gut vernetzt ist im Weltkino, der einfach es schafft, so eine Mischung nach Locarno wieder zu bringen, wofür dieses Festival früher berühmt war. Auf der einen Seite ein paar tolle Filme, die spektakulär sind, die Stars haben, an die Piazza Grande, da muss man immerhin 8000 Leute auf diesen mittelalterlichen Platz bringen, ein Freiluftkino, wo auf einer sehr großen Leinwand dann die Filme zu sehen sind – Harrison Ford war hier, Daniel Craig war hier, Isabelle Huppert, dann auch Autorenfilmer wie Abel Ferrara –, das ist die eine Seite. Die andere Seite ist dann im Wettbewerb natürlich das Autorenkino. Nun ist Locarno nicht ganz so wichtig wie Cannes oder die Berlinale, ein etwas kleinerer Ort, und entsprechend sind die Filme auch ein bisschen kleiner. Die Regisseure sind öfters Debütanten oder es sind zumindest junge Leute, die vielleicht in Nebenreihen gestartet sind, und die jetzt so ihren zweiten, dritten, vierten Film hier vorstellen.

    Lückert: Es gab in diesem Jahr eine Vielzahl von Favoriten – auch dies ein Anzeichen für die gestiegene Qualität des Concorso internazionale, des Hauptwettbewerbs, in dem 20 Filme um den Goldenen Leoparden konkurrieren. And the winner is ...?

    Suchsland: Der Winner ist "Abrir puertas y ventanas", also "Türen und Fenster öffnen" von einer Dame, die heißt Milagros Mumenthaler, und im Grunde dieser schöne ungewöhnliche Name, der sagt schon, dass sie aus zwei Welten stammt: Sie ist nämlich Argentinierin mit Schweizer Verwandten, die hat auch eine Weile in der Schweiz gelebt, als ihre Eltern aus politischen Gründen ins Exil mussten unter der Diktatur, und es ist ihr erster langer Film nach einer ganzen Reihe von schon auffälligen Kurzfilmen, ein Film im Grunde, der so ein bisschen Tschechows Motiv aufgreift von den drei Schwestern, die sich langweilen. Auch hier sind drei Schwestern, die in einem Haus in Buenos Aires leben, und die eine studiert, die andere arbeitet, eine hängt mehr oder weniger rum – zum Einen konzentriert man sich auf diese innere Dynamik zwischen den drei Schwestern, zum Anderen tauchen aber in ihren Gesprächen auch ganz viele Sachen auf, die so auf so eine subtile Weise politisch sind, nämlich die Vergangenheit der Diktatur, die sind bei einer Großmutter aufgewachsen. Die Eltern, von denen hört man nichts, die gab es offenbar schon ganz lange nicht – und da ist sozusagen die ganze Vergangenheit Argentiniens – jüngere Vergangenheit – mit präsent. Es ist eine alte Welt, ein altes Haus mit vielen alten Möbeln, und peu à peu räumen die dieses Haus auch leer, schaffen die Möbel weg, am Schluss sind die Wände ganz weiß. Das ist ein wunderschön gemachter Film mit ziemlich viel Witz, so Anklängen auf dieses reife Mädchenkino von Sofia Coppola. Mir hat der sehr, sehr gut gefallen – war auch einer meiner Favoriten.

    Lückert: Vielleicht sprechen wir noch kurz über die Tendenzen im argentinischen Kino – gibt es da neuere, jüngere Strömungen, oder ist das eben auch etwas Besonderes, diese – Sie haben es ja schon erwähnt – argentinisch-schweizerische Kombination?

    Suchsland: Nein, ich glaube, das ist in dem Fall schon ein argentinischer Film, dieser "Abrir puertas y ventanas". Wie stark das argentinische Kino ist, das konnte man merken in dem zweiten Wettbewerb. Es gibt so einen richtigen Nachwuchswettbewerb, da hat auch ein Argentinier den einen Hauptpreis bekommen, der heißt Santiago Mitre, "El Estudiante" ist sein Film, und das ist ein Film über einen jungen Mann, der politische Karriere in der Universitätspolitik macht und dann so sehr schnell in diese Machenschaften hineingezogen wird, in mafiose Ränkespiele und Intrigen, und der eine ganze Weile da mitmacht und sich auch die Hände schmutzig macht, aber sich am Schluss dann doch heraushält und sozusagen eine moralisch positive Entscheidung trifft. Beide Filme eint eigentlich, dass es ein urbanes Kino ist. Von Argentinien kennt man oft diese schönen Landschaftsfilme, Roadmovies, die nach Patagonien dann gehen. Ich würde sagen, die jüngeren Regisseure, die zeigen Leute ihren Alters, und die leben in den Städten, die haben eben auch politische Probleme, die interessieren sich für Politik. Man merkt, dass in Argentinien etwas gärt, und dass dann eine neue Generation einfach versucht, auch Bilanz zu ziehen, das konnte man auch einem dritten Film anmerken, der heißt "Papirosen", ist von Gaston Solnicki, und an diesem Nachnamen merkt man schon, es ist ein Emigrant, oder ein Kind von Emigranten, und der porträtiert seine Familie, das ist eine polnisch-deutsch-jüdisch-argentinische Familie. Drei Generationen porträtiert der sehr intim, unglaublich wahnsinnige Szenen auch, wenn die sich streiten, wenn sie von brutalen Erlebnissen in der Vergangenheit erzählen, und andererseits erfüllt von sehr, sehr viel Liebe, sehr viel Sympathie, ein sehr warmherziger Film, sehr ungewöhnlich gemacht, mit einer Menge alter Aufnahmen. Da merkt man, dass auch ästhetisch ein großer Reichtum im lateinamerikanischen, besonders argentinischen Kino präsent ist.

    Lückert: Was gab es noch für Preise? Ein Preis sicher auch für die beste Regie; wohin ging der? Nicht nach Argentinien?

    Suchsland: Nein, der ging nicht nach Argentinien, der ging zu Adrian Sitaru, das ist ein Rumäne, der hat seinen zweiten Film gemacht, "Best Intentions", da geht es eigentlich um einen jungen Mann, der, um seine Mutter zu pflegen, ziemlich viel Zeit in einem Pflegeheim verbringt. Und wenn man so will, begegnet man in diesem Pflegeheim so einer Art Menschenzoo, also sehr ungewöhnliche, sehr skurrile Figuren – das ist schon geprägt von dieser Ästhetik, die man vom rumänischen Kino oft kennt, also Handkamera, sehr realistische nahe Aufnahmen, den Menschen wird ganz nah auf den Leib gerückt, und ein Riesenchaos entfaltet sich da, also wenn man so will, so ein hysterischer Wahnsinn. Das ist teilweise sehr lustig, teilweise sehr erschreckend anzusehen, grandios gemacht – denn es ist große Kunst, diese vielen Menschen miteinander zu choreografieren und so spontane Momente aufzunehmen, da spielen auch teilweise Laien mit –, sehr, sehr beeindruckend und ein sehr gerechtfertigter Regiepreis für Adrian Sitaru.

    Lückert: Zuletzt noch die Frage nach deutschen Teilnehmern an diesem Festival?

    Suchsland: Ja, wir haben mehrere Filme, die sind deutsch koproduziert von deutschen Produzenten, wir haben aber keinen deutschen Regisseur in diesen beiden Wettbewerben. Der Kurzfilmpreis ging an einen deutschen Regisseur, ansonsten haben wir mehrere deutsche Beiträge auf der Piazza Grande gehabt, diesem genannten Freiluftkino. Mich hat da besonders beeindruckt der Film von Tim Fehlbaum, der heißt "Hell", und das ist so ein postapokalyptischer Thriller, in dem der Klimawandel sich vollendet hat, die Menschen werden zu Kannibalen. Das ist teilweise sehr brutal, das ist auch ein Horrorfilm, ist aber ungemein souverän inszeniert, und man muss den Regisseur dafür sehr bewundern. Und es gab da noch einen anderen Film, "Vier Tage im Mai" von Achim von Borries, der lief eben auch auf der Piazza. Das ist eine, ja, fast wahnwitzige Geschichte aus den letzten Kriegstagen, der Zeit um den 8. Mai 45, ein Kinderheim, das von Russen besetzt wird, und das Ganze ist am baltischen Meer an der Ostsee, da geht es dann hin und her, und es gibt eine menschliche Annäherung eigentlich zwischen den russischen Besatzern und den Leuten, die in diesem Kinderheim wohnen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.