40 Jahre lang durchquerte der polnische Journalist Ryszard Kapuściński als Korrespondent alle Kontinente, um den Funktionsmechanismen von Imperien und Diktaturen nachspüren. Weltweit beachtet, wurde er in seiner Heimat als Stimme des kleinen Volkes im Schatten der Sowjetunion fast wie ein Heiliger verehrt. Dass er als Pole dann den Niedergang des übermächtigen Nachbarn protokollierte, erfüllte viele seiner Landsleute mit Genugtuung:
Die Deutschen sprechen von Zeitgeist. Der Augenblick, in dem sich dieser Zeitgeist, der eben noch traurig und apathisch wie ein nasses Vöglein auf einem Zweig hockte, plötzlich und ohne ersichtlichen Grund zum kühnen und freudigen Flug emporschwingt, ist faszinierend und hoffnungsspendend zugleich. Wir alle können das Rauschen dieses Fluges hören. Er weckt unsere Fantasie und verleiht uns Kraft: Und wir beginnen, zu handeln.
Doch heute, drei Jahre nach seinem Tod, ist sein Image angekratzt. Sein junger Kollege Artur Domosławski legte im Frühling dieses Jahres eine Biografie vor, die den Jahrhundertjournalisten in anderem Licht erscheinen lässt. Neben der Nähe zum Regime ist es vor allem der Vorwurf, in Reportagen Ereignisse frei erfunden zu haben. Beweise dafür findet Domosławski auch in Imperium. Darin beschreibt Kapuściński, wie sein Vater vor jenem sowjetischen Gefangenentransport fliehen konnte, der polnische Offiziere in die Exekutionsstätte Katyń brachten. Doch Domosławski fand heraus, in sowjetischer Gefangenschaft war der Vater nie gewesen. Kapuścińskis literarisches Können jedoch bleibt unbestritten: Unerreicht etwa seine Beschreibung der ehemaligen GULAG-Stadt Magadan im Nordosten Sibiriens. In den schmalen, vom Schnee freigeschaufelten Gängen werden bei Kapuściński aus kurzen Begegnungen Lebensschicksale:
Manchmal stehe ich so Aug in Aug mit einem älteren Mann. Dann stelle ich mir jedesmal die Frage: Und wer warst du? Henker oder Opfer? ... Wenn ich jedoch den Mut aufbringen und ihn fragen würde, dann bekäme ich zur Antwort: "Wissen Sie, Sie haben sowohl einen Henker als auch ein Opfer vor sich." Auch das war ein Merkmal des Stalinismus - dass man diese beiden Rollen oft nicht trennen konnte. (...) Es war ein geschlossener Kreislauf, aus dem es nur einen Ausweg gab - den Tod. Ein schreckliches Spiel, bei dem alle verloren.
Was gemeinhin als Peripherie vernachlässigt wird, rückt Kapuściński ins Zentrum der Beobachtung. Etwa ein namenloser Flughafen, bei dem er bei einer Recherche am Polarkreis unverhofft strandet. Wann die Reise weitergeht, ist nicht klar. Doch in dem überfüllten, überheizten und ungelüfteten Wartesaal regt sich bei seinen Mitreisenden kein Unmut. Seiner Frage, wann es weiter gehe, begegnen die Wartenden mit Misstrauen. Der Autor sucht nach Erklärungen:
Zweifellos hat der Befragte recht, wenn er den Fragenden einen Dummkopf nennt. Denn all seine Erfahrung lehrt ihn, dass es zwecklos ist, Fragen zu stellen (...), dass es, im Gegenteil, sogar sehr gefährlich sein kann, Fragen zu stellen, weil der Mensch, der sie stellt, großes Unglück auf sich ziehen kann (...) Wie viele haben sich damit die Karriere ruiniert? Wie viele die Arbeit verloren? Wie viele ihr Leben? (...) In der Folge gab es im Imperium immer weniger Menschen, die Fragen stellten, und überhaupt immer weniger Fragen (...) Doch eine Zivilisation, die keine Fragen stellt, die alle Unruhe, alle Kritik, alles Suchen - die ja in Fragen ihren Ausdruck finden - aus ihrem Gesichtskreis verbannt, ist eine Zivilisation, die stillsteht, die gelähmt ist, sich nicht bewegt. Und genau das wollten die Menschen im Kreml, denn eine unbewegte, stumme Welt ist am leichtesten zu regieren.
Die außergewöhnliche Tiefenschärfe seiner Schilderungen zeichnen die Reportagen Kapuściński aus. Hier aber setzt auch die Kritik an. Besonders Nationalkonservative warfen ihm vor, das Leid der Polen unter der Sowjetmacht nicht stärker zu betonen. Trotz der oft emotional geführten Diskussion in seiner Heimat: Wer mit Ryszard Kapuściński auf Reisen geht, erfährt seine Analysen über Zusammenhänge und Auswirkungen des Machtzerfalls auch 17 Jahre nach Veröffentlichung noch als erstaunlich aktuell. Dass er auch hier die Realität ab und zu mit literarischen Elementen verstärkt haben wird, tut dem Lesevergnügen selbst keinen Abbruch. Zumal er selbst zu Lebzeiten seine Arbeit als literarische Reportagen oder schlicht als Texte bezeichnete. Leser, die das im Hinterkopf behalten, können sich auf das konzentrieren, was Kapuściński wirklich ausmacht: seinen souveränen Blick für die tiefgreifenden Veränderungen in einer Großmacht.
Richard Kapuscinski: "Imperium – Sowjetische Streifzüge". Das Buch gibt es bei Eichborn, 432 Seiten kosten 24 Euro 90, ISBN: 978-3-82184-707-8.
Die Deutschen sprechen von Zeitgeist. Der Augenblick, in dem sich dieser Zeitgeist, der eben noch traurig und apathisch wie ein nasses Vöglein auf einem Zweig hockte, plötzlich und ohne ersichtlichen Grund zum kühnen und freudigen Flug emporschwingt, ist faszinierend und hoffnungsspendend zugleich. Wir alle können das Rauschen dieses Fluges hören. Er weckt unsere Fantasie und verleiht uns Kraft: Und wir beginnen, zu handeln.
Doch heute, drei Jahre nach seinem Tod, ist sein Image angekratzt. Sein junger Kollege Artur Domosławski legte im Frühling dieses Jahres eine Biografie vor, die den Jahrhundertjournalisten in anderem Licht erscheinen lässt. Neben der Nähe zum Regime ist es vor allem der Vorwurf, in Reportagen Ereignisse frei erfunden zu haben. Beweise dafür findet Domosławski auch in Imperium. Darin beschreibt Kapuściński, wie sein Vater vor jenem sowjetischen Gefangenentransport fliehen konnte, der polnische Offiziere in die Exekutionsstätte Katyń brachten. Doch Domosławski fand heraus, in sowjetischer Gefangenschaft war der Vater nie gewesen. Kapuścińskis literarisches Können jedoch bleibt unbestritten: Unerreicht etwa seine Beschreibung der ehemaligen GULAG-Stadt Magadan im Nordosten Sibiriens. In den schmalen, vom Schnee freigeschaufelten Gängen werden bei Kapuściński aus kurzen Begegnungen Lebensschicksale:
Manchmal stehe ich so Aug in Aug mit einem älteren Mann. Dann stelle ich mir jedesmal die Frage: Und wer warst du? Henker oder Opfer? ... Wenn ich jedoch den Mut aufbringen und ihn fragen würde, dann bekäme ich zur Antwort: "Wissen Sie, Sie haben sowohl einen Henker als auch ein Opfer vor sich." Auch das war ein Merkmal des Stalinismus - dass man diese beiden Rollen oft nicht trennen konnte. (...) Es war ein geschlossener Kreislauf, aus dem es nur einen Ausweg gab - den Tod. Ein schreckliches Spiel, bei dem alle verloren.
Was gemeinhin als Peripherie vernachlässigt wird, rückt Kapuściński ins Zentrum der Beobachtung. Etwa ein namenloser Flughafen, bei dem er bei einer Recherche am Polarkreis unverhofft strandet. Wann die Reise weitergeht, ist nicht klar. Doch in dem überfüllten, überheizten und ungelüfteten Wartesaal regt sich bei seinen Mitreisenden kein Unmut. Seiner Frage, wann es weiter gehe, begegnen die Wartenden mit Misstrauen. Der Autor sucht nach Erklärungen:
Zweifellos hat der Befragte recht, wenn er den Fragenden einen Dummkopf nennt. Denn all seine Erfahrung lehrt ihn, dass es zwecklos ist, Fragen zu stellen (...), dass es, im Gegenteil, sogar sehr gefährlich sein kann, Fragen zu stellen, weil der Mensch, der sie stellt, großes Unglück auf sich ziehen kann (...) Wie viele haben sich damit die Karriere ruiniert? Wie viele die Arbeit verloren? Wie viele ihr Leben? (...) In der Folge gab es im Imperium immer weniger Menschen, die Fragen stellten, und überhaupt immer weniger Fragen (...) Doch eine Zivilisation, die keine Fragen stellt, die alle Unruhe, alle Kritik, alles Suchen - die ja in Fragen ihren Ausdruck finden - aus ihrem Gesichtskreis verbannt, ist eine Zivilisation, die stillsteht, die gelähmt ist, sich nicht bewegt. Und genau das wollten die Menschen im Kreml, denn eine unbewegte, stumme Welt ist am leichtesten zu regieren.
Die außergewöhnliche Tiefenschärfe seiner Schilderungen zeichnen die Reportagen Kapuściński aus. Hier aber setzt auch die Kritik an. Besonders Nationalkonservative warfen ihm vor, das Leid der Polen unter der Sowjetmacht nicht stärker zu betonen. Trotz der oft emotional geführten Diskussion in seiner Heimat: Wer mit Ryszard Kapuściński auf Reisen geht, erfährt seine Analysen über Zusammenhänge und Auswirkungen des Machtzerfalls auch 17 Jahre nach Veröffentlichung noch als erstaunlich aktuell. Dass er auch hier die Realität ab und zu mit literarischen Elementen verstärkt haben wird, tut dem Lesevergnügen selbst keinen Abbruch. Zumal er selbst zu Lebzeiten seine Arbeit als literarische Reportagen oder schlicht als Texte bezeichnete. Leser, die das im Hinterkopf behalten, können sich auf das konzentrieren, was Kapuściński wirklich ausmacht: seinen souveränen Blick für die tiefgreifenden Veränderungen in einer Großmacht.
Richard Kapuscinski: "Imperium – Sowjetische Streifzüge". Das Buch gibt es bei Eichborn, 432 Seiten kosten 24 Euro 90, ISBN: 978-3-82184-707-8.