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Roman über Theodor W. Adorno
Eine zärtliche Liebeserklärung

Der Soziologe Theodor W. Adorno war schon zu Lebzeiten eine Ikone. Seinetwegen kamen Studenten aus aller Welt nach Frankfurt. Auch Gisela von Wysocki gehörte zu seinen Schülerinnen. Sie beschreibt in ihrem Roman "Wiesengrund" die Faszination, aber auch die Erotik, die von Adorno ausging.

Von Martin Lüdke | 27.11.2016
    Der Soziologie-Professor Theodor Adorno am 28.05.1968 während eines Vortrags im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main.
    Das "W" in Theodor W. Adorno steht für Wiesengrund. (dpa/ picture-alliance / Manfred Rehm)
    Gisela von Wysocki war eine Schülerin des Frankfurter Soziologen und Philosophen Theodor W. Adorno. Sie hat viel bei ihm gelernt, hat aber, anders als viele seiner Schüler, nie seinem Jargon übernommen, sondern eine eigene Sprache gefunden. Das zeigten die Essays, mit denen sie bekannt geworden ist, das zeigte vor einigen Jahren schon ihr erster Roman "Wir machen Musik". Das zeigt jetzt wieder "Wiesengrund", ein Roman über Adorno und das Frankfurt der sechziger Jahre. Aber keine Bange, sie schreibt nicht über die Philosophie, sondern über den Menschen, der dahintersteckt. Martin Lüdke, selbst ein Adorno-Schüler, bespricht das Buch.
    "Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward."
    Mit diesem, durchaus nicht unkomplizierten Gedanken, beginnt das Hauptwerk eines einst berühmten, doch, zugegeben, auch berüchtigten Philosophen, seine "Negative Dialektik" aus dem Jahr 1966. Sein Einfluss war enorm, vor allem auf eine neue, heranwachsende Studentengeneration, und, damit verbunden, auf das intellektuelle Klima der jungen Bundesrepublik. Drei, vier Jahrzehnte hielt diese Wirkung an. Sie stand sicher in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu der Schwierigkeit, ihn zu verstehen. So proklamierte er beispielsweise: "Wahrheit", sei "objektiv" und eben "nicht plausibel."
    Die Schwierigkeit einer gedanklichen Anstrengung wurde damals weniger als Zumutung, eher als Herausforderung begriffen. Nur, dieser Hinweis scheint mir jetzt angebracht, wir reden hier von einem Roman. Auch wenn dieser Roman, ähnlich wie kürzlich Sibylle Lewitscharoff mit ihrem "Blumenberg", von einem Philosophen handelt. Es wird erzählt. Nicht philosophiert. Es geht um eine Geschichte, nicht um eine Theorie. Es geht um das Studium einer jungen Salzburger Studentin in der noch immer vom Krieg gezeichneten Stadt Frankfurt am Main.
    Hohe Ansprüche an Studenten
    Von heute aus gesehen, erscheint das alles wie ein Märchen. Doch der Mann, der uns vorgestellt wird, meinte es ernst. Er verlangte viel. Sehr viel, von seinen Lesern, seinen Zuhörern, seinen Studenten. Für das etwa drei Seiten umfassende Protokoll einer seiner Seminar-Sitzungen, planten seine Studenten die ganze darauf folgende Woche ein. Viel Arbeit, sie wurde mit einem Seminar-Schein belohnt. Seine Ansprüche waren hoch.
    Er war, zu seiner Zeit, im Hörsaal, im Radio und auch schon vor der Kamera, ein "Star", selbst wenn man nie gewagt hätte, ihn so zu nennen. Denn er blieb Philosoph, egal ob er von den "theologischen Mucken der Warenform" oder der Traumfabrik Hollywood sprach. Seinetwegen kamen die Studenten aus aller Welt nach Frankfurt; Engländer, Amerikaner, Jugoslawen und Deutsche von Kiel bis Konstanz, aus Gummersbach oder Kaufbeuren, wie Jürgen Habermas und Hans Magnus Enzensberger, oder Angela Davis und - Gisela von Wysocki.
    Damals war das Radio noch eine Art Leitmedium. Wer im Radio sprach, wurde gehört. Und einer wie er gleich an der Stimme erkannt. Es war keine wirklich angenehme Stimme. Eher hoch und scharf und sehr prononciert. Das Fernsehen, noch wenig verbreitet, verfügte nur über ein einziges Programm. Aber auch dort war er zu sehen. In Diskussionen, deren intellektueller Anspruch heute unkontrollierbare Affekte provozieren würde. Er wurde bekannt. Er wurde berühmt. Er wurde "Adorno".
    Studentenfasching mit seidener Narrenkappe
    Ein kleiner rundlicher Mann, mit dem ernstem Blick, den man sich lachend kaum vorstellen konnte, obwohl er mit seinen gut platzierten Bonmots wie dem von der "Fledermaus in Hollywood", einer Léhar-Operette unter der kalifornischen Sonne, gerne seine Vorlesungen aufzulockern suchte, oder wenn er beim Studentenfasching im schwarzen Anzug mit einer seidenen Narrenkappe auf dem Kopf erschien.
    Gern bezog er sich auch auf den "Schneider Wibbel", ein Frankfurter Original, um nicht nur seine Herkunft aus dieser Freien Reichsstadt zu betonen, sondern, mehr noch, um seine Gedanken in der Lebenswelt zu verankern und damit eine Verbindung herzustellen zwischen Reflexion und Realität. Von diesem Vermögen haben einige seiner Schüler einiges gelernt, zum Beispiel auch Gisela von Wysocki.
    Adornos forderte in der oben erwähnten "Negativen Dialektik" die Philosophie auf, mit "Begriff über den Begriff" hinauszugelangen. Das heißt, in der Konsequenz, zu einem Denken in "Konstellationen", weil nämlich die scheinbar exakte Bestimmung einer Sache immer auch an der Sache vorbeigeht. Das heißt weiter: erst die Bemühung, durch umkreisende Bewegungen sich der Sache zu nähern, kann ihr gerecht werden.
    Dieses "konstellative Verfahren" hat Gisela von Wysocki in ihrem Roman angewandt. In vierunddreißig oft kurzen Kapiteln, nähert sie sich dem Phänomen "Wiesengrund", dem Philosophen und mehr noch, dem Menschen, der dahinter aufscheint. Aus der Entfernung, nicht nur der geographischen, sucht sie die Annäherung. Sie wahrt Distanz und wünscht gleichwohl die Nähe.
    Aura mit erotischem Hauch
    In der Universität war der Philosoph immer von Studenten umgeben, manche in respektvoller Entfernung, gefeit vor der Gefahr, womöglich angesprochen zu werden. Andere in unmittelbarer Nähe. Doch alle spürten, selbst in der Distanz, eine Art von Aura, die ihn umgab. Sogar einen Hauch des Erotischen. Obwohl, das sollte man gleich hinzufügen, der Eros in seiner Nähe sofort die Form eines Gedanken anzunehmen schien. Als ihn einmal eine Frauengruppe des SDS mit blanken Brüsten bedrängte, floh er, sichtbar von panischem Schrecken gepeinigt und eine erbarmungswürdige Hilflosigkeit ausstrahlend, aus dem Hörsaal.
    Auf einer Frankfurter Hauptverkehrsachse, der Senckenberg-Anlage, die auf seine Intervention hin, für ihn fast schon zu spät, in Höhe der Frankfurter Universität mit einer Ampel ausgestattet wurde, ließ sich dieser wandelnde Mythos mindestens zweimal pro Woche bei einer, für ihn prekären Anstrengung, nämlich beim Überqueren der Straße beobachten.
    Es war rührend, aber auch beschämend mit anzusehen, wie der damals schon weltberühmte Philosoph mit hüpfenden Hoppelschritten, die ihn mehr in die Höhe springen ließen, als dass sie ihn vorwärts brachten, nach mehreren, einer Art von inneren Probeanläufen versuchte, über die damals schon stark befahrene Allee zu gelangen. Sichtbar gepeinigt überquerte er die beiden Fahrbahnen. Alle schnelle Bewegung war seinem Naturell fremd.
    In seinen späten Jahren warteten dann hunderte von Studenten auf ihn. Der größte Hörsaal der Universität war proppenvoll, in den Türen, auf den Gängen standen Zuhörer, selbst auf der kleinen Empore, auf der das Pult stand, lagerten sich die Studenten. Mühsam kämpfte der Professor sich durch. Nickte kurz einigen zu, denen er seine Gunst antrug. Und dann begann er zu sprechen, frei, aber hochkonzentriert, ging zuweilen einige Schritte nach links, um junge Damen, die er kannte und die, oft mit Bedacht, zu spät gekommen waren, kopfnickend, während er immer weiter sprach, zu begrüßen.
    Bewundernswerte Präzision der Worte
    Ein vorweg, von seinen Hilfskräften umständlich aufgestelltes und in Betrieb gesetztes riesiges Tonbandgerät zeichnete seine Vorlesungen auf. Die Stimme, metallisch klar, konnte schneidend klingen. Das warme Timbre, über das er verfügte, kam nur im privaten Rahmen durch. Jedes seiner Worte im öffentlichen Auftritt saß. Er sprach mit einer bewundernswerten Präzision, streute gern handfeste Verweise ein, ohne, wie er zu sagen pflegte, "in der Sache" nachzulassen. Er entwickelte seine "Negative Dialektik", entwarf die Grundzüge seiner "Ästhetischen Theorie", in langen Satzkaskaden. Es war alles andere als einfach, ihm zu folgen. Doch nahezu alle seiner Zuhörer versuchten es. Die Faszination, die von dieser "Figur" ausging, hatte nicht das Verführerische, wie es Thomas Mann in seiner Erzählung "Mario und der Zauberer" aufscheinen lässt. Es war nur, als würde der "Weltgeist" selbst aus ihm sprechen. Sogar seine Manierismen nahm man ihm ab, weil man stets spürte: ihm geht es um die "Sache".
    Wie gesagt: klein, dicklich, stets im Anzug, entweder mit Weste oder in einem Pullover mit V-Ausschnitt, immer mit Krawatte, außer Hauses stets mit Hut, im Sommer gern mit einem hellen Panama, der leicht nach hinten geneigt, die helle, hohe Stirn und vor allem die dunklen Kulleraugen gut zur Wirkung kommen ließ. Dieser Mann war für eine ganze Epoche zur Ikone geworden, viel bewundert, von seinen politischen Gegnern auch gehasst. Geliebt, das glaube ich eher nicht. Ihn umgab, zumindest in der Öffentlichkeit, etwas, das Abstand signalisierte. Eine unsichtbare Mauer. Eben: Prof. Dr. Theodor W. Adorno.
    "W" für Wiesengrund
    Das "W" stand, was damals, in den fünfziger Jahren bis zum Ende der sechziger kaum jemand wusste, für Wiesengrund, seinem Geburtsnamen, dem Namen seines Vaters, Oscar Wiesengrund, einem Frankfurter Weingroßhändler. "Adorno", das war der Name seiner Mutter, verkürzte seinen Namen bei seiner Emigration nach Amerika, vermutlich um die schon am Namen erkennbare hohe, nämlich hundertprozentige, Quote der jüdischen Mitglieder des später legendären Instituts für Sozialforschung, das an der Columbia University in New York Unterschlupf gefunden hatte, vermeintlich zu verringern. "Wiesengrund" steht auch auf dem kleinen Denkmal, das ihm Thomas Mann als Dank für Adornos Mithilfe in seinem "Doktor Faustus" gesetzt hatte.
    "Wiesengrund" – so heißt nun auch der neue, eben erschienene Roman von Gisela von Wysocki, ihr zweiter, nach ihrem erzählerischen Debut "Wir machen Musik", 2010. Tatsächlich ein Roman. Nicht etwa, was bei ihrer "Herkunft" nahegelegen hätte, ein Essay. Mit "Die Fröste der Freiheit. Aufbruchsphantasien", 1981, einer Sammlung von Essays, unter anderem über Sylvia Plath, Unica Zürn, Leni Riefenstahl, war sie auch einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden.
    Gisela von Wysocki erzählt. Sie erzählt von einem jungen Mädchen, Schülerin noch, in Salzburg, Hanna Werbezirk, und deren erster Bekanntschaft mit dem Philosophen, und zwar unter der Bettdecke. Tatsächlich wird, durch einen leicht mädchenhaften Ton der Erzählung noch verstärkt, der strikt akademische Rundfunk-Vortrag zugleich zum erotischen Erlebnis. Eine Verlockung, wie sie vielleicht Odysseus durch die Sirenen erleben konnte, wird in dieser Prosa spürbar.
    Nächtliche Radiostunden unter der Bettdecke
    Hannas Vater, ein Astronom, stets mit seinen Sternen beschäftigt, wähnt sie schlafend, während sie, das Radio gut verhüllt und sehr leise eingestellt, mühsam nach Luft und ebenso nach den Worten schnappend, versucht, etwas von dem zu verstehen, was sie ebenso elektrisiert wie fasziniert, ein Philosoph im "Nachtstudio" des österreichischen Rundfunks.
    "Hellwach. Im Dunkeln warte ich ab. Um Mitternacht kommen die Gäste. Sie sind das Beste, was der Tag zu bieten hat. Dieses Mal ist es ein Besucher, der sich stark von den bisherigen unterscheidet. Auf die Schnelle könnte ich nicht sagen, wodurch. Aber ich höre es sofort. Später versuche ich, mich an seinen Namen zu erinnern. Das Resultat ist ein bunter Mix aus Konsonanten. Das Wort 'Wesendonck schält sich heraus, dem aber die 'i'- und 'u'-Laute fehlen. Auch möglich: Musenkind. Hund oder Mund."
    Der richtige Name lautet, wie sie bei einem der nächsten Vorträge endlich verstehen wird: "Wiesengrund". Der Begriff der platonischen Liebe ist hier angebracht. Eros mit Erkenntnis verschränkt. Die hohe, metallische Stimme, verkündet ein Versprechen. Ihr erst einmal nur zu Teilen verständlich. Führt sie in das Reich von Ideen und Gedanken. Hinzu kommt das Verbotene ihres Tuns - eben unter der Bettdecke, das alles zusammen schafft einen Raum von hoher, auch sinnlicher Attraktivität.
    Wiesengrunds Einfluss zeigt sich auch bald schon in Hannas schulischem Verhalten. Sie eckt an, provoziert ihre reaktionären Lehrer zu genau jenen Ressentiments des gesunden Menschenverstands, der alles ablehnt, was ihn übersteigt. Ihr Philosoph konnte sich darüber trefflich auslassen. Eines Tages wagt die kleine Salzburger Schülerin an den großen Frankfurter Professor zu schreiben.
    Brief an Adorno
    "Es dauert eine ganze Weile, einige Wochen, bis ich eine Antwort aus Frankfurt erhalte. Hanna Werbezirk gibt schon mal ein Lebenszeichen. Salzburger Schülerin wartet auf Antwort. Bitte melden. In einem Brief ans Frankfurter Institut habe ich um das Radiomanuskripts eines Vortrags gebeten: Wiesengrund über Marcel Proust im Nachtstudio. Er hat sich gefreut über meine Nachricht, teilt mir das Sekretariat in der Senckenberganlage mit. Das Schreiben enthält die bibliographischen Angaben des demnächst mit dem Proust-Vortrag erscheinenden Buches. Ein dünner Faden ist geknüpft. Unerwartet strapazierfähig. Mit ihm habe ich eine Art Depot in Frankfurt eröffnet. Sozusagen eine Zweigstelle meiner Existenz. (...) Auseinanderstrebende Feldlinien haben einen Magnetkern gefunden."
    Die Antwort hatte auf sich warten lassen. Doch ein Anfang war gemacht. Und später einmal, in der Sprechstunde des Philosophen, kommt der, dank seiner aufmerksamen Sekretärin, auf diesen Brief aus Salzburg zurück. Hanna Werbezirk spürt hier, wie ein Traum Wirklichkeit wird. Sie hatte ihren Philosophen, über Wochen, bereits im Hörsaal erlebt und steht ihm jetzt erstmals unmittelbar gegenüber.
    "Der grau gekleidete Herr vom Podium kommt mir gutgelaunt entgegen. Er begrüßt mich geradezu überschwänglich wie einen längst überfälligen Besuch. 'Die Briefschreiberin aus Salzburg!' Man hat mit mir gerechnet. Ich werde erwartet. Typischer kann ein Traum gar nicht sein. (...) Zwischen Schreibtisch, Sitzecke und Bücherbord ist nun aus der beredten Schallwellenerscheinung eine emsig durch den Raum vorwärts bewegende handfeste menschliche Gestalt geworden, die nach der auf einer braunen Schreibplatte abgelegten Brille greift.
    Ich warte. Warte ab. Der freundliche Institutsleiter und das mächtige Bild, die Wiesengrund-Ikone, die ich wie ein Gepäckstück mit mir herumtrage, stellen sich im Augenblick als zwei vollkommen unabhängig voneinander existierende Gebilde dar. Möglich, dass Leben in die Ikone kommt. Dass die Verwandlung in ein Leibhaftiges gelingen könnte: der Sprung in die Gestalt eines kleinwüchsigen Herrn, der mir den Anblick eines überzeugend lebensnahen Pyknikers bietet."
    Verkörperung des "großen Geistes"
    Die erotische Attraktivität des kleinen, rundlichen Mannes bleibt dabei seltsamerweise ungebrochen. Es gelingt Gisela von Wysocki nämlich, diese feinen Grenzlinien, die beides, Erotik und Sexualität, auseinanderzuhalten und zugleich deren Verbindung zu zeigen. Adorno wirkte, offen gesagt, alles andere als attraktiv. Trotzdem ging eine mächtige Attraktion von ihm aus. Der kleine dickliche Mann verkörperte schließlich den großen "Geist".
    Warum Gisela von Wysocki ausschließlich von "Wiesengrund" spricht, aber naturgemäß genau den Adorno meint, den wir kennen, das ist mir bis zum Ende nicht ganz klargeworden, zumal das Initial "W." in seinem Namen den frühen Wiesengrund immer, wenn auch verkürzt, mit sich trägt.
    "Sie rauchen, sie halten Taschen, Hefte, Bücher in ihren Händen. Sie unterhalten sich und stehen in kleinen Gruppen herum. Einige von ihnen lassen Wiesengrund nicht aus den Augen, halten sich in seiner Nähe auf, im richtigen Moment werden sie auf ihn zugehen, um ihn anzusprechen. Manchmal trägt er seinen hellen Hut, er blickt gesellig in die Runde. Er sucht nach den schönen, nach den bekannten oder unbekannten Gesichtern. Alle sind gekommen. Wiedergekommen. In diesen Momenten, kurz bevor Wiesengrund das Podium besteigt, erwischt mich die Erinnerung an die mitternächtliche Radiostunde besonders heftig. Dann denke ich, dass meine Nerven Witterung aufnehmen."
    Die Philosophie wird zum Ereignis. Der Philosoph zu einer sinnlichen Erscheinung. Das wurde er, damals, für viele. Treffend beschreibt Gisela von Wysocki die Strategien, die daraufhin entwickelt wurden:
    "Nach dem Ende einer Vorlesung wiederholte sich die Zeremonie der Begegnungen und Nichtbegegnungen. Wiesengrund verlässt meistens mit den letzten Studenten den Raum und geht auf den Lift zu. Er weiß nichts davon, dass die, deren Gesichter er kennt, sich in diesem Augenblick die Frage stellen, ob sie sich vom Geschubse und Geschiebe der Kommilitonen mittragen, in den Fahrtstuhl hineintreiben lassen sollen oder nicht. Ob sie als seine Gesprächspartner zum Zentrum der Aufmerksamkeit werden oder sich der Strapaze entziehen möchten. Hier spätestens muss die Entscheidung fallen. Hier, ungefähr drei Meter vor der Fahrstuhltür."
    Studentenleben im Frankfurt der Nachkriegszeit
    Gisela von Wysocki erzählt natürlich auch von dem Studentenleben in der noch sichtbar vom Krieg gezeichneten Stadt. Man wohnte in aller Regel zur Untermiete oft und eher unfreiwillig mit Familienanschluss. Man lernte gemeinsam, in kleineren Gruppen, man begann sich zu organisieren. Man besuchte studentische Versammlungen, auf denen bereits politische Fragen diskutiert wurden. Die junge Hanna Werbezirk nimmt das alles mit großen Augen staunend wahr. Auch eine, für sie recht überraschende Einladung des Philosophen, mit ihr eine neu eröffnete - man möchte es kaum glauben! – "Zoohandlung" in Sachsenhausen zu besuchen. Die beiden treffen sich, einige Tage später, auf der Straße vor dem Geschäft.
    "Die Zoohandlung hat zwei große Schaufenster, deren Boden mit Sand bestreut ist. Hier und da sind ein paar Gräser und Andeutungen von Strauchwerk zu sehen. Auf diese Weise stören Käfige nicht weiter. Sie sehen aus, als wären sie ein für ihre Bewohner von Natur aus bestimmter Aufenthaltsort. Wiesengrund wartet schon, in ihren Anblick vertieft. In den der Käfige oder den der Tiere? Bei unserer Begrüßung tritt dieses ganz bestimmte Lächeln in sein Gesicht, es lässt das Weiche, das Weiße der Züge noch nachgiebiger, noch wehrloser erscheinen."
    Der unterdessen weltberühmte Philosoph erscheint ihr als "wehrloser" Mensch. Das ist schon sehr genau beobachtet. Das "physiognomische Denken" Adornos, das hier zum Ausdruck kommt, berührt den Kern seiner Philosophie. Die Sensibilität des Mannes macht ihn nicht nur angreifbar, sondern mehr noch: schutzlos.
    Hier nähert sich Gisela von Wysocki nicht nur ihrer Figur "Wiesengrund", sondern zugleich dem Zentrum von Adornos Philosophie. Sie fährt kein schweres Geschütz auf, spricht weder von Zwangsidentität noch vom Vorrang des Objekts, sondern schlicht vom Leiden eines Menschen – und trifft damit genau den zentralen Impuls, dem dieses Denken folgt. Doch auch hier gilt die Einsicht aus den "Minima Moralia", im Untertitel "Reflexionen aus dem beschädigten Leben" genannt:
    "Es gibt kein richtiges Leben im falschen."
    Gisela von Wysocki kann, wie ihr Lehrer, genau hinsehen. Sie sieht die Pein, die ihr widerfährt, ebenso wie die Angriffsflächen, die der Philosoph bietet. Etwa bei einem Essen im Kronberger Schlosshotel, zu dem er Hanna mitgenommen hatte:
    "Wiesengrund hat seine rechte Hand auf meinem Unterarm abgelegt. Die Geste hat etwas von Gedankenlosigkeit an sich. Die Hand auf meinem Arm sieht aus, als wäre sie dort vergessen worden."
    Ein Narr, wer da noch Böses denkt. Weiter geht Gisela von Wysocki nicht in der Entmystifizierung ihres Helden. Sie kommt ihm nie, an keiner Stelle zu nahe. Sie vermeidet die Gefahr, von der Hegel so hübsch gesprochen hat, als er meinte, dass es für einen Kammerdiener keinen Helden gebe. Nicht weil der Held kein Held, sondern weil der Kammerdiener Diener sei. Sie sieht die Schwächen, die der Philosoph zeigt. Das mindert nicht ihre Faszination. Der Roman "Wiesengrund" ist eine zarte, ja zärtliche Liebeserklärung an diese faszinierende Figur, einen der großen Denker des letzten Jahrhunderts. Doch nicht der Philosoph steht im Zentrum, sondern "Wiesengrund", der Mensch. Das könnte der Grund für den Titel sein? Der Mensch, mit seinem Charme, seiner Liebenswürdigkeit, seiner immensen Strahlkraft, seiner chinesischen Höflichkeit, der Attraktivität, die von ihm ausging, und auch – mit seinen unverkennbaren Schwächen.
    Kurzum: ein schönes, altmodisch gesagt, ein feinfühliges Buch, voller Sympathie, ohne Indiskretion, über eine Zeit, die noch nicht so lange vergangen und doch schon ewig her ist.
    Gisela von Wysocki: "Wiesengrund".
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 265 Seiten, 22 €.