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Reihe Wasserzeichen
Wasser in Sprechakten (2/2) - Taufe und Weissagung

Im zweiten Teil eines Essays von Oya Erdoğan geht es um die griechische Mythologie und den Wassergott Proteus. Mit ihm bildet Wasser ein Medium, das die Aufmerksamkeit und das bewusste Wachheit des Menschen schult, insbesondere den Worten und Erscheinungen gegenüber.

Von Oya Erdoğan | 09.06.2014
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    In der griechischen Mythologie ist Proteus der Gott des Wassers, der Meeresgott. (dpa picture alliance/ Christof Martin)
    Wasser, wie das Taufwasser, scheint das unverfälscht gespiegelte Stimmungsbild dessen zu bergen, was in seinem Umfeld wirkt. Das Wasser im Körper des Menschen ist zwar gebunden, denn es passt sich den Bedürfnissen des Organismus an und hat eine andere Konsistenz und Zusammensetzung, wie etwa das Zellwasser, das bedeutend kompakter ist als gewöhnliches Wasser. Doch wird das körpereigene Wasser ebenso genau vermerken, was mit und in diesem Körper erlebt, gedacht, gefühlt wurde, und könnte dabei sogar wissender als das Bewusstsein dieses Menschen sein. Bekanntlich arbeitet das Gehirn mit Filtern und der größte Teil des Wahrgenommenen sinkt ins Unbewusste ab, von dem wir allerdings wissen, dass es nicht vergisst. Könnte, als Pendant zum Unbewussten, das körpereigene Wasser nicht dazu beitragen, das Körpergedächtnis zu bilden? Sollte das sensible Wasser mit seinen seismografischen Fähigkeiten keinen Anteil daran haben? Auf solche Weise könnte es geschehen, dass das Wasser mit seiner hohen Resonanzfähigkeit die Empfindungen und Gedanken in einem Körper aufnimmt und sie diesem als Information in die Zellen, Muskelfasern und Organe einschreibt.
    Selbstreinigungskraft des Wassers

    Für gewöhnlich korrespondiert den Gedanken eine körperliche Empfindung, die zu einer Haltung werden kann. Das Körpergedächtnis bildet sich aber auch über das Abspeichern von Eindrücken, die gedanklich nicht verarbeitet werden konnten. Die Erfahrungen, die ein Kind im Mutterbauch und während der Geburt macht, prägen sich auf der körperlichen Ebene ein, da das Kind noch nicht über ein ausgebildetes Sprachbewusstsein verfügt. Und in seiner oralen Phase speichert das Kind die vielfältigsten Sinneseindrücke direkt ab. Doch selbst wenn die physiologischen Bedingungen zur Verarbeitung von Erlebnissen voll entwickelt sind, geschieht es, dass Eindrücke unmittelbar im Körper gespeichert werden. Und zwar dann, wenn nicht genügend Zeit bleibt, sie bewusst zu verarbeiten, wie das bei Traumata oft der Fall ist, in milderem Ausmaß aber auch bei Alltagssituationen oder bei einem Stakkato von Erlebnissen der Fall sein kann. Das Unbewusste wie das Körpergedächtnis streben aber danach, die verdrängten oder noch unverarbeiteten Erlebnisse zum Ausdruck zu bringen und schicken sie, sobald eine Gelegenheit dazu da ist, an die Oberfläche der bewussten Wahrnehmung. Das ist der gesunde Mechanismus der Selbstheilungskräfte des Körpers, der sich von blockierenden Altlasten und Gedankenschlacken zu befreien sucht. Und nicht nur von ungefähr erinnert dieses Verfahren an die natürlichen Selbstreinigungskräfte des Wassers, die es immer wieder in seinen Naturzustand zurückzuführen vermögen.
    Proteus - der Meeresgott
    Im Körper eines Menschen sind also alle Eindrücke gespeichert, die er in seinem Leben erfahren und wahrgenommen hat. Der Körper besitzt aber auch ein Wissen, das darüber hinausgeht. Man sagt, im Stammhirn ruhe das evolutionäre Wissen, das kollektive Gedächtnis der Menschheit. Deutet dies nicht auf seine Herkunft aus dem Wasser, das, wie die Mythen berichten, ein unbegrenztes Gedächtnis hat? Das sagt man auch den alten Wassergottheiten nach, die den Ruf haben, über ein ausgezeichnetes Gedächtnis zu verfügen, und wie Wasser, das in jede Ritze einzusickern vermag, überall hin zu kommen und über alles Bescheid zu wissen. Sie sind sehr weise, drängen aber niemandem ihr Wissen auf. Proteus ist so ein urzeitlicher Wassergott. Sein sprechender Name besagt, dass er "der Erste" ist, gleichsam ein Prototyp des Ursprünglichen, der göttlichen Weisheit. Er kennt die tiefsten Tiefen des Meeres und weiß, was jemals geschehen ist, was die Zukunft bringen wird, und was sich gerade in der Welt ereignet. In ihm verkörpert sich literarisch das Gedächtnis des Wassers, mit ihm nimmt die Allwissenheit des Wassers eine sprechende und handelnde Gestalt an.
    Proteus, der dem Rat suchenden Menschen zumeist als Greis erscheint, gibt sein Wissen jedoch nicht einfach preis. Es will errungen werden, weshalb Proteus den Suchenden, wenn dieser ihn denn zu fassen bekommt, in einen Ringkampf verwickelt. Zunächst bedarf es also - ganz wie der Jäger, der seinem Wild nachstellt - der List und Täuschung, ihn einfangen zu können. Gelingt dies, ist jedoch noch nichts gewonnen, denn in diesem Augenblick wird sich Proteus in alles Mögliche verwandeln, in Wasser oder Feuer ebenso wie in wilde Tiere oder Pflanzen. Wer davor erschrickt und seine Beute loslässt, wird verloren haben. Wer aber seinen Griff nicht lockert, dem wird Proteus sagen, was er wissen will. Die Verwandlungskünste des Proteus hat man philosophisch-kosmogonisch gedeutet, als Allegorie der Natur etwa, aber auch in der Weise, dass Wasser als das ursprüngliche Prinzip aller Dinge das Seiende vorbilde und gestalte. Denn Proteus kann jede Erscheinung annehmen, sich in jede Form ergießen, und dennoch sind diese Dinge letztlich er selbst, und das heißt, sie sind wie Wasser.
    Menelaos und Proteus
    Da es uns hier jedoch um die Weissagung geht, betrachten wir die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel. Es soll um den Sprechakt gehen, um das Medium der Worte und ihre Beziehung zum Wissen und zu den Erscheinungen, und also um Kriterien von Wahrheit und Täuschung. Wie steht das untrügliche Wasser, der sprechende Proteus dazu? Bringen wir uns die Erzählung aus der Telemachie, dem vierten Gesang der Odyssee, in Erinnerung: Menelaos hat sich, ähnlich wie Odysseus, auf seiner Heimfahrt vom trojanischen Krieg verfahren und steckt mit seinen Schiffen auf der Insel Pharos, die Ägypten vorgelagert ist, fest.
    Die Tage und Wochen vergehen, die Lebensmittelvorräte schwinden, doch der Wind weht unablässig und beständig landwärts und nicht in die erwünschte Richtung heimwärts. In dieser festgefahrenen Lage erkennt Menelaos durchaus, dass er die Götter gegen sich hat, aber er weiß nicht welche und warum. Er ist ratlos, die Situation trostlos. Während seine Männer mit ein paar krummen Haken versuchen, um die Schiffe herum Fische zu fangen, und auch die schöne Helena nichts weiter tun kann als abzuwarten, streift Menelaos abseits von seinen Gefährten auf der Insel herum. Die Insel hat nicht viel zu bieten. Sie bestätigt ihm nur Tag für Tag seine Isolation.
    Als er wieder einmal mit sich alleine ist, taucht plötzlich eine Erscheinung vor ihm auf. Könnte es eine Halluzination sein, eine Fata Morgana, ein flimmerndes Bild, das beim Näherkommen entschwindet? Nein, es muss eine Göttin sein. Sie ist Menelaos zwar unbekannt, weshalb sie auch einfach Eidothea genannt wird, was soviel bedeutet wie "die Göttin der Erscheinung". Doch dass sie eine Göttin ist, daran kann es keinen Zweifel geben, denn: Sie besitzt den Logos! Mit klugen und verständigen Worten spricht sie zu Menelaos:
    "Unbesonnen bist du wahrhaftig, Fremder, und töricht
    Oder zögerst absichtlich du und ergötzt dich am Leiden,
    Daß du hier auf der Insel so lange verweilst und den Ausweg
    Nicht mehr findest? Dahin schon schwindet der Mut deiner Freunde."
    Menelaos ist ergriffen davon, dass sich diese unbekannte Göttin seiner erbarmt und ergreift sofort die Gelegenheit, ihr seine Not zu eröffnen:
    "Wahrlich, welche der Göttinnen du auch bist, ich verweile
    Nicht freiwillig an diesem Ort. Ich habe gefehlt wohl
    Gegen die Unsterblichen, die den Himmel bewohnen.
    Aber du sage mir jetzt - denn die Götter wissen ja alles -
    Welcher Unsterbliche hält mich hier fest und hemmt meine Fahrt mir".
    Eidothea erwidert, sie wolle "die reine Wahrheit" sagen, und erzählt ihm von Proteus, der auf diese Insel zu kommen pflege, und wenn es Menelaos gelänge, ihm aufzulauern und ihn zum sprechen zu bringen, würde er wohl erfahren, wie er heimkäme. Und so ganz nebenbei gibt sie auch Auskunft über sich selbst. Sie sei die Tochter des Proteus. Er habe sie gezeugt. Dies sei es zumindest, was man ihr gesagt habe.
    Eidotheas List
    Als Göttin der Erscheinung offenbart hier Eidothea ihre zwiespältige Natur und spricht sie frei heraus: Sie scheint etwas zu sein, das sie vielleicht nicht ist. Aus ihrem Munde aber fließe nur Wahres, eben auch dies, dass sie nicht gewiss, sondern dem Anschein nach die Tochter des untrüglichen Meergreises sei. Menelaos kümmert sich nicht weiter um diese kryptische Bemerkung. Er traut seinen Sinnen und zweifelt nicht an dem, was sich ihm zeigt, und abgesehen davon hat er nur eines im Sinn: Wie kommt er von dieser Insel wieder weg, und deshalb vertraut er ihr - ganz und gar. Er bittet sie freimütig, ihm doch zu verraten, wie er es anstellen könne, dass er dem Wassergott, der ja alles vorhersehen kann, entfliehen könne. Er bittet sie damit immerhin, ihren Vater zu verraten. Doch Eidothea scheint dem gerne und bereitwillig nachzukommen. Sie unterrichtet Menelaos über alle Gewohnheiten und Tücken des Meergreises, erzählt ihm, wie er sich in alles Mögliche verwandeln werde. Menelaos dürfe ihn aber auf keinen Fall und nicht eher loslassen als Proteus wieder seine anfängliche Gestalt einnehme und sich ihm sprechend zuwende. Dann erst solle Menelaos von ihm ablassen und seine Fragen an ihn richten.
    Am frühen Morgen des nächsten Tages führt Eidothea Menelaos und drei seiner Gefährten - denn es bedarf viel Kraft und Gewalt, den Meergott festzuhalten - in die Grotte, zu der Proteus um die Mittagszeit aus dem Meer hochsteigen wird, um seine Robbenbestände abzuzählen und sich dann zu ihnen zu legen. Eidothea scheint den Anschlag gründlich geplant zu haben. Sie weist die Männer an, sich in den Sand an eine besondere Stelle zu legen und wirft ihnen frisch abgezogene Robbenhäute über. Es ist das beste, aber auch "das schlimmste aller Verstecke", wie Menelaos vermerkt. Denn wer bettet sich schon freiwillig neben diesen Meeresungeheuern. Doch viel quälender noch als das ist der fürchterlich tranige Gestank dieser Häute, der schier nicht auszuhalten ist.
    Die Göttin kommt ihnen auch da zu Hilfe und holt duftende Ambrosia herbei, die sie ihnen unter die Nase streicht, sodass sie es schaffen, den ganzen Vormittag wachsam in der Lauer auszuharren. Proteus taucht, wie Eidothea gesagt hatte, um die Mittagszeit aus den Fluten auf. Er beginnt, gemächlich seine Robben durchzuzählen - und zählt die unechten mit. Menelaos freut sich darüber, dass die List gelungen ist. Der Alte scheint den Betrug nicht durchschaut zu haben, denn er macht es sich im Sand neben den Robben bequem, um sein Mittagsschläfchen zu halten.
    Kaum dass er in Schlummer fällt, stürzen sich Menelaos und seine Gefährten mit lautem Geschrei auf Proteus. Der aber - schnell wie ein Blitz - verwandelt sich in einen mächtigen Löwen mit schwingender Mähne. Menelaos ist gefasst und lässt sich nicht abschütteln. Proteus schlüpft in die Haut einer zischenden Schlange, und Menelaos spürt mit Entsetzen ihre glatte kalte Oberfläche, doch lässt er die Schlange nicht entgleiten. Proteus nimmt darauf die Gestalt eines schwarzen Panthers an, fauchend mit scharfen Krallen und blitzenden Augen. Menelaos aber packt nur noch fester zu. Proteus wechselt zu einem wuchtigen Wildschwein und versucht, ihm mit seinen Hauern Angst einzujagen. Auch dieser Verwandlung hält Menelaos mannhaft stand. Proteus gibt jedoch nicht auf und versucht weiter, sich zu entziehen, und plötzlich ergießt er sich in einem Wasserfall. Da muss sich Menelaos schnell fassen und es gelingt ihm, mit dem fließenden Wasser in Fühlung zu bleiben. Schlagartig erhebt sich Proteus und erscheint als Baum, der die Männer mit dichtem Laubwerk umfängt. Menelaos aber behält den Durchblick und lockert auch jetzt nicht seinen Griff. Da erst wird Proteus dessen überdrüssig, sich weiter zu verwandeln, und nimmt wieder seine anfängliche Gestalt als greiser Mann ein.
    An dieser Stelle enden die meisten Deutungen dieses Abenteuers, denn der Ringkampf scheint ja gewonnen zu sein. Doch achten wir genauer auf das Danach, was passiert als nächstes! Proteus wendet sich zu Menelaos und fragt ihn mit den Worten:
    "Wer von den Göttern, Sohn des Atreus, hat dir diesen Rat gegeben, mich Widerstrebenden mit dieser List zum sprechen zu bringen? Was willst du?"
    Menelaos hat ihn da, wie Eidothea ihm geraten hatte, schon losgelassen und gibt ihm folgendes zur Antwort:
    "Greis, du weißt es ja selbst. Was fragst du mich und verstellst dich?"
    Erst mit diesen - alles entscheidenden - Worten hat Menelaos wahrhaft die Prüfung bestanden und kann nun Proteus auffordern, ihm zu sagen, welcher der Götter seine Heimkehr verhindert, und Proteus wird ihm unverstellt berichten, was er wissen will.
    Der erste Wortwechsel zwischen dem untrüglichen Wassergott und Menelaos ist der Angelpunkt der ganzen Erzählung und ein Schlüssel zu ihrem tieferen Verständnis. Aber bevor wir den Schlüssel im Schloss drehen, müssen wir uns fragen, um was es sich hier eigentlich dreht? Denn wenn wir genauer hinsehen, zeigt sich, dass diese Geschichte aus einem verwirrenden Geflecht von Täuschungsmanövern, Versteckspielen und Selbsttäuschungen besteht. Und es ist vor allem Menelaos, der sich dem hingibt. Ganz zu Anfang hat es ja den Anschein, als würde Eidothea ihren Vater Proteus verraten wollen. Recht besehen, täuscht sie damit aber nur Menelaos, denn der meint, sie würde ihre List auf den Vater anwenden. Dabei kann er nicht erkennen, dass Eidothea eigentlich ihn hintergeht, und zwar strategisch hintergeht. Denn ihre Rolle ist letztlich die einer Priesterin, die den Orakelsuchenden einweist und ihm Aufgaben erteilt, die seine Entschlossenheit prüfen sollen, damit er, wenn es zum Ringkampf mit Proteus kommt, die notwendige Geistesgegenwart besitzt. Die hat Menelaos im richtigen Moment bewiesen, auch wenn er sich zu Anfang noch von Proteus täuschen ließ, als er glaubte, dieser würde beim Abzählen der Robben den Betrug nicht bemerken. Natürlich wusste Proteus Bescheid, wie sollte er nicht - als untrüglicher Meeresgott. Doch er spielte mit, so wie Wasser mitspielt und auch seine Spiele treibt. Insofern nimmt es sich ganz so aus, als hätten Tochter und Vater gemeinsame Sache gemacht. Man könnte sogar soweit gehen, sich zu fragen, ob sie nicht ein und dieselbe Gottheit sind. Denn die Metamorphosen des Proteus stellen sich ja als Erscheinungen dar.
    Spiel der Verstellungen und Verwandlungen
    Als nächstes haben wir die wild-raffinierten Verwandlungskünste des Proteus, die schlechthin für eine Täuschung stehen. Was aber so offensichtlich scheint, täuscht selbst nur eine Täuschung vor. Denn die Erscheinungen der Tiere, des Wassers und des Baumes sind ja echt, sie sind greifbar, handfest, und keine Trugbilder oder Schattengestalten, wie sie Odysseus im Hades vergeblich zu berühren versucht, als er Teresias um eine Weissagung bittet. Menelaos hat eine andere Aufgabe zu bewältigen. Er muss im Ringkampf mit Proteus beweisen, ob er den einzelnen Erscheinungen mitsamt ihrer Verwandlung standhalten kann, und das bedeutet: sie wahrnehmen, ohne ihnen auszuweichen und sich vom Ziel abbringen zu lassen. So ist die Spielregel. Nur so kann er das Wissen erlangen, das er sucht. Das erfordert eine ungeheure Konzentration. Die hat Menelaos erworben, indem er neben den "Ungeheuern des Meeres", den Robben, auf der Lauer lag. Aber ebenso muss er den Mut aufbringen. Eidothea hat ihn zwar darüber unterrichtet, dass es letztlich immer Proteus ist, der hinter den Erscheinungen steckt, doch nimmt ihnen das nichts von dem Schrecken und der Irritation, die sie gerade in der ihnen eigenen Wirklichkeit erregen. Wie gut ihn die Göttin aber vorbereitet hat, zeigt sich in dem Moment, da Menelaos wirklich ganz auf sich allein gestellt ist. Denn vor der letzten, alles entscheidenden Verstellung hat Eidothea Menelaos nicht gewarnt.
    Proteus versucht noch ein letztes Mal, Menelaos abzulenken, und diesmal mit dem Harmlosesten, das man sich vorstellen kann: Mit fragenden Worten, die aus dem Munde eines Greises kommen. Und genau da reagiert Menelaos völlig geistesgegenwärtig und entgeht dieser mit Worten gestellten Falle. Denn die Frage des Proteus, welcher der Götter ihm den Rat gegeben habe, ihm aufzulauern, führt am Ziel des ganzen Unterfangens vorbei, verstellt den Blick auf das Wesentliche. Hätte Menelaos einer Versuchung nachgegeben, auf diese Frage inhaltlich oder gar mit Ausreden zu antworten, wäre ihm Proteus doch noch entwischt: Er hätte sich im Geschwätz entzogen! Menelaos hat aber den eigentlichen Sinn dieser Frage erkannt, der sich hinter den Worten verbirgt, und - wie schon zuvor bei den Verwandlungen - weicht er dieser verbalen Verstellung nicht aus.
    Seine Antwort ist klug, denn sie bekundet nicht nur, dass er die Verstellung wahrgenommen hat. Sie ist zugleich die einzig mögliche und sichere Erkenntnis, die Menelaos in dieser Situation wahrhaft aussprechen kann, nämlich dass Proteus doch alles weiß, wie die Götter ja immer alles wissen. "Greis, du weißt es ja selbst. Was fragst du mich und verstellst dich?"
    Durch das Spiel der Verstellungen und Verwandlungen in der Proteussage reihen sich die Worte zu den natürlichen Erscheinungen und deuten so auf verwandte Züge, wie die veränderliche Natur, das Kommen und Gehen oder die Eigenschaften von Oberfläche und Tiefe. In dieser Sequenz ist eine Ähnlichkeit zwischen dem Wesen der Erscheinungen und dem Wesen der Worte mitbedeutet. Die Erscheinungen des Proteus sind wahr und gleichzeitig verhüllen sie etwas, das gleichsam wahrer ist. Die Benennungen darin: Das ist ein Löwe, das ist Wasser, das ist ein Baum, usf. treffen zu und zugleich verschleiern sie etwas. Schicht um Schicht können die Schleier fallen, doch wird sich wohl keine letzte Wahrheit zeigen. Denn selbst wenn Menelaos zu wissen meint, dass Proteus allem zugrunde liegt, ist dieser doch als alles wissender Wassergott eine fließende Wahrheit, die in die tiefsten Tiefen untertauchen kann, wohin ihm keiner mehr folgt.
    Der ungetrübte Wasserspiegel
    Aber es geht hier auch gar nicht darum, die letzte Wahrheit des Proteus zu ergründen. Viel wichtiger ist es, an dem festzuhalten, was sich bereits von sich aus zeigt. Proteus offenbart einen Teil seines Wesens, nämlich dasjenige göttliche Medium zu sein, das den Suchenden zu seinem eigenen Wissen führt, nämlich zu dem Wissen, dessen er fähig ist. Denn es ist nicht der Wassergott, der, als es zur Weissagung kommt, nun klar und unverdreht die Wahrheit spricht, sondern es ist Menelaos, der jetzt erst fähig ist, die Verstellungen seines Geistes zu durchschauen, sodass er die Worte und Gedankenbilder richtig einzuschätzen weiß.
    Diese Deutungsmöglichkeit entspringt der Sage selbst und schenkt ihr eine weitere spannende Dimension. Die Stellung des Proteus wäre in diesem Sinne die, nicht mehr als ein göttlicher Wasserspiegel zu sein. Dann würde sich Menelaos grundsätzlich darin täuschen, dass es Proteus ist, der sich verwandelt und stets zu entschlüpfen sucht. Proteus wäre statt dessen vielmehr ein göttlich ungetrübter Wasserspiegel, der Menelaos seine eigene Natur vorhält und die facettenreichen Verstellungen seines Geistes widerspiegelt. Wo sich Proteus scheinbar in einen Löwen verwandelt, spiegelt er Menelaos dessen eigenen Mut und Stärke, vielleicht auch seine Überheblichkeit. Die Schlange konfrontiert Menelaos möglicherweise mit seinen kalten Gedanken, die sich winden und zu entgleiten suchen. Als Panther ist es vielleicht eine Seite an ihm, die schlecht gelaunt im Dunkel herumschleicht, als Wildschwein könnte ihm ein Teil seiner Rohnatur begegnen, die nur Angst einjagen kann, das fließende Wasser vergegenwärtigt wohl die veränderliche Natur des unsteten Geistes, der Baum schließlich den verästelten Wirrwarr von Gedanken, Meinungen und Haltungen.
    Nicht, dass Menelaos im Augenblick des Ringkampfes erkennen könnte, dass er eine Begegnung mit sich selber hat. Der Schreck wäre ihm noch tiefer in die Glieder gefahren, und er hätte abgelassen, hätte die Flucht ergriffen, was zu der Spiegelung geführt hätte, dass Proteus sich entzieht. Menelaos hätte also wohl verloren, hätte er begriffen, dass er sich selbst in der Hand hat. Denn gegen die eigene Natur anzukämpfen, gehört schon zu den schwierigsten Dingen im Leben, eine noch größere Herausforderung ist es aber, diese Natur - gleichsam in der Umarmung - nur wahrzunehmen und seinzulassen, bis sie sich auflöst. Und weil oft der größte Mut nicht ausreicht, solches mit vollem Bewusstsein tun zu wollen, sind in diesem Fall eben auch Tricks und Listen erlaubt, die Vernunft des eigenen Egos zu hintergehen. Die Absicht dahinter ist rein. Es geht darum, zum wahren, eigentlichen Kern vorzudringen: Der ist die göttliche Vernunft, derjenige Logos, von dem die alten Griechen sagten, dass die Menschen ihn mit den Göttern gemein haben.
    Begegnung mit dem Selbstbildnis
    Menelaos ist nach der unbewussten Begegnung mit seinen Selbstbildern und Gedankenbildern so gut trainiert, dass er, vielleicht auch blind, das Steuer nicht aus der Hand gibt und an seinem eigentlichen Kurs festhält. Nur deshalb erfährt er in diesem Moment die Kristallisation seines Denkens, das klar und einsichtig geworden ist. Keine Ausflüchte und Vorwände mehr, keine Schleichwege oder Egotrips des Geistes. Indem Menelaos sich selbst nicht mehr im Wege steht, findet er seine Einsicht. Und weil er einsieht, was ist, wird er sich ohne Widerrede danach ausrichten.
    Ja, aber was war denn nun sein schlimmes Vergehen, das ihn überhaupt in diese Sackgasse gebracht hatte? Er hätte vielleicht selber darauf kommen können. In der Sage ist es Proteus, der ihm sein Versäumnis aufdeckt: Bei der Abfahrt von Troja hat Menelaos Zeus und den anderen Göttern keine vollgültigen Opfer dargebracht. Das ist es. Darum steckt er fest und findet den Heimweg nicht. Deshalb soll er nun nach Ägypten zurückfahren und dort dieses nachholen. Menelaos wird das Herz zwar eng bei dem Gedanken, dass er wieder zurück nach Ägypten muss, aber er ist verständig geworden. Er fängt nicht an, sich zu rechtfertigen, weshalb er keine gültigen Opfer gespendet hat, und ebenso wenig verhandelt er darüber, dass es doch auch ausreichen würde, die Opfer dann darzubringen, wenn er wohlbehalten in seiner Heimat angelangt ist. Nein, er fügt sich - unumwunden - in die Notwendigkeit, die ihm seine Erkenntnis bringt.
    Wiederfinden der göttlichen Vernunft
    Ohne die Isolation auf der Insel, wo die Winde von Anfang an durchaus in die richtige Richtung geweht haben, und ohne die Unterweisungen der Eidothea beziehungsweise des Proteus hätte Menelaos seine Einsicht - als das Wissen, das er ja immer schon hatte - nicht gefunden. Und so bekennt er vor Telemachos, dem er sein Abenteuer erzählt, seine wiedergefundene Einsicht: "Wollen doch aber die Götter immer, dass man sich ihrer Gebote erinnere!" Es ist das Wiederfinden der göttlichen Vernunft, die Einstimmung und Übereinstimmung damit, die Menelaos erst wahrhaftig heimkehren lässt, indem sie ihn an seinen göttlichen Ursprung rückbindet. Und daher ist es auch ein Wassergott, Proteus, der als eine der ältesten Gottheiten daran erinnert, dass es stets besser ist, mit dem Göttlichen in Fühlung zu bleiben. - Dieses Göttliche, das nicht nur außerhalb von einem selbst, sondern auch in einem selbst gegenwärtig ist. Insofern lässt sich die Proteussage auch als eine Variante des berühmten delphischen Spruches lesen, indem das proteische Wasserorakel dem Suchenden den Spiegel des "Erkenne dich selbst!" hinhält.
    Proteus oder das wissend sagende Wasser erweist sich in dieser Mythe auch als ein Spiegel, der einfach nur wiedergibt, was ist. Am Beispiel der Taufhandlung haben wir gesehen, wie sich das stille Wasser als reine Aufmerksamkeit zeigt und sein Wissen bewahrt, ebenso wie es dieses dem Menschen als Körpergedächtnis einschreiben kann. Mit Proteus tritt das Wasser sprechend hervor und bildet das Medium, das nun die Aufmerksamkeit und bewusste Wachheit des Menschen schult, insbesondere den Worten und Erscheinungen gegenüber. Doch wie jede wahrhaftige Weisheit drängt auch das göttliche Wasser sein Wissen nicht auf, und spricht sich wenn, nur leise aus.
    Oya Erdoğan ist 1970 in Akyazı in der Türkei geboren. Sie studierte Philosophie und Orientalistik in Wien und lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Istanbul. Ihr philosophischer Text Wasser, über die Anfänge der Philosophie erschien im Jahr 2003. Der Essay , den Sie heute in der Sendereihe „Wasserzeichen" hören, stammt aus dem Jahr 2006.