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Repertoire abseits der ausgetretenen Pfade

Gassenhauer, Opernabende oder sperriges Liedgut. Der Münchner Bariton Christian Gerhaher ist vielseitig und weiß sein Publikum zu begeistern. Jetzt hat er eine CD mit romantischen Arien veröffentlicht, die jedoch mehr bietet als Herzschmerz und Wohlklang.

Moderation: Jochen Hubmacher | 20.01.2013
    Sollte der Liederabend das 21. Jahrhundert nicht überleben, dann hat es nicht an Christian Gerhaher gelegen. Der Münchner Bariton gehört zu den wenigen Sängern im internationalen Klassikbetrieb, die auch mit vermeintlich sperrigen Liedprogrammen große Konzertsäle füllen. In jüngster Vergangenheit begeisterte Gerhaher sein Publikum zudem immer öfter auf der Opernbühne. Nach etlichen äußerst erfolgreichen CD-Veröffentlichungen im Kunstlied-Bereich ist nun als logische Folge beim Label Sony seine erste Solo-CD mit Opernarien erschienen.

    "O Du mein holder Abendstern"
    K: Richard Wagner
    aus: Tannhäuser
    CD Tr. 7


    "Romantische Arien" – der CD-Titel gibt die Richtung vor: Bariton Christian Gerhaher konzentriert sich auf hochromantisch-deutsches Repertoire. Wolframs "Lied an den Abendstern" aus Richard Wagners Tannhäuser bleibt jedoch der einzig wirkliche Gassenhauer, der sich auf seiner Arien-CD findet. Gerhaher kann es sich inzwischen offenbar leisten auch bei einem Major-Label wie Sony, Repertoire abseits der ausgetretenen Pfade aufzunehmen. Für das Publikum ist das ein Glücksfall, denn es bekommt nicht nur Raritäten sondern auch eine Weltpremiere serviert.

    Eine noch nie auf CD veröffentlichte Arie aus Otto Nicolais Oper "Die Heimkehr des Verbannten". Der klingende Beweis dafür, dass der Weg zu einer genuin deutschen Oper im 19. Jahrhundert mitunter über Italien führte. Nicolai verbrachte etliche Jahre als Organist in Rom und lernte dabei das italienische Opernrepertoire aus erster Hand kennen. Schließlich komponierte er selbst für italienische Opernhäuser. Otto Nicolais "Il Proscritto" etwa wurde 1841 in Mailand uraufgeführt. Nach einigen Umarbeitungen entstand daraus unter dem Titel "Die Heimkehr des Verbannten" ein Stück für die Wiener Hofoper.

    Schon der kleine Ausschnitt, den Christian Gerhaher auf seiner CD aufgenommen hat, lässt Zweifel am Urteil des berühmt-berüchtigten Musikkritikers Eduard Hanslick aufkommen: Der meinte, dass Otto Nicolais italienische Opern reine Talentverschwendung gewesen seien. Hector Berlioz äußerte sich dagegen geradezu überschwänglich über die "Heimkehr des Verbannten": "Wer diese Oper gehört habe, könne nicht zweifeln, dass Nicolai zu den größten Komponisten der Gegenwart gehöre."

    Die Wahrheit dürfte wohl irgendwo in der Mitte liegen.

    "Verfehmt kehrt er ins Heimatland"
    K: Otto Nicolai
    aus: Die Heimkehr des Verbannten
    CD Tr. 4


    Im Booklet der CD von Christian Gerhaher sind dankenswerterweise sämtliche Arien-Texte abgedruckt. Ein bei vielen Plattenlabels inzwischen nicht mehr selbstverständlicher Service. In diesem speziellen Fall wäre er freilich nicht zwingend nötig gewesen. Denn bei Christian Gerhaher kann man das Libretto getrost zur Seite legen. Er gehört zu der Kategorie Sänger, die neben einer wunderschön ausgewogen timbrierten Stimme auch über eine makellose Diktion verfügen.

    "Meine Ansicht ist, dass die deutsche Sprache unbedingt von einer klanglichen Durchdringung abhängig ist in ihrer Verständlichkeit. Klanglich meine ich jetzt die Vokalklänge. Wen die nicht stimmen und zwar ganz exakt stimmen, dann wird die Sprache immer auf etwas verzichten müssen, was man gerne hat als Zuhörer, nämlich auf eine unmittelbare Verständlichkeit. Die unmittelbare Verständlichkeit ist abhängig von der richtigen Differenziertheit der Vokalfarben und die Konsonanten kommen dann hinzu. Man kann also durch "Konsonantenspucken" eine deutsche Sprache nicht besser verständlich machen."

    Soweit die Theorie – was Christian Gerhaher, der sich selbst freimütig als Epigone Dietrich Fischer-Dieskaus bezeichnet, in der Praxis darunter versteht, macht dieser Ausschnitt aus Carl Maria von Webers Oper "Euryanthe" deutlich.

    "So weih ich mich den Rach’gewalten"
    K: Carl Maria von Weber
    aus: Euryanthe
    CD Tr. 8


    Der Begriff "Begleitung" wäre eine Untertreibung, angesichts der hochkarätigen Mitstreiter, die Christian Gerhaher auf seiner Arien-CD hinter sich weiß.

    Mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Daniel Harding steht ihm ein Ensemble der Luxusklasse zur Seite. Es rollt dem Bariton den "roten Klangteppich" aus und erlaubt seiner Stimme feinste Schattierungen, die sich Sänger oft nur in der intimen Atmosphäre eines Liederabends leisten können. Wie gemacht für den begnadeten Liedinterpreten Christian Gerhaher sind die drei Opernarien Franz Schuberts, die sich auf der CD befinden. Darunter zwei aus "Alfonso und Estrella". Eine Anfang der 1820er Jahre entstandene Oper, die zunächst dem Zeitgeschmack zum Opfer fiel.

    Denn noch war in Schuberts Heimat Wien hauptsächlich italienisches Repertoire gefragt. Erst rund 30 Jahre nach Schuberts Tod führte Franz Liszt das Werk erstmals auf. Seinen Weg ins Standardrepertoire hat es bis heute nicht gefunden. Christian Gerhaher singt aus "Alfonso und Estrella das "Lied an das Wolkenmädchen", das es mit einem Umweg doch noch zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hat. Denn es taucht als Zitat im Lied "Täuschung" in Schuberts "Winterreise" auf.

    "Der Jäger ruhte hingegossen"
    K: Franz Schubert
    aus: Alfonso und Estrella
    CD Tr. 6


    Romantische Arien aus dem deutschsprachigen Opernrepertoire habe ich Ihnen heute vorgestellt. Grandios interpretiert von Bariton Christian Gerhaher und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Daniel Harding. "Romantische Arien", so lautet auch der Titel dieser CD, die kürzlich beim Label Sony erschienen ist.

    Vorgestellte CD:
    Romantische Arien
    Christian Gerhaher, Bariton
    Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
    Ltg.: Daniel Harding
    Label: Sony
    Bestell-Nr.: 88725422952
    LC:06868