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Robert Dallek: John F. Kennedy. Ein unvollendetes Leben.

Bernd Greiner über folgende Bücher:

Bernd Greiner |
    Robert Dallek: John F. Kennedy. Ein unvollendetes Leben. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, 2003. Aus dem Amerikanischen von Klaus Binder, Jürgen Leineweber und Peter Torberg, 792 Seiten, 39,90 Euro.

    Howard Jones: Death of a Generation. How the Assassinations of Diem and JFK Prolonged the Vietnam War Oxford University Press, 2003, 562 Seiten, 35 US-Dollar.

    William Taubman: Khrushchev. The Man and His Era Norton, 2003, 876 Seiten, 35 US-Dollar.

    Um kein politisches Attentat ranken sich derart viele Verschwörungstheorien wie um das auf John F. Kennedy. Denen wollen wir nicht nachgehen, doch so mancher Vertreter des alten Establishments mag erleichtert aufgeatmet haben als der charismatische Reformer vor 40 Jahren in Dallas ermordet wurde. Ganz im Gegensatz zum heutigen Präsidenten hatte Kennedy auf Abrüstung und Rüstungsbeschränkung gesetzt. Zwar gelang es den Vertretern der Geheimdienste und des militärisch industriellen Komplexes den Entspannungs- und Erneuerungswillen des jungen Präsidenten einzudämmen, doch Kennedy blieb für die Profiteure des kalten Krieges ein unkalkulierbares Risiko. Vor ähnlichen Problemen standen die alten Herren im Kreml mit ihrem Frontmann Nikita Chruschtschow. Trotz Berlin und Cuba Krise setzte auch der zuweilen auf Entspannung und Abrüstung und wurde auch deshalb nur ein Jahr nach Kennedys Ermordung abgesetzt - "Jack und Nikita - Zwei unvollendete politische Leben"

    Sie prügelten aufeinander ein und vertrugen sich, brachten die Welt an den Rand eines Atomkrieges und stellten ein goldenes Zeitalter des Friedens in Aussicht: John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow. Der eine, tausend Tage im Amt, wurde im November 1963 in Dallas ermordet, der andere wenige Monate später aus dem Amt gejagt. Seither streiten Historiker über die Frage, wie unsere Welt heute aussähe, wenn beide mehr Zeit gehabt hätten, aus ihren Fehlern zu lernen. Drei prominente Autoren setzen sich in ihren neuen Büchern damit auseinander: Howard Jones, Robert Dallek und William Taubman. Es geht dabei nicht um Gedankenexperimente oder um ein Spiel mit nicht beweisbaren Hypothesen. Vielmehr schärft die Debatte über uneingelöste Pläne und Visionen den Blick für das politische Terrain, auf dem die Spitzenpolitiker der beiden Supermächte sich hätten behaupten müssen. Erst das Wissen, ob etwas beendet wurde, was noch nicht zu Ende geführt war, ermöglicht ein in der Tiefe scharfes Bild. Es geht, in anderen Worten, um den Versuch, den historischen Ort zweier unvollendeter politischer Leben zu vermessen.

    Das Urteil über John F. Kennedy scheint klar, wenn wir Howard Jones und Robert Dallek beim Wort nehmen: Nach einem Erdrutschsieg über den republikanischen Herausforderer Barry Goldwater im November 1964 brachte der 34. Präsident der USA eine aus den Fugen geratene Welt wieder ins Lot – Auf der Grundlage des im Jahr davor mit der UdSSR vereinbarten Verbots, Atomwaffen in der Atmosphäre zu testen, wurden zunächst ein Nichtangriffsvertrag mit Moskau und schließlich weitere Abkommen unterzeichnet, die dem Rüstungswettlauf ein Ende bereiteten und ungeheure Mittel zur Investition in Bildung und Wohlfahrt freisetzten – Inspiriert von der sozialdemokratischen Idee eines "Wandels durch Annäherung", nahmen die USA mit der DDR diplomatische Beziehungen auf und ermutigten die Bonner Regierung zur Anerkennung der polnischen Westgrenze – Aus dem "Eisernen Vorhang" wurde allmählich eine für Ideen und Waren durchlässige Grenze, von der keine Kriegsgefahr mehr ausging – Und in Südostasien fand der längste Kolonialkrieg des 20. Jahrhunderts sein Ende – Die letzten amerikanischen Militärberater packten 1965 ihre Koffer und überließen es den Vietnamesen, selbst darüber zu befinden, in welcher Gesellschaftsordnung sie fortan leben wollten. In anderen Worten: Auf der südlichen wie der nördlichen Halbkugel gehörte der Kalte Krieg endgültig der Vergangenheit an.

    Daraus wurde bekanntlich nichts. Und dennoch spricht Einiges für den Mut zu einer riskanten Neuinterpretation von John F. Kennedys Amtszeit. Ehedem ein hart gesottener Kalter Krieger, der in der Sprache eines Joseph McCarthy das Außenministerium für den "Verlust Chinas" und die Regierung Eisenhower aller Evidenz zum Trotz für eine "Raketenlücke" verantwortlich machte, schlug der Präsident nach der Kuba-Krise versöhnliche Töne an. Er distanzierte sich deutlich von den Advokaten eines atomaren "Erstschlages" um den Luftwaffenchef Curtis LeMay und den Marinebefehlshaber Arleigh Burke, die sein Vertrauen ein um das andere Mal missbraucht hatten. Auf Anordnung des Weißen Hauses stellte Verteidigungsminister Robert McNamara in mehreren öffentlichen Auftritten klar, dass die USA Atomwaffen nur zur Vergeltung und damit im "Zweitschlag" einsetzen würden. Insbesondere justierte Kennedy das Verhältnis zu Nikita Chruschtschow neu. An die Stelle einer ins Persönliche gehenden und mit Macho-Allüren aufgeladenen Konfrontation trat fortan das Bemühen um einen von nüchternem Kalkül geleiteten Interessenausgleich. Auf diese Weise wurden binnen weniger Monate bemerkenswerte Fortschritte erzielt – darunter die Einrichtung eines "heißen Drahts" zwischen den Hauptstädten und im Sommer 1963 der bis dato kaum für möglich gehaltene Abschluss eines Abkommens zum Verbot überirdischer Atomversuche.

    Nicht zuletzt sprach sich der Präsident im Kreis seiner Berater wiederholt gegen einen mit amerikanischen Truppen geführten Landkrieg in Südostasien aus. Sollte es nicht möglich sein, für Vietnam ein Neutralitätsabkommen nach dem Vorbild von Laos zu schließen, dann müssten die Südvietnamesen ihre Konflikte selbst austragen. Wie es scheint, dämmerte es Kennedy früher als anderen in Washington, dass die Ausweitung des militärischen Engagements immer auch die Gefahr eines politischen Kontrollverlustes mit sich brachte. Auch aus diesem Grund unterzeichnete er im Oktober 1963 eine Direktive zur nationalen Sicherheitspolitik (NSAM 263), die binnen dreier Monate den Abzug von 1.000 Militärberatern vorsah.

    Andererseits liefern Jones und Dallek Argumente zuhauf, die ihrer optimistischen Interpretation zuwiderlaufen, wenn nicht gar den Boden entziehen. Bereits zu Kennedys Zeiten hatte sich das Gravitationszentrum der Macht zugunsten der "nationalen Sicherheitseliten" im Pentagon und den diversen Geheimdiensten verschoben. Mit der mächtigsten Bürokratie im Rücken, traten sie bisweilen wie eine Vetomacht auf und machten deutlich, dass für sie die Grenzen des Zumutbaren sehr eng gesteckt waren. Selbst in seinem engsten Umfeld bekam Kennedy diesen Widerstand zu spüren. Die Hürden für einen auf politische Neuerungen bedachten Präsidenten hätten kaum höher sein können.

    Welche Visionen er sich auch zu Recht gelegt haben mochte, im politischen Alltag arbeitete Kennedy diesen Betonköpfen des Kalten Krieges in die Hände. Beispiel Teststopp-Vertrag: Der Präsident besänftigte seine Kritiker mit dem Versprechen, die atomare Überlegenheit der USA mit einer massiven Aufstockung des Arsenals von Interkontinentalraketen und B-52-Bombern zu wahren und bei der Erprobung von Nuklearwaffen unterhalb der Erdoberfläche keinerlei Beschränkungen zu akzeptieren. Der im Juni 1963 in Moskau unterzeichnete Vertrag war so gesehen ein im Wesentlichen symbolischer Akt. Nicht minder ernüchternd sind Dalleks und Jones’ Kapitel über den Vietnamkrieg. Zwar verweigerte Kennedy die Entsendung regulärer Kampftruppen. Aber er erhöhte die Zahl der "Militärberater" von 2.500 auf 11.000, genehmigte geheime Kommandoaktionen in Nordvietnam und Laos und den Einsatz von Entlaubungsmitteln und Napalm. Und indem er eine Clique von Obristen zum Putsch gegen den Diktator Diem ermunterte, investierte er in Vietnam mehr politisches Kapital denn je. Die Inkompetenz der neuen Machthaber auszubügeln, war nur um den Preis eines erhöhten Engagements der USA möglich. In anderen Worten: Aus Angst vor einem "Verlust Vietnams" tappte der Präsident in selbst gestellte Fallen und machte sein im Grunde besseres Wissen zur Makulatur.

    John F. Kennedy agierte also wie ein Meister der politischen Selbstfesselung. Taktische Rücksichtnahmen ruinierten ein um das andere Mal strategische Visionen, der Versuch, seine Gegner durch ein Spiel auf Zeit mürbe zu machen, stahl ihm selbst die Zeit und ermutigte die Opposition, ihrerseits den Druck auf den wankelmütigen Mann im Weißen Haus zu erhöhen. Je länger er im Amt war, desto schwieriger wurde es, eine Hausmacht aufzubauen, die für eine Politik jenseits der engen Horizonte des Kalten Krieges nötig gewesen wäre.

    Überdies war John F. Kennedy ein über die Maßen verwundbarer, weil zur Erpressung einladender Politiker. Einer seiner Erzfeinde, der FBI-Chef J. Edgar Hoover, hielt ungezählte Frauengeschichten nebst dubiosen Kontakten zur Mafia nicht nur in Dossiers fest, sondern streute einschlägige Gerüchte auch unter Journalisten und politischen Gegnern. Unter Letzteren gab es nicht wenige, die auf Rache sannen – man denke etwa an Richard Nixon, in dessen Augen der Zweck jedes Mittel heiligte. Im Grunde war Kennedy stets nur eine Zeitungsgeschichte von einem politisch verheerenden Skandal entfernt. Politiker, die es mit der stärksten Lobby im Lande – mit der nationalen Sicherheitselite nämlich – aufnehmen wollen, müssen mit einem höheren politischen Kapital ausgestattet sein.

    Leider verlieren Robert Dallek und Howard Jones diese Hypotheken aus dem Blick. Ihre Prognosen für eine zweite Amtszeit sollten daher nicht als nüchterne Analyse distanzierter Historiker gelesen werden. Eher handelt es sich um den Versuch, gegen die politischen Enttäuschungen im eigenen wie in dem Leben ihrer Generation anzuschreiben.

    Wie aber war es um den Gegenspieler im Kreml bestellt? Hätte Nikita Chruschtschow dem amerikanischen Präsidenten den Rücken stärken und auf seine Weise eine nachhaltige Verbesserung der Ost-West-Beziehungen in die Wege leiten können? Im zweiten Teil seiner fulminanten Biografie des mächtigsten Mannes der Sowjetunion setzt sich der amerikanische Historiker William Taubman ausführlich mit diesen Fragen auseinander. Er zeichnet das Bild eines in unauflösbare Widersprüche verstrickten Politikers, der jenseits aller ins Auge springenden Unterschiede in einem zumindest John F. Kennedy ähnlich war: Wie dieser suchte er nach Wegen jenseits des Kalten Krieges, wie dieser scheiterte er an politischen Strukturen, in denen er aufgewachsen war und die ihm seine Karriere ermöglicht hatten. So gesehen, ist es kein Zufall, dass beide zu Selbsttäuschung und Selbstüberschätzung neigten. Im Grunde wollten sie Umstände herbeireden, deren Zeit noch nicht gekommen war.

    Gerade Chruschtschow neigte dazu, sich fortwährend selbst ein Bein zu stellen. Nachdem er im Sommer 1957 die Konkurrenten Molotov, Malenkov und Zhukov und mit ihnen die mächtigsten Figuren des alten stalinistischen Apparates kalt gestellt hatte, nahm er es auch mit dem außenpolitischen Erbe Stalins auf. Sein Wunsch, das paranoide Misstrauen gegenüber dem Westen zu bändigen und insbesondere mit den USA eine langfristige Kooperation anzubahnen, steht außer Frage. William Taubmans Biografie zeigt aber zugleich, dass Chruschtschow nicht der geeignete Mann für eine verlässliche und gegenüber Rückschlägen robuste Politik war. Spontan und bisweilen sprunghaft, emotional und mitunter hysterisch, ließ er sich zu Aktionen hinreißen, die alle guten Vorsätze zu Schande machten. Ob im Falle Berlins, als er über Jahre mit viel Getöse Ultimaten verkündete und wieder verstreichen ließ, oder im Falle Kubas, als er sich einem wider Erwarten zähen Kennedy beugen und die heimlich stationierten Mittelstreckenraketen abziehen musste – immer wieder stand Chruschtschow als der Blamierte und Gedemütigte da, als Politiker ohne Augenmaß und Weitsicht, dessen Strategie unberechenbar blieb, weil er sie selbst nicht zu Ende gedacht hatte. Oder weil er immer wieder von einem auf die Demonstration von Unnachgiebigkeit und Stärke fixierten Denken eingeholt wurde.

    Nach der Kuba-Krise und unter dem Eindruck eines um Haaresbreite abgewendeten Atomkrieges schien Chruschtschow geläutert. Taubman entwirft für die Zeit zwischen Oktober 1962 und Sommer 1964 das Porträt eines Mannes, der aus seinen Fehlern gelernt hatte und die Konsequenzen zu ziehen bereit war. Andernfalls hätte der Kreml-Chef die von den USA an den Teststopp-Vertrag geknüpften Bedingungen als einseitige Vorteilnahme zurückgewissen. Und erst Recht wäre er einer Konfrontation mit den Spitzen der sowjetischen Streitkräfte aus dem Weg gegangen. Der Chruschtschow des Jahres 1963 freilich konfrontierte die Generalität mehrfach mit – gemessen am Geist der damaligen Zeit – ketzerischen Gedanken. Abweichend von früheren Debatten, als er nur Mittel zugunsten eines erweiterten Raketenarsenals umschichten wollte, ging es um eine drastische Abrüstung aller Teilstreitkräfte. Im Grunde plädierte Chruschtschow für das Modell einer "minimalen Abschreckung": Wozu Tausende von Langstreckenraketen produzieren, wenn ein Atomkrieg ohnehin nicht zu gewinnen ist und wenige Dutzend zur Androhung eines inakzeptablen Schadens ausreichen? Ein souveräner, mit dem nötigen Rückhalt ausgestatteter Politiker hätte auf diesem Weg die verkrusteten Verhältnisse des Kalten Krieges zum Tanzen bringen können.

    Von einem "Fenster der Gelegenheit" zu sprechen, wäre indes übertrieben. William Taubman sieht die frühen 60er Jahre nicht als Zeit verpasster, sondern fehlender Gelegenheiten. Mit gutem Grund. Chruschtschow stand nach der Kuba-Krise innenpolitisch vor einem Scherbenhaufen. Die Landwirtschaft stagnierte auf niedrigem Niveau, Polizei und Miliz knüppelten Demonstrationen gegen Preiserhöhungen nieder und erschossen mehrere Arbeiter, politische Granden in der Provinz sabotierten die vom Politbüro und Zentralkomitee verordneten Reformen der kommunistischen Partei, und die liberale Intelligenz distanzierte sich zusehends vom ehemaligen Hoffnungsträger Chruschtschow. Als die Kronprinzen um Breschnew auch die Sollseite der Außenpolitik – insbesondere die verkorksten Beziehungen zu Peking – ins Spiel brachten, war das politische Schicksal Chruschtschows besiegelt. Er wurde im Oktober 1964 von einer Nomenklatur abgelöst, die auf die Schmach der Kuba-Krise nur eine Antwort wusste: Aufrüstung und Politik der Stärke um jeden Preis. Sie von den Vorteilen der Entspannungspolitik zu überzeugen, hätte auch John F. Kennedy überfordert – selbst wenn er in einer zweiten Amtszeit von Rückschlägen und Skandalen verschont geblieben wäre.

    Nikita Chruschtschow ist heute nur noch für Historiker von Interesse. John F. Kennedy hingegen lebt als Mythos weiter. Charisma und eine unübertroffene Gabe zur Selbstinszenierung tragen ebenso sehr dazu bei wie die Versuchung seiner Biographen, das Selbstbild ihres Helden zu pflegen. Autoren wie Robert Dallek und Howard Jones führen diese Tradition fort. Sie und andere werden auch in Zukunft ihre Leser finden, weil sich mit dem Namen Kennedy ein weit über die USA hinaus attraktiver Wunsch verbindet. Der Wunsch, sich jederzeit erneuern, wenn nicht neu erfinden zu können. Oder, angelehnt an die Sprachbilder von JFK: In bleierner Zeit das Unmögliche zu wagen. So gesehen, hat Kennedys Triumph in der Welt der Erinnerung durchaus ihre positiven Seiten.