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Roman im Roman

In Westeuropa, wo sich der Kapitalismus seit langem sozial geläutert und breiten Kreisen den Wohlstand gebracht hat, ist man etwas ungeduldig mit den neuen Europäern aus dem Osten. Warum sind sie nicht dankbarer, warum sind sie nicht zufriedener, warum wollen sie nicht begreifen, was ihnen die "Wende" alles beschert hat? Die Westeuropäer haben unrecht; sie sind es, die etwas zu begreifen haben.

Von Martin Ebel | 22.05.2007
    Denn die "Wende" bescherte den Staaten hinter dem eisernen Vorhang nicht die soziale Marktwirtschaft und schon gar nicht deutsche Verhältnisse, sondern erst einmal einen Raubkapitalismus schlimmster Ausprägung. Alte Machthaber und neue Banditen konnten die Länder jahrelang ausplündern und märchenhafte Profite einstreichen, gedeckt und gefördert von den Behörden, deren Angehörige selbst die Hand aufhielten.

    Wie das in Bulgarien ablief, einem der ärmsten Länder Europas und seit neuestem EU-Mitglied, erzählt Vladimir Zarev in seinem großen Roman "Verfall". Geschichte, erklärt Zarevs Alter Ego, der Schriftsteller Marti Sestrimski, die große Geschichte ist nur begreifbar, wenn sie "durch ein individuelles Leben hindurchgeht", wenn sie also zur erzählten Geschichte einer Person wird. Im Fall von "Verfall" wird sie zu einer Doppelgeschichte, die der Autor, fast etwas schematisch, kapitelweise abwechseln lässt, wobei er aber nicht chronologisch vorgeht, sondern vom Ende her in großen Bögen zurückschwenkt, zurück in die ersten Wochen der "Neuen Zeit", aber auch noch weiter zurück in die Alte.

    Die ungeraden Kapitel gelten Marti Sestrimski, dem Ich-Erzähler. Er war in den Zeiten, "als für alles gesorgt war, Strom, Urlaub am Meer und ein Kotelett", ein leidlich anerkannter Schriftsteller, braver Redakteur einer Literaturzeitschrift mit 24 Angestellten, von denen nur ein Viertel wirklich arbeitete. Nach der Wende landet Marti auf der Straße, obwohl er als einer der wenigen versucht hat, etwas Unternehmergeist zu entwickeln. Er gibt nicht gleich auf, versucht sich als Werbetexter, Organisator von Wettbewerben ( "festangestellter Betrüger" nennt er das selbst) und Gänsezüchter, natürlich alles vollkommen erfolglos. Während seine Frau Veronika mit drei Jobs die Familie über Wasser zu halten versucht, liegt er in der schäbigen Wohnung im 16. Stock eines Plattenbaus auf dem Sofa, trinkt, bemitleidet sich selbst und bedenkt die neue Gesellschaft mit ausgesuchten Zynismen. "Es gibt kein schlimmeres Gefängnis als aufgezwungene Freiheit" ist eine davon. Aus seiner Misere könnte ihn nur der Roman "Verfall" befreien, an dem er vom ersten Kapitel an schreibt und mit dessen Vollendung auch das Buch mit dem gleichen Titel endet, das wir lesen.

    Im Zentrum von Martis Roman steht Bojan Tilev, die idealtypische Figur des Neureichen und Prolet-Kapitalisten-Gangsters. Sein Motto: "Wenn etwas mit Geld nicht geht, dann geht es eben mit viel Geld". Er ist zugleich, in Zarevs Roman, die Parallel- und Gegenfigur zu Marti; ihm gehören die geraden Kapitel. Bojan, im kommunistischen Bulgarien ein kleiner Fotograf im Innenministerium, wird an genau dem Tag, als der ewige Parteichef Todor Schiwkow zurücktreten muss, zu einem mysteriösen General gerufen. Dessen Porträt ist Zarev meisterhaft gelungen, als Inkarnation der Macht schlechthin mit zugleich nahezu schrulligen Zügen, die das Unheimliche, Unergründliche noch steigern. Der General hat ausgerechnet den unbedeutenden Bojan dazu auserwählt, den Strohmann zu spielen für die Verschiebung märchenhafter Vermögenswerte. Die Macht, lernt er, bleibt da, wo sie ist.

    Bojan lernt überhaupt schnell; das Stroh wirft der Mann bald ab. Auf die ersten Geschäfte mit geschmuggelten Zigaretten folgen weitere mit Whisky, Metall und Öl; da arbeitet er schon auf eigene Rechnung, bringt Millionen auf die Seite und sticht sogar den Großmafioso Krassi Dionov aus. Er häuft die Insignien neuen Reichtums an; Leibwächter, teure Autos, und auch die treue Maria, die ihm zwei Töchter geboren hat und ihn mit ihrer Liebe und ihrem zutraulichen Stottern lange binden konnte, wird gegen die rassige Magdalena ausgetauscht.

    Eine eigene Gemäldesammlung zeigt, dass es Bojan zu Höherem treibt; tatsächlich entwickelt er so etwas wie eine Langzeitstrategie. Die Tage des wilden Ostens werden bald gezählt sein, das Geld selbst, philosophiert er, verlangt nach Ordnung; die Zukunft gehört den Seriösen und Soliden, zu denen er selbstverständlich gehören will. Bevor er aber sein ergaunertes Kapital waschen und ganz auf die aussichtsreichste Branche Tourismus setzen kann, wird er mit einem gigantischen Kokaindeal verführt und gründlich hereingelegt; er verliert alles. Am Ende verlässt Bojan sein Haus, das ihm schon nicht mehr gehört; beim letzten Blick zurück sieht er, wie zwei Ziegen hineinspazieren: Ein emblematisches Bild, das auch von Gabriel Garcia Marquez stammen könnte.

    Im Lauf der 500 Seiten hat sich aber längst ein anderer Autorenname aufgedrängt, obwohl der aus einem anderen Jahrhundert stammt: Honoré de Balzac. Vladimir Zarev ist der Balzac Bulgariens, und zugleich hat er mit "Verfall" für sein Land jenen Wenderoman geschrieben, den das deutsche Feuilleton bis heute vergeblich einklagt. Tatsächlich ist Zarevs Buch allem Vergleichbaren bei uns überlegen, von Günter Grass‘ "Weitem Feld" bis zu Ingo Schulzes "Neue Leben".

    Der Clou des Buches ist die Doppelperspektive. "Verfall" ist der Roman des von Kapitalismusmonsterwellen überspülten Bulgarien, aber nicht aus allwissender Vogelperspektive, sondern gesehen einerseits von einem Surfer, der eine Weile mithalten kann, dann aber doch untergeht, und einem, der gewissermaßen mit der Taucherbrille das Ganze von unten betrachtet; beider Sicht ist nicht "objektiv", sondern von ihrer Situation und ihren Interessen geprägt, aber gerade deshalb scharf und prägnant. Zusammen ergeben sie mehr, als jedes Geschichtsbuch leistet.

    Zarev ist ein Vollblutepiker, von keiner (post)modernistischen Skepsis angekränkelt. Er schlägt mit der Pranke des Löwen zu, handhabt aber auch das Skalpell mit Grazie. Das heißt: Er ist groß im Großen und im Kleinen, verdichtet und vergrößert, fischt aber auch aus dem Gemenge und Gewusel des Geschehens die entscheidende Szene, das sprechendste Detail heraus. Ein Beispiel: Als Marti, der Bojan um Hilfe gebeten hat, bei ihm aber abgeblitzt ist, allein in dessen Büro sitzt, spuckt er zornig auf den neureichen Schreibtisch und wischt die Spucke sofort vorsichtig mit dem Ärmel seines einzigen Anzugs wieder auf.

    An Balzac erinnert auch die Großzügigkeit, mit der Zarev seinen kreativen Reichtum nicht vorsichtig verwaltet, sondern kühn verschleudert. In der Literatur ist uns Verschwendung lieber als Ökonomie. Zarevs Haupt- wie die Nebenfiguren schillern in allen Farben; der größte Gauner hat auch eine sympathische Seite, im Antiquitätenhändler Boshidar begegnet dem Leser eine Puntila-Figur, und der Ich-Erzähler stößt ihn ebenso ab, wie er ihn anzieht. Macho-Sprüche und Männerphantasien durchziehen den Roman, weil die beiden Hauptfiguren nun einmal so sind; aber der Autor ist nicht so, denn die Frauen sind bei ihm nicht nur, wie immer, die besseren Menschen, sondern auch die stärkeren und klügeren (auch wenn es ihnen nichts nützt).

    Ein paar Schwächen hat "Verfall" schon, aber auch das hat er mit Balzac gemein. Sie sind, wenn man einen solchen Wurf wagt, wohl unvermeidlich. Ein gutes Buch, sagt Marti einmal, schreibe man mit Melancholie. "Verfall" ist ein melancholisches Buch, ein politisches, ein pessimistisches Buch. Bestimmend und all dies überwiegend ist aber seine Vitalität. "Das Leben", heißt es einmal, "schlägt Dir die Zähne ein oder haut Dir in die Magengrube". Es kommt aber darauf an, auszuspucken, wieder aufzustehen und weiterzumachen. Für Marti, Bojan und Bulgarien.



    Vladimir Zarev: Verfall. Roman. Aus dem Bulgarischen von Thomas Frahm. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007. 512 S., 24.90 Euro.