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Roberto Bolaño: "Monsieur Pain"
Im Dickicht des Kryptorealismus

Im Labyrinth des eigenen Erzählens bewegt sich Monsieur Pain. Dieser frühe Roman des chilenischen Kultautors Roberto Bolaño nimmt düstere und verschlungene Wege, deutet schon auf sein Gesamtwerk. Roberto Bolaño verstarb 2003 im spanischen Exil. Derzeit erscheinen seine Romane in einer Werkausgabe.

Von Martin Krumbholz | 04.12.2019
Buchcover: Roberto Bolaňo: „Monsieur Pain“
Buchcover: Roberto Bolaňo: „Monsieur Pain“ (Buchcover: S. Fischer Verlag, Hintergrund: picture alliance Photoshot)
"Jetzt wird er berühmt, sagt Monsieur Blockman mit dem Lächeln eines Eingeweihten und dem Blick auf die Uhr." Die Rede ist von César Abraham Vallejo Mendoza: einem peruanischen Schriftsteller, der im April 1938 im Alter von 46 Jahren in Paris starb, und zwar an einem nicht mehr endenden Schluckauf. Vallejo gilt als ein Vertreter der spanischsprachigen Avantgarde. Roberto Bolaño, den man ebenfalls als einen solchen Vertreter der Avantgarde bezeichnen kann, hat diese Figur also nicht erfunden – der Chilene liebt die Vermischung realer und fiktiver Personen und Ereignisse in seinen literarischen Tableaus, sie ist sein Markenzeichen.
Gespenster, Verschwörungen und obskure Gestalten
Der zitierte Satz steht am Schluss des Romans, der mit dem besagten Blick auf die Uhr abrupt endet. Monsieur Pain, Franzose, ist ein Kriegsinvalide und ein Vertreter des Mesmerismus, jener schillernden Heilmethode, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von dem Deutschen Franz Mesmer entwickelt wurde. Pierre Pain wird den armen Poeten Vallejo, über dessen Krankheit man nichts Genaues erfährt, nicht retten können; aber das bizarre Schluckauf-Motiv ist auch nur einer von vielen Gegenständen und Handlungsfäden des Romans, die sich am Ende keineswegs in Wohlgefallen auflösen. Franz Mesmer vertrat die Ansicht, die Wurzel sämtlicher Krankheiten sei eine nervöse Störung: Einer solchen chronischen nervösen Störung unterliegt offenbar auch der Titelheld des Romans, der überall Gespenster, Verschwörungen und obskure Gefahren erblickt. Über seine eigene Vorgeschichte teilt er erst in der Mitte des Romans ein paar magere Details mit. Pierre Pain wurde im Ersten Weltkrieg lebensgefährlich verwundet:

"Von da an, ausgerüstet mit einer bescheidenen Invalidenrente und vielleicht, um meine Ablehnung einer Gesellschaft auszudrücken, die mich in aller Ruhe dem Sterben überantwortet hatte, ließ ich alles hinter mir, was für die Karriere eines jungen Mannes als nützlich hätte gelten können, und ergab mich den okkulten Wissenschaften, ich beschäftigte mich damit, auf systematische, geradezu rigorose, manchmal fast elegante Art und Weise zu verarmen."
Die Einbildung kann sich alles einbilden
Im April 1938 spielt die Geschichte, Pain ist inzwischen 44 Jahre alt, Junggeselle und in eine gewisse Madame Reynaud, eine Witwe, verliebt. Von ihr erhält er den Auftrag, sich um den todkranken Vallejo zu kümmern – der Mesmerist gilt als letzte Hoffnung, die Ärzte haben den Dichter aufgegeben und betrachten Pains Auftauchen mit Argwohn. Bei seinem zweiten Besuch in der Klinik wird ihm schlicht der Zutritt verwehrt. Das mysteriöseste Motiv der Geschichte stellen indes zwei Spanier dar, dubiose Gestalten, die in unterschiedlichen Verkleidungen auftauchen, den Helden mit 2000 Franc bestechen und offenbar ein Interesse an Vallejos Tod haben. Warum das so ist, bleibt im Dunkeln.
Denn Bolaño entwickelt bereits in diesem frühen Werk seine kryptorealistische Erzählstrategie: Die entscheidenden Zusammenhänge werden nicht erklärt. "Die Einbildung kann sich alles einbilden", heißt es einmal vielsagend. Jedenfalls stellen die beiden Spanier das Bindeglied zu einer weiteren Figur namens Pleumeur-Bodou dar, einem Jugendfreund von Pain, der sich den spanischen Faschisten angeschlossen hat. Die Geschichte spielt ja während des spanischen Bürgerkriegs.

Die Einbildung, die Imagination wird zum Motor des Romans; die Einbildungskraft des Protagonisten, die man auch Paranoia nennen könnte, ebenso wie die Erfindungsgabe des Autors. Einmal wird das Motiv der Verfolgung umgedreht: Plötzlich sieht Pain einen der obskuren Spanier über die Straße gehen und setzt ihm nach:
"In der Ferne war Donnern zu hören. Das schien den Spanier zu interessieren. Was will der Mann, ging es mir durch den Kopf. Dass ich ihm hinterherlaufe? Es war die einzig mögliche Schlussfolgerung. Ich fühlte mich niedergeschlagen. Zu schreien war eine andere Möglichkeit. Wer war der Verrückte? Er oder ich? Mir liefen Schauer durch den ganzen Körper, kein Zweifel, ich wurde krank, aber trotzdem war mein geistiger Zustand immer noch wacher Natur, ich war immer noch offen für Neugier, für seltsam vertrauliche Mitteilungen, die geflüstert durch diese unwirklichen Straßen schwebten."
Im Labyrinth des Erzählens
Roberto Bolaño führt den Helden dann in eine leerstehende Lagerhalle, aus der Pain keinen Ausgang zu finden vermag. Er nächtigt in einer Badewanne und vernimmt plötzlich ein Geräusch, das er sich nicht erklären kann:

"Plötzlich löste sich das Geräusch von der Wand und begann, sich durch den herumliegenden Schrott hindurchzubewegen. Es musste also irgendwann rechts von mir auftauchen. Ich legte mich, soweit es ging, auf die Seite, den Hals schief gegen die gerundete Seite der Badewanne gedrückt. Kurioserweise waren alle meine Sinne nicht etwa auf die Angst gerichtet, auf Kampf oder Offenbarung, sondern auf den perfekt umrissenen Raum, in dem die erwartete Silhouette Gestalt annehmen musste. Inmitten der Dunkelheit erriet ich eine zitternde Gegenwart. Ich wusste mich beobachtet. Dann zählte ich bis drei, wollte das Streichholz anzünden, musste aber feststellen, dass ich es gar nicht mehr in den Fingern hielt. Zusammengerollt am Boden der Badewanne, in der idealen Haltung eines Opfers, suchte ich nach einem weiteren Streichholz.
"Ich wusste mich beobachtet" oder "Ich wähnte mich beobachtet" – das macht hier keinen Unterschied. Entscheidend ist das subjektive Gefühl des Ich-Erzählers; und dass das unsichtbare Element wie der Dichter Vallejo einen Schluckauf hat, sorgt für eine weitere bizarre Pointe. Zu einem Showdown kommt es nicht. Der Erzähler schläft ein, wacht auf und fühlt sich wie ein "verwirrter Teufel inmitten eines viel zu groß geratenen Labyrinths." Das Labyrinth scheint ausweglos; andererseits heißt es an einer anderen Stelle: "Der Kreis öffnet sich an dem Punkt, wo man es am wenigsten erwartet hätte." Beschreibt der Satz einen Erfahrungswert oder ist er nur Ausdruck von gelegentlichem Zweckoptimismus? Auch das ist schwer zu entscheiden. An einem Kulminationspunkt seines Interesses, nämlich bei der umschwärmten Madame Reynaud, versagt Monsieur Pain jedenfalls komplett:

"Sie betrachtete mich, und einen Augenblick danach teilten sich ihre Lippen zu einem großen Lächeln. Sie wollte etwas sagen, hielt dann jedoch inne; unter den unzähligen Dingen, die sie hätte sagen können, stellte ich mir einen ebenso abwegigen wie zärtlichen Satz vor, den einzigen, den ich nicht zu hören wünschte oder den anzuhören ich mich nicht traute. Ich war ein Feigling, und dafür bezahlte ich."
Der Roman vom eigenen Ruhm
Der letzte Satz - "Ich war ein Feigling" - ist von einer seltenen Klarheit; wieso Pain jedoch von Madame Reynaud eine Liebeserklärung zu hören erwartet und dann wiederum nicht, bleibt sein Geheimnis. Der Roman spielt innerhalb von 14 Tagen. Vallejo stirbt am 15. April; am 20. erfährt Monsieur Pain davon, und zwar aus dem Mund der Madame Reynaud, die er zufällig auf der Straße trifft. Jener Monsieur Blockman, der mit einem Blick auf die Uhr Vallejos künftigen Ruhm prophezeit, wird als ihr Verlobter vorgestellt. So rundet sich die Geschichte, ohne dass sie jedes ihrer Rätsel auflöste. Sie steht am Anfang des imponierenden Werks, ihr Reiz besteht darin, dass sie viele der Qualitäten des Roberto Bolaño in nuce bereits enthält. Auch der Chilene sollte berühmt werden, was zum Zeitpunkt, als er "Monsieur Pain" schrieb, noch nicht abzusehen war.
Roberto Bolaño: "Monsieur Pain."
Aus dem Spanischen von Heinrich von Berenberg
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 175 Seiten, 21 Euro.