Unweit der Anlegebrücken der Rheindampfer wollen wir uns eindenken in die Berichte und Reisenotizen der Romantiker. Und wir wählen den Blick auf den Fluss aus einer französischen Feder, festgehalten im Jahre 1840:
Bleibt man im Hause, so hat man den ganzen Tag hindurch das Schauspiel auf dem Rhein. Die Flöße, die Segelschiffe, oder die acht oder gar zehn Dampfer, die in jedem Augenblick mit dem Gekeuche eines großen schwimmenden Hundes
Es ist der französische Schriftsteller Viktor Hugo, Autor des "Glöckners von Notre Dame". Hugo unternimmt 1840 seine literarisch berühmte Rheinreise. Da ist Hugo 37 Jahre alt. Er hat sich sehr intensiv auf diese Reise vorbereitet.
Und wenige Schritte weiter, am Marktplatz, sieht er auch die ehemalige Stiftskirche, eine imposante 900 Jahre alte, frühere Wallfahrtskirche. Und wir kommen hier grade in eine Konzertprobe:
Musik vom großen Dietrich Buxtehude. Der 19-jährige Johann Sebastian Bach pilgert von Thüringen zu Buxtehude nach Lübeck, lernt ihn als Orgelvirtuosen und Komponisten kennen. Zu Buxtehudes Werken zählt auch seine Kirchenoper "Das jüngste Gericht". Buxtehudes jüngstes Gericht korrespondiert in dieser Kirche mit den Resten einer großflächigen Freskoausmahlung. Doch vom jüngsten Gericht von St. Goar ist nur ein Posaunenbläser gerettet worden. Die Freskenbilder mussten in Folge der Reformation alle übertüncht werden.
In Buxtehudes "Jüngstem Gericht" treten die "Sünden" auf. Die Leichtfertigkeit, der Neid, die Unzucht, die Hoffahrt. Und diese Stimmen, heute von einer Sopranistin gesungen, waren zu Buxtehudes Zeiten noch ein mit Höchstgage honorierter Auftritt für einen Kastraten.
Damals war für die Leute in Sankt Goar die Reformation eine geschäftliche Katastrophe. Das rheinische Örtchen verlor seinen Status als reichbesuchter Wallfahrtsort. Man pilgerte an das Grab des heiligen Goar, einem französischen Einsiedler, den es an den Rhein verschlagen hatte und dem allerlei Wunder zugeschrieben wurden. Heute mag man sich ein bisschen trösten, die Wallfahrer von damals sind die Touristen von heute.
Und wir gehen auch jetzt einen Weg, den auch Viktor Hugo beschreibt. Wir gehen etwa einen Kilometer rheinaufwärts und bewusst durch den knirschenden Rheinkies Richtung Loreleyfelsen. Vor knapp 500 Jahren wäre uns hier Albrecht Dürer begegnet. Auch er ein Zeitgenosse der Reformation und der vielleicht berühmteste Künstler Deutschlands. Er ist damals 49 Jahre alt. Sein schulterlanges Haar, wie wir es von seinen durchaus eitlen Selbstporträts kennen, sind schon ins Grau gewechselt. Dürer spielt, salopp gesagt, schon längst in der Champions-League der abendländischen Malerei. Was macht Dürer in St. Goar? Aus Quellen zusammengetragen:
Albrecht Dürer unternimmt im Juli 1520 eine fast einjährige Reise in die Niederlande. Er reist dabei von Nürnberg über Mainz weiter über Köln, Aachen nach Antwerpen. In Aachen nimmt er an der Krönung Karls V. teil. Dürer wird später in Brabant und Flandern als Künstler gefeiert. Er muss allein im Bereicht des oberen Mittelrheintals zahlreiche Zollstationen passieren. Eltville, Rüdesheim, Ehrenfels, Bacharach, Kaub, St. Goar, dann weiter Boppard, Lahnstein, Engers und Andernach. Jedes Mal muss Dürer, in festen Diensten und mit Leibrente des erst kürzlich verstorbenen Kaisers Maximilian, jedes Mal muss Dürer seinen bambergischen Zollbrief vorlegen. Wird sein Dokument anerkannt oder ist er zollpflichtig?
Die Zöllner von Goar sollen sich kulant verhalten haben, was nichts aussagt über deren Bestechlichkeit. Ein Zöllner konnte sich - damals - Zeit lassen, eine Schiffsbesatzung solange nerven, bis schließlich die Fahrgesellschaft freiwillig eine "Summe" zusammenlegten. Die lukrativen Zollstationen am oberen Mittelrhein waren aufgeteilt zwischen den Kurfürsten und Erzbischöfen von Köln, Trier und Mainz. Dazu kommt als vierter Kassierer noch der Pfalzgraf bei Rhein. Die Zollstation von St. Goar ist eine Ausnahme. Hier kassieren die Grafen von Katzenellenbogen. Franz Josef Schwarz:
"Wir hatten in Goar eine Zollstation. Das heißt die Grafen von Katzenellenbogen, später die Grafen von Hessen waren mit dem Rheinzoll belehnt. Sie waren die Schutzherrn für das Goars - Kloster, das es in St. Goar gab. Diese Mönchen, diese Stiftsherren konnten ja selber keine Macht ausüben. Das überließ man den Grafen von Katzenellenbogen. Sie wurden dann mit dem Zoll belehnt und auch mit der Rheinfischerei. Die seltenen Salme oder wie man heute sagt, die Lachse."
Rheinsalm, ein Fisch, etwa bis einen Meter lang, für den St Goar in den Klosterküchen und an den adeligen Tafeln geschätzt war. Zurück zu Albrecht Dürer. Er verbindet das Warten hier an dieser Zollstation mit dem Nützlichen. Er zeichnet die Burg "Rheinfels", oberhalb von St. Goar. Von Dürers Reisen nach Venedig wissen wir, dass er sich mit den zahlreichen gezeichneten "Reisenotizen", die er von unterwegs und aus Venedig nach Nürnberg zurück bringt und dann farbig ausmalt und verkauft, dass er damit seine Reisekosten finanziert. Reisen, um darüber berichten zu können. Dürers Ansicht von St. Goar hängt heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg.
Wir kommen an jener Ecke an, wo gegenüber der Loreleyfelsen aus dem Wasser hoch steigt. Und in einer älteren Reisenotiz lese ich von "Wirbelstürzen und Wogensturm" und den Gefahren an diesem Rheinabschnitt, an der ehemaligen Lotsenstation, die heute mit elektronischen Zeichen den Kapitänen an der schmalsten und gefährlichsten Stelle des oben Mittelrheins die Vorfahrt anzeigt. Hier an dieser Biegung am Loreleyfelsen schießt der Fluss mit bis zu vierfacher Geschwindigkeit durch dieses Nadelöhr, hier wird der Rhein auf weniger als 130 Metern Breite zusammengequetscht.
"Ursprünglich gab es hier etliche Treidler, die die Schiffe mit Pferden rheinaufwärts zogen. Und es gab auch die Zunft der Leinenschlepper, die also die Leinen, die Seile oder das Tauwerk, womit man die Schiffe zog, über die Klippen hinweg hoben. Und aus der Zunft der Leinenschlepper sind dann die Lotsen geworden, als die Dampfschifffahrt erfunden wurde. Es war immer schon gefährlich hier, hier sind die gefährlichen Klippen im Rhein, hier waren die Strudel. Die Schiffer hatte alle Angst hier durch dies Gebirg' zu fahren. Es war also so nachher bei der Dampfschifffahrt, dass Frauen und Kinder in St. Goar an Land gingen und ließen ihre Männer allein auf dem Schiff. Und sind dann erst wieder in Bingen an Bord gingen. Sie sehen ja auch heute immer noch Klippen im Rhein, die man auch nicht beseitigen konnte. Hier im Rhein gab es in Urzeiten eine Felsbank, die sehr wahrscheinlich in Ur-Urzeiten ein Wasserfall war."
Wer hier unterhalb der Loreley als Schiffer die Nerven verliert, dem widmet Heinrich Heine 1823 sein bekanntes, romantisches Gedicht "Ich weiß nicht was soll es bedeuten?" - und wir lassen uns die fünfte Strophe anstimmen. Bitte:
"Den Schiffer im kleinen Schiffe
ergreift es mit wildem Weh
er schaut nicht die Felsenriffe,
er schaut nur hinauf in die Höh'.
Ich glaube die Wellen verschlingen
am Ende Schiffer und Kahn.
Und das hat mit ihrem Singen
die Loreley getan."
Heinrich Heines populärstes Gedicht, von 1823. 15 Jahre später wird es von dem Chorleiter und Komponisten Friedrich Silcher kongenial vertont.
Und meine Frage jetzt hier an Johannes Rottmann: Sie haben uns diesen Text von Heine, von der Loreley, aus dem Bauch herausgesungen. Haben Sie auch selber eine Beziehung zu diesem Lied?
"Also ich singe jetzt schon sehr, sehr lange Chormusik. Aber das Volkslied ist etwas besonderes, es ist etwas ursprüngliches. Daher berührt mich auch die Volksmusik. Und ich würde sagen, dieses Lied, es hat ja auch eine romantische Aussage. Und Romantik ist auch was schönes, wenn es auch auf der anderen Seite als Gefühlssoße gerne verkauft wird."
"Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
dass ich so traurig bin?
Ein Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht in den Sinn.
Die Luft ist so kühl und es dunkelt
und ruhig fließt der Rhein.
Der Gipfel des Berges funkelt
im Abendsonnenschein.
so stehe ich hier am Rheine
und frag, warum jemand traurig sein?
Die Weise von Silcher und Heine,
ist Sinn und ist Melodei."
Eine gesungene Hommage als Antwort. Ich hatte also angenommen, dass 1823 auch der Student Heinrich Heine, der damals auch schon Reiseberichte verfasst, dass Heine auch - hier - an dieser Loreley gestanden haben muss. Heine war nicht hier. Seine "Loreley" schreibt er in Cuxhaven oder Lüneburg und legt sie beiseite. Erst als er mit Erfolg seine Reiseberichte, er nennt sie übrigens "Reise-bilder", erst als Heines Berichte über seine Harzreise und über die Nordsee sich sehr gut verkaufen, drängt ihn sein Verleger Campe in Hamburg, neues auf den Markt zu bringen. Es erscheint 1827 das "Buch der Lieder" mit diesem Loreleygedicht.
Lassen Sie uns noch weiter den Begriff "Reisebilder" verwenden. Und ich habe hier Kopien des englischen Malers William Thurner dabei. In der Kulturgeschichte lesen wir über Turners Rheinreise 1817:
William Turner ist schon ein gefeierter Künstler, schon 41 Jahre alt. Insgesamt vier mal bereist er dieses Deutschland. Am 24. August 1817, einem Sonntag, bei seiner ersten Rheinreise, erkundet William Turner St. Goar und Umgebung. Ganze Doppelseiten seines "Rhein-Skizzenbuches" füllt er mit großartigen Skizzen der Orte, der Burgen und Felsen. In St. Goar geht er zunächst unmittelbar an das Ufer und skizziert aus verschiedenen Blickwinkeln die Burgruine "Rheinfels". Dann läuft er am Ufer flussaufwärts und erhascht einen ersten Blick auf die Loreley, dem berühmtesten Felsen am Mittelrhein.
Turner geht also intuitiv den gleichen Weg, den wir eben gegangen sind, durch den Rheinkies, hierher und zeichnet. Aber ich greife ein anderes Bild von ihm heraus, das er am folgenden Tag am Bingerloch skizziert. Ein riesiges Floss liegt satt und gemächlich im Wasser. Man kann die Anzahl der Baumstämme ungefähr hochrechnen. Etwa 250, vielleicht auch 300 Baumstämme, mit Seilen und Querhölzern stabilisiert. Auf dem monumentalen Floss zähle ich 16 Männer, am Ruder, beim Steuern. Ein kleines Holzhaus in der Mitte des Floßes mag als Wetterschutz und Kochecke dienen.
Das Floß, vermuten wir mal, könnte vom Oberrhein aus dem Schwarzwald kommen. So treibt es auf Turners Bild an einer typischen rheinischen Ortschaft vorbei. Turners berühmte Kunstfertigkeit mit dem honigfarbenen Licht und den Schatteneffekten lasse ich bewusst weg. Und ich male selber, ich male mir mit Hilfe dieser Kopie, male ich mir die Fahrt dieses gewaltigen Floßes aus. Wie mag es durch die Enge der Loreley durchschießen? Was passiert, wenn die äußeren Baumstämme des Floßes mit Wucht an den Klippen hängen bleiben? Stämme abreißen, durch die Luft wirbeln? Floßteile auseinander brechen? Die Flößer ins Wasser stürzen oder getroffen werden oder ihnen die glatten Stämme im Wasser das Bein einquetscht?
So gesehen ist Turners "romantische Rheinansicht" eine Sozialreportage vor 180 Jahren. Turner, er geht jeden Sommer auf Reisen. Gewöhnlich verbringt er zwei Monate im Ausland, um seine Skizzenbücher zu füllen. Die Wintermonate in London werden dann genutzt, die immense Materialmenge in Aquarelle und Ölgemälde umzusetzen.
Turner legt große Teile seiner Rheinreise als Fußmarsch zurück. Er will jederzeit anhalten können. Vom Morgen bis teilweise in die späten Sommerabend zeichnet er Bleistiftskizzen, führt auch ein Tage- und Arbeitsbuch. Und er malt später in London aus seine Reisenotizen- und Skizzen 50 großformatige Rheinansichten
Fragen Sie heute in St. Goar, wo vielleicht Kopien dieser Turnerbilder über diesen Rheinabschnitt hängen könnten? Achselzucken.
Auf der Suche nach der Pusteblume der Romantik treffen wir auch auf den Dichter Ferdinand Freiligrath. Aus einem seiner Gedichte stammt die uns bekannte Formel "Wir sind das Volk". Freiligrath, ein Romantiker? Jürgen Helbach, vom kulturellen Arbeitskreis "Die Treidler":
"Also dieser Begriff von der Romantik ist hier im romantischen Mittelrheintal häufig völlig falsch interpretiert worden. Clemens Brentano, Achim von Arnim, das sind die Rheinromantiker, die dieses Rheintal berühmt gemacht haben. Sie haben aber grade einen Namen genannt, Ferdinand Freiligrath. Der ist hier in St. Goar, in den Jahren 1842 bis 1844, von einem spätromantischen Schriftsteller hat er sich hier zu einem Trompeter der Revolution entwickelt."
Der mit dem Feuer gespielt hat? Wobei man ja sagen muss, gab es hier denn keine "Stasi"? Das war wenige Jahre vor 1848?
"Da dürften Sie, wenn sie einen Blick auf die Landkarte dieser Zeit werfen, auch feststellen, dass es nicht nur der Rhein war, der angezogen hat. Das lag in erster Linie an der politischen Struktur der Region. Hier, linksrheinisch waren wir preußisch, auf der anderen Seite Nassau. Wir waren also in einem äußersten Zipfel Preußens und damit also nicht unter der Polizeikontrolle wie in anderen Regionen. Das dürfte ein ganz entscheidender Grund gewesen sein, dass Freiligrath Gleichgesinnte um sich schart, von Fallersleben, Kinkel, die hier heftige Diskussionen führten, Emanuel Geibel. Freiligrath wusste genau, wenn er sein Glaubensbekenntnis veröffentlicht, war keine Bleibe für ihn mehr in Preußen. Das hat sich ja auch in diesem Gedicht "trotz alledem", von 1848 niedergeschlagen, in dem dann der Satz vorkommt "Wir sind das Volk, trotz alledem", was zur Parole 1989 bei den Demonstrationen in Leipzig führte."
Und in dem Namen "Frei"-ligrath meint man auch etwas von "Frei"-heit herauszuhören. Ergänzen wir die Namen auch noch einmal um den französischen Schriftsteller Viktor Hugo. Mit ihm besichtigen wir jetzt abschließend die wuchtig Burgruine "Rheinfels", 80 Meter hoch über St. Goar gelegen. Sie war eine der größten Burganlagen am Rhein. Und diese Feste wird schließlich 40 Jahre vor Hugos Rheinreise von Franzosen in die Luft gejagt.
Ein im Innern ganz ausgehöhlter Berg mit einem Kamm von Ruinen auf seinem Haupt. Zwei oder drei Geschosse voll unterirdischer Gemächer und Korridore, wie wenn sie von riesigen Maulwürfen gegraben worden wären. Übermäßige Säle, sieben Kerker mit Fallgittern. Schießscharten für Kanonen und Katapulte, die wie die Kerker der wilden Tiere in einer römischen Arena aussehen. Die dickbäuchigen Ringmauern, umgestürzt, oder besser gesagt, zur Seite gelegt. Es scheint als ob die Erde unter dieser Ruinen gebebt habe. Es war kein Beben. Es war Napoleon. Im Jahre 1807 ließ der Kaiser den Rheinfels sprengen.
Ein beeindruckender Panoramablick von hier oben auf den Rhein und die Loreley. Und man spürt etwas von dem breiten Spannungsbogen unter dem Etikett "Weltkulturerbe und Romantik", die hier einzusehen sind, wenn man nicht blind nur auf Allotria setzt. Spötter sagen, die große, ruinierte Burganlage, die Dürer uns gezeichnet hat, wäre nur deswegen nachträglich romantisiert worden, damit sie beim Spektakel "Rhein in Flammen" mit Höhenfeuerwerk wieder beschossen werden kann.
Bleibt man im Hause, so hat man den ganzen Tag hindurch das Schauspiel auf dem Rhein. Die Flöße, die Segelschiffe, oder die acht oder gar zehn Dampfer, die in jedem Augenblick mit dem Gekeuche eines großen schwimmenden Hundes
Es ist der französische Schriftsteller Viktor Hugo, Autor des "Glöckners von Notre Dame". Hugo unternimmt 1840 seine literarisch berühmte Rheinreise. Da ist Hugo 37 Jahre alt. Er hat sich sehr intensiv auf diese Reise vorbereitet.
Und wenige Schritte weiter, am Marktplatz, sieht er auch die ehemalige Stiftskirche, eine imposante 900 Jahre alte, frühere Wallfahrtskirche. Und wir kommen hier grade in eine Konzertprobe:
Musik vom großen Dietrich Buxtehude. Der 19-jährige Johann Sebastian Bach pilgert von Thüringen zu Buxtehude nach Lübeck, lernt ihn als Orgelvirtuosen und Komponisten kennen. Zu Buxtehudes Werken zählt auch seine Kirchenoper "Das jüngste Gericht". Buxtehudes jüngstes Gericht korrespondiert in dieser Kirche mit den Resten einer großflächigen Freskoausmahlung. Doch vom jüngsten Gericht von St. Goar ist nur ein Posaunenbläser gerettet worden. Die Freskenbilder mussten in Folge der Reformation alle übertüncht werden.
In Buxtehudes "Jüngstem Gericht" treten die "Sünden" auf. Die Leichtfertigkeit, der Neid, die Unzucht, die Hoffahrt. Und diese Stimmen, heute von einer Sopranistin gesungen, waren zu Buxtehudes Zeiten noch ein mit Höchstgage honorierter Auftritt für einen Kastraten.
Damals war für die Leute in Sankt Goar die Reformation eine geschäftliche Katastrophe. Das rheinische Örtchen verlor seinen Status als reichbesuchter Wallfahrtsort. Man pilgerte an das Grab des heiligen Goar, einem französischen Einsiedler, den es an den Rhein verschlagen hatte und dem allerlei Wunder zugeschrieben wurden. Heute mag man sich ein bisschen trösten, die Wallfahrer von damals sind die Touristen von heute.
Und wir gehen auch jetzt einen Weg, den auch Viktor Hugo beschreibt. Wir gehen etwa einen Kilometer rheinaufwärts und bewusst durch den knirschenden Rheinkies Richtung Loreleyfelsen. Vor knapp 500 Jahren wäre uns hier Albrecht Dürer begegnet. Auch er ein Zeitgenosse der Reformation und der vielleicht berühmteste Künstler Deutschlands. Er ist damals 49 Jahre alt. Sein schulterlanges Haar, wie wir es von seinen durchaus eitlen Selbstporträts kennen, sind schon ins Grau gewechselt. Dürer spielt, salopp gesagt, schon längst in der Champions-League der abendländischen Malerei. Was macht Dürer in St. Goar? Aus Quellen zusammengetragen:
Albrecht Dürer unternimmt im Juli 1520 eine fast einjährige Reise in die Niederlande. Er reist dabei von Nürnberg über Mainz weiter über Köln, Aachen nach Antwerpen. In Aachen nimmt er an der Krönung Karls V. teil. Dürer wird später in Brabant und Flandern als Künstler gefeiert. Er muss allein im Bereicht des oberen Mittelrheintals zahlreiche Zollstationen passieren. Eltville, Rüdesheim, Ehrenfels, Bacharach, Kaub, St. Goar, dann weiter Boppard, Lahnstein, Engers und Andernach. Jedes Mal muss Dürer, in festen Diensten und mit Leibrente des erst kürzlich verstorbenen Kaisers Maximilian, jedes Mal muss Dürer seinen bambergischen Zollbrief vorlegen. Wird sein Dokument anerkannt oder ist er zollpflichtig?
Die Zöllner von Goar sollen sich kulant verhalten haben, was nichts aussagt über deren Bestechlichkeit. Ein Zöllner konnte sich - damals - Zeit lassen, eine Schiffsbesatzung solange nerven, bis schließlich die Fahrgesellschaft freiwillig eine "Summe" zusammenlegten. Die lukrativen Zollstationen am oberen Mittelrhein waren aufgeteilt zwischen den Kurfürsten und Erzbischöfen von Köln, Trier und Mainz. Dazu kommt als vierter Kassierer noch der Pfalzgraf bei Rhein. Die Zollstation von St. Goar ist eine Ausnahme. Hier kassieren die Grafen von Katzenellenbogen. Franz Josef Schwarz:
"Wir hatten in Goar eine Zollstation. Das heißt die Grafen von Katzenellenbogen, später die Grafen von Hessen waren mit dem Rheinzoll belehnt. Sie waren die Schutzherrn für das Goars - Kloster, das es in St. Goar gab. Diese Mönchen, diese Stiftsherren konnten ja selber keine Macht ausüben. Das überließ man den Grafen von Katzenellenbogen. Sie wurden dann mit dem Zoll belehnt und auch mit der Rheinfischerei. Die seltenen Salme oder wie man heute sagt, die Lachse."
Rheinsalm, ein Fisch, etwa bis einen Meter lang, für den St Goar in den Klosterküchen und an den adeligen Tafeln geschätzt war. Zurück zu Albrecht Dürer. Er verbindet das Warten hier an dieser Zollstation mit dem Nützlichen. Er zeichnet die Burg "Rheinfels", oberhalb von St. Goar. Von Dürers Reisen nach Venedig wissen wir, dass er sich mit den zahlreichen gezeichneten "Reisenotizen", die er von unterwegs und aus Venedig nach Nürnberg zurück bringt und dann farbig ausmalt und verkauft, dass er damit seine Reisekosten finanziert. Reisen, um darüber berichten zu können. Dürers Ansicht von St. Goar hängt heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg.
Wir kommen an jener Ecke an, wo gegenüber der Loreleyfelsen aus dem Wasser hoch steigt. Und in einer älteren Reisenotiz lese ich von "Wirbelstürzen und Wogensturm" und den Gefahren an diesem Rheinabschnitt, an der ehemaligen Lotsenstation, die heute mit elektronischen Zeichen den Kapitänen an der schmalsten und gefährlichsten Stelle des oben Mittelrheins die Vorfahrt anzeigt. Hier an dieser Biegung am Loreleyfelsen schießt der Fluss mit bis zu vierfacher Geschwindigkeit durch dieses Nadelöhr, hier wird der Rhein auf weniger als 130 Metern Breite zusammengequetscht.
"Ursprünglich gab es hier etliche Treidler, die die Schiffe mit Pferden rheinaufwärts zogen. Und es gab auch die Zunft der Leinenschlepper, die also die Leinen, die Seile oder das Tauwerk, womit man die Schiffe zog, über die Klippen hinweg hoben. Und aus der Zunft der Leinenschlepper sind dann die Lotsen geworden, als die Dampfschifffahrt erfunden wurde. Es war immer schon gefährlich hier, hier sind die gefährlichen Klippen im Rhein, hier waren die Strudel. Die Schiffer hatte alle Angst hier durch dies Gebirg' zu fahren. Es war also so nachher bei der Dampfschifffahrt, dass Frauen und Kinder in St. Goar an Land gingen und ließen ihre Männer allein auf dem Schiff. Und sind dann erst wieder in Bingen an Bord gingen. Sie sehen ja auch heute immer noch Klippen im Rhein, die man auch nicht beseitigen konnte. Hier im Rhein gab es in Urzeiten eine Felsbank, die sehr wahrscheinlich in Ur-Urzeiten ein Wasserfall war."
Wer hier unterhalb der Loreley als Schiffer die Nerven verliert, dem widmet Heinrich Heine 1823 sein bekanntes, romantisches Gedicht "Ich weiß nicht was soll es bedeuten?" - und wir lassen uns die fünfte Strophe anstimmen. Bitte:
"Den Schiffer im kleinen Schiffe
ergreift es mit wildem Weh
er schaut nicht die Felsenriffe,
er schaut nur hinauf in die Höh'.
Ich glaube die Wellen verschlingen
am Ende Schiffer und Kahn.
Und das hat mit ihrem Singen
die Loreley getan."
Heinrich Heines populärstes Gedicht, von 1823. 15 Jahre später wird es von dem Chorleiter und Komponisten Friedrich Silcher kongenial vertont.
Und meine Frage jetzt hier an Johannes Rottmann: Sie haben uns diesen Text von Heine, von der Loreley, aus dem Bauch herausgesungen. Haben Sie auch selber eine Beziehung zu diesem Lied?
"Also ich singe jetzt schon sehr, sehr lange Chormusik. Aber das Volkslied ist etwas besonderes, es ist etwas ursprüngliches. Daher berührt mich auch die Volksmusik. Und ich würde sagen, dieses Lied, es hat ja auch eine romantische Aussage. Und Romantik ist auch was schönes, wenn es auch auf der anderen Seite als Gefühlssoße gerne verkauft wird."
"Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
dass ich so traurig bin?
Ein Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht in den Sinn.
Die Luft ist so kühl und es dunkelt
und ruhig fließt der Rhein.
Der Gipfel des Berges funkelt
im Abendsonnenschein.
so stehe ich hier am Rheine
und frag, warum jemand traurig sein?
Die Weise von Silcher und Heine,
ist Sinn und ist Melodei."
Eine gesungene Hommage als Antwort. Ich hatte also angenommen, dass 1823 auch der Student Heinrich Heine, der damals auch schon Reiseberichte verfasst, dass Heine auch - hier - an dieser Loreley gestanden haben muss. Heine war nicht hier. Seine "Loreley" schreibt er in Cuxhaven oder Lüneburg und legt sie beiseite. Erst als er mit Erfolg seine Reiseberichte, er nennt sie übrigens "Reise-bilder", erst als Heines Berichte über seine Harzreise und über die Nordsee sich sehr gut verkaufen, drängt ihn sein Verleger Campe in Hamburg, neues auf den Markt zu bringen. Es erscheint 1827 das "Buch der Lieder" mit diesem Loreleygedicht.
Lassen Sie uns noch weiter den Begriff "Reisebilder" verwenden. Und ich habe hier Kopien des englischen Malers William Thurner dabei. In der Kulturgeschichte lesen wir über Turners Rheinreise 1817:
William Turner ist schon ein gefeierter Künstler, schon 41 Jahre alt. Insgesamt vier mal bereist er dieses Deutschland. Am 24. August 1817, einem Sonntag, bei seiner ersten Rheinreise, erkundet William Turner St. Goar und Umgebung. Ganze Doppelseiten seines "Rhein-Skizzenbuches" füllt er mit großartigen Skizzen der Orte, der Burgen und Felsen. In St. Goar geht er zunächst unmittelbar an das Ufer und skizziert aus verschiedenen Blickwinkeln die Burgruine "Rheinfels". Dann läuft er am Ufer flussaufwärts und erhascht einen ersten Blick auf die Loreley, dem berühmtesten Felsen am Mittelrhein.
Turner geht also intuitiv den gleichen Weg, den wir eben gegangen sind, durch den Rheinkies, hierher und zeichnet. Aber ich greife ein anderes Bild von ihm heraus, das er am folgenden Tag am Bingerloch skizziert. Ein riesiges Floss liegt satt und gemächlich im Wasser. Man kann die Anzahl der Baumstämme ungefähr hochrechnen. Etwa 250, vielleicht auch 300 Baumstämme, mit Seilen und Querhölzern stabilisiert. Auf dem monumentalen Floss zähle ich 16 Männer, am Ruder, beim Steuern. Ein kleines Holzhaus in der Mitte des Floßes mag als Wetterschutz und Kochecke dienen.
Das Floß, vermuten wir mal, könnte vom Oberrhein aus dem Schwarzwald kommen. So treibt es auf Turners Bild an einer typischen rheinischen Ortschaft vorbei. Turners berühmte Kunstfertigkeit mit dem honigfarbenen Licht und den Schatteneffekten lasse ich bewusst weg. Und ich male selber, ich male mir mit Hilfe dieser Kopie, male ich mir die Fahrt dieses gewaltigen Floßes aus. Wie mag es durch die Enge der Loreley durchschießen? Was passiert, wenn die äußeren Baumstämme des Floßes mit Wucht an den Klippen hängen bleiben? Stämme abreißen, durch die Luft wirbeln? Floßteile auseinander brechen? Die Flößer ins Wasser stürzen oder getroffen werden oder ihnen die glatten Stämme im Wasser das Bein einquetscht?
So gesehen ist Turners "romantische Rheinansicht" eine Sozialreportage vor 180 Jahren. Turner, er geht jeden Sommer auf Reisen. Gewöhnlich verbringt er zwei Monate im Ausland, um seine Skizzenbücher zu füllen. Die Wintermonate in London werden dann genutzt, die immense Materialmenge in Aquarelle und Ölgemälde umzusetzen.
Turner legt große Teile seiner Rheinreise als Fußmarsch zurück. Er will jederzeit anhalten können. Vom Morgen bis teilweise in die späten Sommerabend zeichnet er Bleistiftskizzen, führt auch ein Tage- und Arbeitsbuch. Und er malt später in London aus seine Reisenotizen- und Skizzen 50 großformatige Rheinansichten
Fragen Sie heute in St. Goar, wo vielleicht Kopien dieser Turnerbilder über diesen Rheinabschnitt hängen könnten? Achselzucken.
Auf der Suche nach der Pusteblume der Romantik treffen wir auch auf den Dichter Ferdinand Freiligrath. Aus einem seiner Gedichte stammt die uns bekannte Formel "Wir sind das Volk". Freiligrath, ein Romantiker? Jürgen Helbach, vom kulturellen Arbeitskreis "Die Treidler":
"Also dieser Begriff von der Romantik ist hier im romantischen Mittelrheintal häufig völlig falsch interpretiert worden. Clemens Brentano, Achim von Arnim, das sind die Rheinromantiker, die dieses Rheintal berühmt gemacht haben. Sie haben aber grade einen Namen genannt, Ferdinand Freiligrath. Der ist hier in St. Goar, in den Jahren 1842 bis 1844, von einem spätromantischen Schriftsteller hat er sich hier zu einem Trompeter der Revolution entwickelt."
Der mit dem Feuer gespielt hat? Wobei man ja sagen muss, gab es hier denn keine "Stasi"? Das war wenige Jahre vor 1848?
"Da dürften Sie, wenn sie einen Blick auf die Landkarte dieser Zeit werfen, auch feststellen, dass es nicht nur der Rhein war, der angezogen hat. Das lag in erster Linie an der politischen Struktur der Region. Hier, linksrheinisch waren wir preußisch, auf der anderen Seite Nassau. Wir waren also in einem äußersten Zipfel Preußens und damit also nicht unter der Polizeikontrolle wie in anderen Regionen. Das dürfte ein ganz entscheidender Grund gewesen sein, dass Freiligrath Gleichgesinnte um sich schart, von Fallersleben, Kinkel, die hier heftige Diskussionen führten, Emanuel Geibel. Freiligrath wusste genau, wenn er sein Glaubensbekenntnis veröffentlicht, war keine Bleibe für ihn mehr in Preußen. Das hat sich ja auch in diesem Gedicht "trotz alledem", von 1848 niedergeschlagen, in dem dann der Satz vorkommt "Wir sind das Volk, trotz alledem", was zur Parole 1989 bei den Demonstrationen in Leipzig führte."
Und in dem Namen "Frei"-ligrath meint man auch etwas von "Frei"-heit herauszuhören. Ergänzen wir die Namen auch noch einmal um den französischen Schriftsteller Viktor Hugo. Mit ihm besichtigen wir jetzt abschließend die wuchtig Burgruine "Rheinfels", 80 Meter hoch über St. Goar gelegen. Sie war eine der größten Burganlagen am Rhein. Und diese Feste wird schließlich 40 Jahre vor Hugos Rheinreise von Franzosen in die Luft gejagt.
Ein im Innern ganz ausgehöhlter Berg mit einem Kamm von Ruinen auf seinem Haupt. Zwei oder drei Geschosse voll unterirdischer Gemächer und Korridore, wie wenn sie von riesigen Maulwürfen gegraben worden wären. Übermäßige Säle, sieben Kerker mit Fallgittern. Schießscharten für Kanonen und Katapulte, die wie die Kerker der wilden Tiere in einer römischen Arena aussehen. Die dickbäuchigen Ringmauern, umgestürzt, oder besser gesagt, zur Seite gelegt. Es scheint als ob die Erde unter dieser Ruinen gebebt habe. Es war kein Beben. Es war Napoleon. Im Jahre 1807 ließ der Kaiser den Rheinfels sprengen.
Ein beeindruckender Panoramablick von hier oben auf den Rhein und die Loreley. Und man spürt etwas von dem breiten Spannungsbogen unter dem Etikett "Weltkulturerbe und Romantik", die hier einzusehen sind, wenn man nicht blind nur auf Allotria setzt. Spötter sagen, die große, ruinierte Burganlage, die Dürer uns gezeichnet hat, wäre nur deswegen nachträglich romantisiert worden, damit sie beim Spektakel "Rhein in Flammen" mit Höhenfeuerwerk wieder beschossen werden kann.