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Rhythmische Sportgymnastik
Karriere verwirkt und Gutes bewirkt?

Die Rhythmische Sportgymnastin Katja Luschik hat im Nationalmannschaftzentrum Ungeheuerliches erlebt: Beleidigungen, Schläge, Essensentzug. Ihre Erfahrungen machte sie öffentlich. Die Mutter erstattete Anzeige gegen die Teamchefin und die Bundestrainerin der deutschen Gruppengymnastik. Das Landeskriminalamt Baden-Württemberg ermittelt wegen des Verdachts auf Misshandlung Schutzbefohlener. Beide Trainerinnen, so lässt der Deutsche Turner-Bund wissen, bestreiten alle Vorwürfe. Es stehe Aussage gegen Aussage.

Von Sandra Schmidt | 16.08.2014
    In der Frankfurter Turnschule klebte vor Jahrzehnten ein Plakat mit der Aufschrift: "Ein Talent ist, wer das Training durchhält." Das wirkt heute wie ein Spruch aus längst vergangenen Zeiten. Nicht aber, wenn man Katja Luschiks Erzählung hört. Ihren persönlichen Wendepunkt nach vier Monaten im Nationalmannschaftszentrum der Rhythmischen Sportgymnastik im schwäbischen Schmiden benennt sie klar:
    "Nach so einem Wettkampf in Stuttgart, als ich da noch krank geworden bin und meine Mama da war, weil dort haben sie mir auch so verschreibungspflichtige Tabletten gegeben und da hab' ich gedacht, jetzt ist Schluss. Aber dann habe ich noch zwei Monate durchgehalten. "
    Das Antibiotikum russischer Herkunft, welche die beiden Trainerinnen ihr eigenmächtig kurz vor dem Weltcup in Stuttgart verabreichen wollten, obwohl ein Arzt am Vortag nichts dergleichen verschrieben hatte, ist letztlich nur ein Aspekt der Geschichte, wenn auch ein ungeheuerlicher.
    Katja Luschik wollte unbedingt. Unbedingt in die Nationalmannschaft der Rhythmischen Sportgymnastik. Sie hatte zehn Jahre lang hart trainiert und – wie so viele junge Sportler – den Traum von Olympischen Spielen. Bei den internationalen Turnieren im Frühjahr, bei denen Katja im Team stand, gab es die besten Ergebnisse seit langem. Im Gegenzug galt es viel zu ertragen: bis zu sieben Stunden Training am Stück, Geschrei und Erniedrigungen à la "dicke Schlampe" oder "Du kannst nichts, Du bist ein Niemand!", Essensentzug und mehrmaliges Wiegen, all das tagein tagaus.
    Der neue Stützpunktleiter Michael Breuning sagt nun, es sei eine seiner Hauptaufgaben,
    "die gesamte Trainingsarbeit auf die Bedingungen in unserer Gesellschaft abzustimmen. Ich sag's mal so mit einem Wort, das Credo der Sportart zu entwickeln das ist natürlich schon eine Geschichte, die macht man nicht in einer Woche."
    Von der Sowjetunion geprägt und beherrscht
    Wohl wahr. Die Frage ist nur: Welchem Credo folgte diese Sportart, die immerhin seit 30 Jahren olympisch ist, denn im Schmidener Bundesstützpunkt bislang? Sicher ist, dass die RSG weltweit von Trainerinnen, Kampfrichterinnen und Funktionären beherrscht wird, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammen. Seit 2000 gingen alle Olympiasiege an Russland. DTB-Sportdirektor Wolfgang Willam sagt folgerichtig, in den ex-sowjetischen Staaten seien "Trainerqualitäten" entwickelt worden, "derer man sich natürlich bedienen sollte, weil sie die absoluten Topqualifikationen haben". Doch zumindest an der pädagogischen Qualifikation der beiden beschuldigten Trainerinnen, die eine aus der Ukraine, die andere aus Weißrussland, darf wohl gezweifelt werden. Katja Luschik:
    "Sie haben zu mir F*** Dich auf Russisch gesagt und ich wusste halt irgendwie nicht, was das bedeutet und als ich zu meiner Mama gefahren bin, das erste Mal nach Halle, und das erzählt habe, da hat meine Mama so geguckt und hat gefragt: Kennst Du das Wort und was das bedeutet? Ich hab' gesagt nein. Und dann hat sie mir das erklärt."
    Familie Luschik kam vor 14 Jahren aus Kiew nach Deutschland, Katja spricht sonst nur mit ihren Eltern russisch, in Schmiden war es die Trainingssprache. Der DTB hat nun angeordnet, dass das Training in deutscher Sprache abzuhalten sei. Und Michael Breuning sagt, er habe die Waage aus der Halle getragen und in einem Schrank verschlossen. Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehören die "Personalführung" und die komplette "Neustrukturierung" von Internatsbetrieb und Betreuungssystem.
    Aufarbeitung ist lästig
    Katja Luschik ist seit Mai wieder in Halle:
    "Ja, es gab mal so eine Phase: Ich will keinen Ball mehr anfassen. Aber dann habe ich ja wieder angefangen und hab' dann Ende Juni Deutsche Meisterschaften geturnt und auch gewonnen. Das fand ich einen tollen Abschluss für die Saison."
    Ihre Heimtrainerin Claudia Marx hatte Katja überzeugt, weiterzumachen. Es macht wieder Spaß, sie liebt ihren Sport. Was in Schmiden gelaufen sei, das versuche sie jetzt eher zu verdrängen. Den einen gilt Katja Luschik jetzt als Nestbeschmutzerin, in der Sportfamilie schaut man ja meist lieber nach vorn, Aufarbeitung ist irgendwie lästig. Michael Breuning hat keine Wahl, er muss handeln. Wenn man Katjas Erzählung und seine Aufgabenbeschreibung vergleicht, passt das auf verblüffende Weise zusammen. Fast scheint es, als schenke der DTB dem Mädchen mehr Glauben als er zugeben mag.
    Ob sich im Nationalmannschaftszentrum in Schmiden wirklich etwas ändert, bleibt abzuwarten. Letztlich geht es hier um sportliche Erfolge – und nichts ist einfacher als eine neue Waage zu kaufen. In fünf Wochen steht die Weltmeisterschaft an, unter Leitung der beschuldigten Bundestrainerin. Der DTB hat ihr, so Wolfgang Willam, das "hundertprozentige Vertrauen" ausgesprochen. Er hat auch kaum eine Wahl, die WM ist der erste Qualifikationsschritt Richtung Rio 2016. Katja Luschik weiß noch nicht, ob sie sich das anschauen will. Den Gymnastinnen in Schmiden wünscht sie:
    "Dass die allgemeine Situation sich dort bessert, und dass sie endlich mal Freude ausstrahlen, dort im Internat auch, und mehr miteinander reden und einfach die Atmosphäre, ja, eine bessere Atmosphäre entsteht."