Dienstag, 07. Mai 2024

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Reise ans Ende der Nacht

Den "unsympathischsten Klassiker der französischen Moderne" hat man ihn genannt. Seit seinem Debüt "Reise ans Ende der Nacht" weckte der wilde Poet ebensoviel Abscheu wie Bewunderung. Die Jury des Prix Goncourt strich das ästhetisch und moralisch explosive Werk, für das sich der Arzt Louis-Ferdinand Destouches das Pseudonym Céline zugelegt hatte, von der Nominierungsliste. Dennoch ahnte man damals, 1932, noch nicht, welche politischen Skandale das neugeborene enfant terrible der Literatur heraufbeschwören würde. Neun Jahre später notierte der Wehrmachtsoffizier Ernst Jünger pikiert in seinem Pariser Tagebuch, wie sich Céline die deutsche Judenjagd wünschte:

Dorothea Dieckmann | 21.07.2003
    Wenn die Bolschewiken in Paris wären, sie würden [...] Ihnen zeigen, wie man Quartier für Quartier und Haus für Haus die Einwohnerschaft durchkämmt. Wenn ich die Bajonette hätte, ich würde wissen, was ich zu tun hätte.

    In den "Stahlgewittern" des 1. Weltkriegs standen die beiden hochumstrittenen Männer auf gegnerischen Seiten, der sprachgewaltige preußische Militär und das noch unbekannte Genie aus Frankreich, ein Kriegsfreiwilliger, der als leidenschaftlicher Antimilitarist zurückkehrte. Die flandrische Front ist die erste Station seiner "Reise ans Ende der Nacht." Célines alter ego Bardamu, deutsch etwa "Sturmgepäck", schlägt sich unter seiner namengebenden Last durch die Hölle des Krieges. In der bisherigen Übersetzung klang das so:


    ... man tappte im Dunkel durch die buckligen Dorfgassen ohne Licht und ohne Gesicht, keuchte unter Säcken, die schwerer wogen als ein Mensch [...], ohne Hoffnung, daß das ein andres Ende nehmen könnte als in der Jauche, unter Drohungen und voller Ekel davor, daß man sich von einem Haufen bösartiger Narren hatte bis aufs Blut peinigen und hineinlegen lassen, von Narren, die plötzlich zu nichts andrem mehr imstande waren, als zu morden, ohne zu wissen warum, und sich ihrerseits abschlachten zu lassen.

    Dieselbe Stelle liest sich nun in neuer Übertragung folgendermaßen:

    ... wir tasteten uns über die buckligen Gassen des licht- und gesichtslosen Dorfs, unter Säcken gekrümmt, die schwerer waren als ein Mann [...], absolut ohne jede andere Hoffnung, als in der Drohung zu enden, der Jauche, dem Ekel, daß wir uns hatten foltern lassen, bis aufs Blut bescheißen lassen von einer Bande bösartiger Irrer, die mit einmal alle miteinander zu nichts anderem in der Lage waren, als zu morden und sich den Bauch aufschlitzen zu lassen, ohne zu wissen warum.

    Worin sieht Hinrich Schmidt-Henkel, der das Meisterwerk neu übersetzte, den Unterschied zur Sprache der bisherigen Fassung?

    Die alte Übersetzung ist erstens alt, d.h. man merkt ihr deutlich an, daß sie 70 Jahre alt ist, und das ist eine Zeit, nach der eine Neuübersetzung sich sowieso anbietet. Zweitens war sie schon zum Zeitpunkt ihres Erscheinens alt, in dem Sinn, daß sie unnötig viele Komplikationen, Umständlichkeiten aufwies, die immer eine Hürde zwischen dem Leser und dem Text aufgebaut haben. Vor allem vermeidet die deutsche Fassung von 1933 alle Schärfen, alle Brisanzen, die Célines Original aufweist, und die sind weiß Gott nicht wenig. Nicht nur im Vulgären, sondern in jeder Form von sprachlicher Übertreibung. In der Metaphorik, im Inhalt, in der Bildlichkeit, im Jargonhaften, in der ironischen Übersteigerung von Hochsprache, von Wissenschaftler-Hochsprech: In alle Richtungen flitzt das unglaublich weg, und all diese Spitzen hat die alte Übersetzung gekappt.

    "Sieh an! Die Reise wird wieder losgeschickt", schrieb Céline im Vorwort zur französischen Neuauflage des Buches. Wie notwendig ein zweiter Anlauf auch im Deutschen war, dokumentiert die Geschichte der alten Übersetzung, die eng mit der politischen verbunden war: Die Rede von einer Wiedergeburt des Romans in unserer Sprache ist keine Übertreibung.

    Nun, 32 ist "Voyage au bout de la nuit" erschienen und wurde sofort übesetzt von Isak Grünberg, einem in Paris lebenden österreichischen Journalisten, im Auftrag des Piper Verlags. 33 sollte sie erscheinen, erschien aber nicht. Dazwischen lag Hitlers Machtergreifung. Man darf durchaus dem Verlag unterstellen, daß er in vorauseilendem Gehorsam ein so antiheldisches Buch nicht bingen wollte. Und in der Tat haben die Nazis auch Célines Romane auf eine Liste des, wie es hieß, "schädlichen und unerwünschten Schrifttums" gesetzt. Die Übersetzung wurde verkauft, die Rechte auch, an einen Verlag Julius Kittls Nachfolger in Mährisch-Ostrau, und dort hat man ganz offensichtlich das Buch an verschiedene Bearbeiter gegeben, die Isak Grünbergs Übersetzung und darüber hinaus Célines Original verstümmelt und verfälscht haben, beschnitten haben. Wenn man diese Fassung und das Original genau vergleicht, kann man fast auf die Seite genau sehen, wo die Bearbeiter gewechselt haben, weil bestimmte Sprachmarotten sich ändern, weil bestimmte Arten und Weisen, in den Text einzugreifen, sich ändern. Und zwar jetzt nicht nur in die Sprache, in das Übersetzerische, sondern bis tief in den Körper des Textes hinein, d.h. daß auch Célines Roman selbst von diesen Bearbeitern beschnitten wurde, und man tatsächlich sagen kann: Er hat bis heute nicht auf deutsch vorgelegen. So hart muß man das sagen.

    Obwohl Céline in den nachfolgenden Romanen seinen Stil beträchtlich radikalisiert hat, ist schon der Erstling – in der Formulierung von Hanns Grössel, einem der wenigen deutschen Céline-Kenner – ein "rabiater Bruch mit den früheren Anschauungs- und Ausdrucksformen der Literatur ..., wie im 19. Jahrhundert die Romane Èmile Zolas". Ein "Delirium" nannte ihn der Autor selbst. Seine Schreibweise ziele auf "Emotion" und "Erschütterung":

    Die Worte von heute, wie auch unsere Musik, reichen weiter als zur Zeit Zolas. Wir arbeiten jetzt mit der Sensibilität und nicht mehr mit der Analyse, insgesamt gesehen ‚von innen heraus.

    In der Integration von Umgangssprache und argot sah Céline selbst die Neuerung seines Schreibens. Ihm ging es jedoch nicht um ein naturalistisches Programm, sondern um eine Revolution des poetischen Stils: Mischung und Kontrast, Zertrümmerung und Neuschöpfung verschiedenster Formelemente, rabiat und hasserfüllt, burlesk und irrwitzig, hochpoetisch und tieftraurig. Doch der anarchische Literat ist auch ein ideologischer Tabubrecher. Die sogenannten "linken" Themen der "Reise", die brutale Entblößung von Krieg, Kolonialismus, Kapitalismus und Verelendung, verschwistern sich mit einem sogenannten "rechten" Kulturpessimismus; vielleicht war Célines Weg in einen wahnwitzigen Rassismus deshalb so kurz. Die radikale Daseins- und Zivilisationskritik, die in Frankreich seit Rousseau Tradition hat, äußert sich im Roman etwa so:

    Wir müssen noch viel schlimmer als ein Hund sterben [...], tausend Minuten lang, und jede Minute wird neu sein und genug Angst mitbringen, daß man tausendmal das vergißt, was man in tausend Jahren an Vergnügen im Bett erlebt hat ... Das Glück auf Erden wäre, wenn man mit Genuß sterben, sterbend genießen würde ... Der Rest ist nichts, es ist nur die Angst, die man sich einzugestehen wagt, es ist Kunst.

    Kunst also als Ausdruck existentieller Angst? Der misanthropische Provokateur Michel Houellebecq, zu dessen Übersetzern Hinrich Schmidt-Henkel gehört, drückt sich da etwas simpler aus: "Kultur [...], das ist Scheiße, aber nicht schlecht; jeder ist auf sein eigenes Nichts zurückgeworfen." Hier wie dort eine Untergangsstimmung, die typisch ist für die kulturelle Desillusionierung der Moderne. Ist es gerechtfertigt, einen Kultautor wie Houellebecq, der einmal als "Trüffelschwein für Verletzungspotentiale" bezeichnet wurde, in die Tradition von Céline zu stellen?

    Ich denke wohl, daß man Michel Houellebecq thematisch durchaus in die Nachfolge von Céline stellen kann. Aber er ist natürlich, wenn es ans Sprachliche, ans Literarische geht – nicht unbedingt das Erzählerische, aber das Sprachliche – ist er natürlich ein müder Abklatsch. Er hat diese unglaubliche sprachliche Energie und vor allem die sprachliche Innovationskraft, die Céline zeit seines Lebens ans Licht gelegt hat – die hat Houellebecq nicht. Es wird keinen geben, der sich bemühen wird oder auch nur bemühen könnte, wie Houellebecq zu schreiben, weil jeder so schreiben kann wie Houellebecq. Aber viele bemühen sich und versuchen, so wie Céline zu schreiben, und keinem gelingt es.

    Die Attitüde des schwarzen Antipoeten macht jedenfalls noch keinen Céline. Er, der verwegene Querulant mit dem theatralisch-narzißtischen Naturell, hat in Leben und Schreiben die widersprüchlichsten Extreme durchlaufen. Populistischer Rassist und Sozialist, zwielichtiger Pamphletist und genialer Spracherneuerer, ist er seine eigene "Reise in die Nacht" bis ans Ende gegangen. Mit der neuen, kongenial rhythmischen und sprachschöpferischen, erstmalig vollständigen Übersetzung dieses fulminanten Sprachkunstwerks können deutschsprachige Leser endlich Célines erste literarische Strecke auf diesem Höllenweg lückenlos mitverfolgen.

    Die alte Übersetzung ist erstens alt, d.h. man merkt ihr deutlich an, daß sie 70 Jahre alt ist, und das ist eine Zeit, nach der eine Neuübersetzung sich sowieso anbietet. Zweitens war sie schon zum Zeitpunkt ihres Erscheinens alt, in dem Sinn, daß sie unnötig viele Komplikationen, Umständlichkeiten aufwies, die immer eine Hürde zwischen dem Leser und dem Text aufgebaut haben. Vor allem vermeidet die deutsche Fassung von 1933 alle Schärfen, alle Brisanzen, die Célines Original aufweist, und die sind weiß Gott nicht wenig. Nicht nur im Vulgären, sondern in jeder Form von sprachlicher Übertreibung. In der Metaphorik, im Inhalt, in der Bildlichkeit, im Jargonhaften, in der ironischen Übersteigerung von Hochsprache, von Wissenschaftler-Hochsprech: In alle Richtungen flitzt das unglaublich weg, und all diese Spitzen hat die alte Übersetzung gekappt.